Die Hamster

Der Professor der Nationalökonomie Franz Xaver Cricetus hielt inne, schnüffelte Gedanken einsaugend in dem über ihm geschichteten Blätterhaufen herum – denn die Hamster-Versammlung konnte der Füchse, Eulen und Bussarde wegen nicht unter ganz freiem Himmel tagen – und fuhr in seinem Vortrage über »Die Feinde des Hamstergeschlechts« fort:

[188] »So haben wir denn gesehen, daß wir ärger als Hermelin und Wiesel den Iltis zu fürchten haben, der uns nicht nur ausrotten und verderben möchte, um sich mit uns, unsern Frauen und Kindern den gierigen Wanst zu mästen, nein – der, selbst zu faul, sich von der eignen Pfoten Arbeit Gänge und Wohnungen zu bauen, in unsre Bauten eindringt, sich's in unsern Vorratskammern bequem macht und im Vertrauen auf seine Überlegenheit an Zahl und Stärke im Hause des Opfers neue Geschlechter zu unsrer Vernichtung zeugt und großzieht.«

Ein Grunzen und Quieken tiefer Empörung ging durch das Auditorium, aus dem sich hier und dort der knirschende Ruf erhob: »Gott strafe Iltistrien!«

»Er strafe es!« erwiderte der Professor mit Nachdruck, um sogleich die Aufmerksamkeit seiner Hörer von neuem zu fesseln.

»Wir leben still und harmlos. Wir erziehen unsre Jungen im Geiste der glorreichen Überlieferungen unsrer Väter und Ahnen zu einem friedvollen, arbeitsamen Dasein, das auf Achtung und Rücksicht gegeneinander und auf die gebührliche Schonung fremder Lebensnotwendigkeiten gegründet ist. Unsre Nahrung ziehen wir aus den Früchten der Felder, wie sie über und um uns wachsen, so üppig und reich, daß bei den bescheidenen Ansprüchen, die wir machen, niemand in der Welt durch uns in seiner Existenz beeinträchtigt wird. Dies gibt uns ja den sittlichen Rückhalt bei der idealen Forderung, die wir in der Welt erheben: die Freiheit der Felder!«

Die begeisterten jungen Hamster klatschten in bewegter Zustimmung auf ihren Backentaschen Beifall, während Cricetus sich dankend verneigte.

»Ja!« rief er aus, »und zugleich setzen wir unsern Ehrgeiz darein, die fruchtbaren Äcker und Auen zu säubern von dem schädlichen Gezücht der Insekten und Mäuse, der Vögel, Eidechsen und Schlangen, die in selbstischer Gier die zarten Keime zernagen und zerpicken, unsre Gänge verschütten und unwegsam machen [189] und frevelhaft zuschanden machen, war wir in unermüdlichem Fleiß zur Wahrung unserer berechtigten Lebensinteressen in heiligem Egoismus aufgerichtet haben. Wenn wir auf solche Schäd- und Engerlinge Jagd machen, so erhalten wir dadurch nicht bloß unsere Familie bis in späte Generationen kräftig und widerstandsfähig – denn die ausschließlich vegetabilische Kost ist nach den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft dem Wachstum der Hamster keineswegs zuträglich –, sondern wir befreien zugleich alle anderen Tiervölker von einer unerträglichen und gefährlichen Landplage. (Sehr richtig!) Dabei aber möchte ich wieder und wieder betonen, daß diese neue animalische Ernährung einen überaus geringfügigen Bestandteil unseres Lebensunterhaltes bildet und nur sozusagen die Beilage, den Nachtisch abgibt zu unserem gewöhnlichen Mahl, das sich aus dem Gemeingut aller Geschöpfe, aus Weizen, Hafer, Gerste und Korn, aus Wurzeln, Gras, Obst, hie und da auch wohl aus Gemüse aller Art, als Bohnen, Erbsen, Lein- und Mohnkapseln, zusammensetzt.

