487. Tepentiren.

Einmal war ein König mit seiner Tochter auf die Jagd gegangen. Aber beim Verfolgen eines Wildes verirrten sie und sahen sich endlich in einer wüsten, unbekannten Gegend. Erschöpft vom langen Umherstreifen und Fasten ruhten sie aus; keine menschliche Seele ließ sich blicken. Da aber sahen sie eine kleine wunderliche Gestalt, ein Männchen, krumm, verwachsen, mit einem langen Barte von purem Golde, auf dem Kopfe eine lange spitze Mütze, das sprang immer auf den Steinen herum. Endlich kam es zu ihnen und versprach, sie wieder in ihre Stadt zu führen, wenn die Königstochter gelobte, ihn nach vierzig Tagen zu heiraten, sobald sie [327] nicht seinen Namen wüßte; dreimal könne sie raten und träfe sie seinen rechten Namen, wolle er ihr seinen Bart schenken. In ihrer Not mußten König und Königstochter auf die Bedingung eingehen, und der wunderliche Mann führte sie richtig nach Hause.

Nun ließ der König die Weisen seines Landes zusammenkommen. Die sollten ihm sagen, wie der sonderbare Mann hieße; aber keiner konnte es herausbringen. Da ließ der König ein Gebot ausgehen und verhieß dem eine große Belohnung, der ihm den Namen zu sagen wüßte oder den kleinen Mann selber gefangen bringen könnte. Aber niemand meldete sich; die Königstochter verging nun fast vor Angst und Sorgen. Am neununddreißigsten Tage aber kam der Kuhhirt auf das Schloß und verlangte zum König gelassen zu werden. Ohne von allem dem, was vorgefallen, etwas zu wissen, erzählte er nun, er sei mit seinen Kühen an eine wüste Stelle gekommen, da habe er einen kleinen wunderlichen Mann immer herumspringen sehen, daß ihm sein goldner Bart vorn und hinten seine lange spitze Mütze an die Beine geschlagen hätte; dazu habe er gesungen:


Tepentiren heet ik.

Unse Königsdochter,

Wenn se weet,

Wie ik heet,

Schall se minen Bart hebben.


Da beschenkte der König den Kuhhirten reichlich; denn nun wußten sie den Namen.

Am andern Tage kam der Zwerg. Die Prinzessin wollte ihn erst necken für die lange Angst, die er ihr gemacht, und nannte erst zwei andere Namen. Aber der Zwerg sagte: »Nä, so heet ik nich!« und sah die Prinzessin immer verliebter an. Nun fragte sie: »Denn heetst du wol Tepentiren?« Da machte er ein wunderbares Gesicht und riß voller Wut seinen goldenen Bart aus, warf ihr den hin und rief: »Dat hett de verfluchte Koharderjung seggt!«

Durch Dr. Klander in Plön aus Dersau.


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TextGrid Repository (2012). Müllenhoff, Karl. 487. Tepentiren. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-46E1-3