Wir sind es also nicht, die den Kampf suchen. Uns treibt keine Raublust. Der Kampf, den wir führen, ist uns aufgezwungen von mißgünstigen und habgierigen Feinden, denen unser friedliches, argloses Zusammenleben ein Dorn im Auge war und die keine Scheu tragen, uns mit allen Mitteln des Hasses, der Lüge und des Verrats anzugreifen und nachzustellen.«

Professor Cricetus wischte sich den Schweiß vom Fell, und seine Nüstern zitterten einen Augenblick in verhaltener Erregung. Die stumpfe Schnauze weit vorstreckend, überließ er sich in herber Anklage der Bitterkeit seiner Empfindungen und kam nun auf den Hauptinhalt seiner lichtvollen Ausführungen:

»Nur mit grenzenlosem Abscheu vermag ich endlich von dem Feinde zu sprechen, dessen Ruchlosigkeit in der Verfolgung des Hamstergeschlechts ohne Beispiel ist und gegen dessen Arglist und Grausamkeit – ich muß [190] es mit Beschämung gestehen – wir bisher kein Mittel zur Abwehr gefunden haben. Sie wissen, meine verehrten Hamster und Hamsterinnen, von welchem furchtbaren Widersacher ich rede: es ist der Mensch. (Bewegung und Pfuirufe.) Es ist gute alte Hamsterart, den Phänomenen der Natur auf den Grund zu gehen und auch den schrecklichsten und verderblichsten Erscheinungen mit dem freien Mut wissenschaftlicher Ergründungslust ins Gesicht zu sehen. So wollen wir denn auch der Erörterung des unfaßbar Entsetzlichen, das der Mensch für unser Empfinden bedeutet, nicht feige ausweichen, sondern erst recht versuchen, ein klares Bild von seiner Wesenheit zu gestalten. Noch ist für uns das Menschenproblem mit dem Schleier schier unergründlicher Geheimnisse umwoben. Noch hat die Forschung die Lebensgewohnheiten, die zoologischen Besonderheiten und vor allem die seelische Beschaffenheit des Menschen nur in ganz rohen Umrissen zu ergründen vermocht. Wir wissen nicht viel mehr von ihm, als daß er aufrecht und auf den Hinterbeinen geht, mächtige Bauten und Gänge über der Erde anlegt, daß sein Fell verschiedenfarbig ist und nach Belieben ausgewechselt werden kann und daß er imstande ist, seine Vorderpfoten durch die verschiedenartigsten abnehmbaren Gliedmaßen zu verstärken, mit denen er die Felder von Grund aus zu verheeren und uns wie allen anderen Tieren, ja selbst den eigenen Artgenossen, die grauenhaftesten Gefahren zu bereiten vermag. Mancher von Ihnen hat wohl schon bei einer abendlichen Wanderung durch duftige Kohlblätter so ein grünes oder graues Riesenmenschenexemplar zu Gesicht bekommen, wenn es mit dröhnendem Huf die Hügel friedfertiger Maulwürfe, unsrer treuen Verbündeten, zerstampfte und unter allem Getier Furcht und Schrecken verbreitete, so daß alles rings die Flucht ergriff.

Ich selbst entsinne mich aus meiner Jugendzeit einer Begebenheit, die damals das größte Aufsehen nicht nur bei uns Hamstern, sondern auch bei allen Nachbar- und [191] Freundesvölkern erregte. Ein junger, allgemein beliebter, ehrengeachteter und hoffnungsvoller Hamster war über Feld gegangen, um für den bevorstehenden Winterschlaf sein Haus mit allem Nötigen zu versehen. Schon hatte er beide Backentaschen mit schönen Vorräten an Roggen und Leinsamen angefüllt, als er plötzlich, dicht vor sich, ein Ungeheuer gewahrte, in dem er sogleich einen Menschen erkannte. Unerschrocken bis zur Waghalsigkeit entfernte der Jüngling mit einer raschen Bewegung der Pfote den Inhalt seiner Backen, machte einen Anlauf und sprang an dem Hinterbein des Feindes hinauf, sich in dessen lose hängendes, unbehaartes Fell einkrallend. Da erhob das Monstrum die Vorderpfoten, vergrößerte sie blitzschnell durch eine lange glitzernde Schiene und gab daraus unter ohrenbetäubendem Knall, der alle Anwohner in rasende Angst versetzte, einen giftigen rauchenden Atem von sich, so daß unser Freund zerschmettert in seinem Blute lag.

Die Anwendung des gräßlichen Gliedes, dem der heldenhafte Jüngling zum Opfer fiel, ist von Hamstern seitdem meines Wissens kaum beobachtet worden, während zum Beispiel die Hasen gerade unter dieser Art der Verfolgung auf das fürchterlichste leiden sollen. Über die schädlichen Waffen, die der Mensch gegen uns Hamster gewöhnlich in Anwendung bringt, brauche ich Sie ja kaum noch zu belehren. Wir alle kennen die Methoden ja nur zu genau, da wohl keiner unter uns ist, dessen Familie nicht schon durch die Nachstellungen der bösen Feinde in Trauer versetzt worden wäre.«

Einigen Hörerinnen rannen bei diesen Worten die bitteren Zähren über die Schnauze. Der Vortragende selbst bürstete mit dem rechten Hinterbein das Bauchfell glatt, das sich in der Ergriffenheit über dem feisten Unterleib gesträubt hatte. Dann nahm er den Faden seiner Betrachtung wieder auf:

»Gewöhnlich geschieht es ja im Winter, wenn wir reglos, und ohne die Erscheinungen der Natur beobachten [192] zu können, im gesunden und friedlichen Schlaf liegen, daß unsre Lieben menschlichen Vorrichtungen zum Opfer fallen, deren Charakter noch nicht voll ergründet ist, harten Gegenständen jedenfalls, von denen die schlafenden Unsern umfangen und an die Oberfläche hinaufgehoben werden. Auch schrecken die Menschen nicht davor zurück, gegen alle interkreaturischen Abmachungen auf unbekannte Weise erzeugte Wolken in unsre Wohnungen zu leiten und uns elend darin ersticken zu lassen. (Lebhafte Pfuirufe.) Leider muß auch betont werden, daß sich vierbeinige Tiere finden, die kein Bedenken tragen, sich mit den Menschen in ihrem Kampf gegen uns zu verbünden, und ihnen Spionendienste leisten, um uns aufzustöbern. Es sind dies vor allem die Hunde. Sie werden danach wissen, was Sie von der angeblichen Neutralität dieser würdelosen Rasse zu halten haben. (Entrüstete Zustimmung.)

Angesichts der unausgesetzten Gefahren, die uns von den Menschen drohen, hat es sich die Wissenschaft natürlich sehr angelegen sein lassen müssen, nun auch über das Leben der Menschen unter sich und ihre Beziehungen zueinander gewisse wichtige Aufschlüsse zu erlangen. Da ist es nun meinem verehrten Kollegen Dr. Eusebius Kornferkel gelungen, festzustellen, daß diese Ungeheuer in ihrer Habgier nicht etwa wie andere Tiere solidarisch zusammenhalten, sondern die ihrem Fraß dienenden Vorräte voreinander verbergen, und daß wenige von ihnen ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Allgemeinheit gewaltige Speicher mit Lebensbedarf anhäufen, während sie die große Mehrzahl der Artgenossen darben lassen.

Uns Hamstern ist ein solches Vorgehen natürlich unbegreiflich, und wir müssen uns in eine ganz fremde Vorstellungswelt begeben, um uns das als sittliches Prinzip fassen zu lassen, was bei uns mit Recht als Kriterium scheußlicher Entartung angesehen und verurteilt wird. – Wir sammeln uns in unsre Speicher genau so viel Korn [193] oder Gemüse, wie jeder für die Zeit vor dem Einschlafen und nach dem Erwachen in seiner Kammer braucht. Die Felder – das wissen wir alle – tragen reich genug, um uns zu erlauben, unsre Scheuern offenzulassen, ohne uns vor dem Neid unsrer Mithamster fürchten zu müssen. So kommt es denn auch fast nie vor, daß ein Hamster statt vom allgemeinen Markt des Ackers seinen Bedarf aus dem Hause des Nächsten bezieht, wie es bei den Menschen allgemein der Brauch sein soll. Sie übervorteilen also einander, wo sie irgend können, und diejenigen unter ihnen, in deren Kellern und Speichern möglichst große Vorräte für einen unberechenbaren Bedarf gehäuft sind, die sogenannten Reichen, genießen besonderes Ansehen unter den übrigen. Nach Kornferkels Ansicht berechtigt sogar die möglichst große Ansammlung von Nahrungsmitteln den Menschen, sich für Lebenszeit von der Mühe, den eigenen Unterhalt herbeizuschaffen, zu befreien und statt dessen seinesgleichen für seinen Unterhalt arbeiten zu lassen. Der Mensch aber, der das Feld umgräbt, um uns Hamstern unseren bescheidenen Anteil am allgemeinen Lebensbedarf wegzunehmen, tut das nicht einmal, um sich damit zu ernähren, sondern um einem anderen Menschen, einem Reichen, die Kammern zu füllen, während der arbeitende Mensch selber kaum das Nötigste für sich und die Seinen dabei herausschlägt. Denn er erhält seinen dringlichsten Bedarf von dem Reichen nur gegen immer vermehrte, zu dessen Nutzen geleistete Arbeit zugeteilt.

Und damit nicht genug, mißgönnt ein Reicher dem andern sein Vorratslager. Sobald die Menschen meinen, daß in einem Lande die Speicher noch üppiger gefüllt seien als im andern, dann legen sie solche feuerspeiende Gliedmaßen an, wie sie sie zur Bekämpfung der Hasen brauchen, und vernichten sich gegenseitig damit, wobei aber wiederum die Inhaber der großen Nahrungsmittelmengen die arbeitenden Menschen auch diese Last auf sich nehmen lassen. Ganz geklärt sind diese Beziehungen [194] der Menschen untereinander für uns Hamster bis jetzt noch nicht. Wir wissen bloß, daß die Menschen, denen es gelingt, durch Kampf oder durch Absperrung Dritter vom Lebensunterhalt die Stammesgefährten wegzudrängen und sich in den Besitz aller Art von Reichtümern zu setzen, die höchste Anerkennung unter den übrigen Menschen gewinnen.

Das Prinzip, nach dem sich dieser Wettstreit der Menschen um die wirksamste Übervorteilung abspielt, nennen sie ›das freie Spiel der Kräfte‹. Uns mit unserm unverdorbenen gesunden Hamsterverstand scheint ein derartiges Verfahren mit einem Wort – menschlich, wie seine wissenschaftliche Bezeichnung denn auch bei jenen monströsen Wesen selbst die Menschesterlehre heißen soll.«

Der berühmte Nationalökonom wollte eben zu einer heftigen Kontroverse gegen diese Theorie ausholen, als am Eingang zu einer nahe gelegenen Kolonie ein Gedränge und ein Lärm entstand und eine Anzahl erregter Tiere eine wohlhäbige Hamsterin herbeizerrten, die sich heftig zur Wehr setzte.

»Was gibt's?« fragte alles durcheinander. »Was hat sie getan?«

»Sie hat gemenscht!« rief ein solider Hamsterbürger, der die Frevlerin mit der Klaue am Ohr festhielt.

Ein Sturm der Entrüstung erhob sich. Die Vorlesung wurde unterbrochen, und Professor Cricetus begab sich mit seinem gesamten Auditorium in den Gang, um die Art und den Umfang der Verfehlungen selbst festzustellen.

Es war allerdings ein widerwärtiger Anblick, der sich den Hamstern beim Eintritt in die Behausung der Überführten bot. Da lagen Bohnen und Mohnkapseln, Getreidesorten jeder Art und geschlachtete Insekten in ungeheurer Menge gehäuft, so viel, daß das enthamsterte Weibchen über vier bis fünf Winter schlafe hinaus versorgt war. Bei näherer Untersuchung fand man sogar noch [195] eine Wochenration Erbsen und Mais in ihrer linken Backentasche.

Da es unmöglich schien, daß die Verbrecherin diese ganzen Vorräte allein vom Felde hereingeschleppt haben sollte, ging man daran, Fehlbeständen in den Kammern der Nachbarinnen nachzuforschen, und erdrückt von der Last der Beweise, gestand die Habgierige endlich unter Tränen ein, die Arbeit fleißiger Mithamster für ihre eigenen selbstischen Zwecke mißbraucht zu haben.

Sie wurde verurteilt, binnen 24 Stunden alle gemenschten Vorräte dahin zurückzubringen, woher sie sie entnommen hatte, und eine Buße von drei Weizenkörnern zu erlegen zum Anlocken einer Feldmaus, die zu einem großen Festschmaus hergerichtet werden sollte. Nur die beim Menschen ertappte Hamsterin durfte an diesem Mahl nicht teilnehmen.

Nachdem das Urteil gefällt war, verließ Professor Franz Xaver Cricetus mit seinen Verehrern den Gang und begab sich langsam ins Freie. Die Sonne senkte sich über das Haferfeld. In der Ferne erhoben sich graue hohe Menschenbauten.

Der Gelehrte wies mit einer Kralle hinüber und meinte schmerzlich lächelnd: »Sie sind unsre Feinde und trachten uns nach dem Leben. Aber bedauern müssen wir sie doch.«

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TextGrid Repository (2012). Mühsam, Erich. Lyrik und Prosa. Sammlung 1898-1928. Zweiter Teil: Prosa. Die Hamster. Die Hamster. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-43D3-A