535. Die Frau auf der Thyrenburg.
An der Westküste des Dannewerker Sees, oberhalb des Wiesengrundes, der Loseck genannt wird, findet man in einem kleinen schönen Buchenwalde den mit einem trockenen Graben umgebenen Burgplatz der sogenannten Thyrenburg. Ringsumher ist alles dürre braune Heide, aber im Sommer steht der schattige Burgplatz voll blühender Vergißmeinnicht. Hier hat man oft in der Dämmerung des Spätsommers eine hohe Frau auf einem goldenen Stuhle sitzen sehen, wie sie ihr langes Haar mit goldenem Kamme kämmt; wenn sie es in Flechten gelegt, so verschwindet sie. In der Johannisnacht sieht man sie jedesmal, besonders gegen Morgen, da sitzen, umgeben von vielen Menschen. Wer dann zu ihr kommt, den zieht sie mit in ihr unterirdisches Reich hinab. Daher warnen Mütter ihre Kinder, in der Zeit nicht dahin zu gehen.
Weil man weiß, daß die Prinzessin viele Schätze besitzt, so haben einmal drei Leute am Johannisabend angefangen, da nachzugraben, sie wurden aber beständig so mit Ruten über das Gesicht geschlagen, daß sie bald gezwungen waren umzukehren. Das folgende Jahr faßten sie neuen Mut; aber es ging noch schlimmer. Denn nun wurden sie nicht mit Ruten gestrichen, sondern die hohen Waldbäume fingen an zu wanken und zu schwanken und drohten über sie zusammenzufallen.
Es ist in alten Zeiten geschehen, daß die verwünschte Prinzessin da unten eine große Hochzeit gehalten hat. Dazu braute sie so viel Bier, daß alles Wasser aus ihrem Burggraben aufgebraucht ward und er seitdem trocken ist. Davon aber hat sie noch eine große Menge Bier in großen Fässern übrig behalten, und es lebt ein Bauer in Dannewerk, von dem man sagt, daß er alle Jahr zur Roggenernte sein Bier sich von ihr holt. Er muß dann am Johannismorgen zur Stelle sein, wenn sie vor [364] der Burg sitzt und sich sonnt; dann bekommt er so viel, als er haben will, und gibt ihr nichts dafür, als ein kleines weißes Lamm.
Siebenter Bericht der Gesellschaft für Altertümer S. 9 und nach mehreren Mitteilungen, besonders Arndts. – Herr Prem.-Leutn. Timm erzählt, daß die Prinzessin zuerst den Burgplatz umwandelt, ehe sie sich auf den Stuhl setzt, und dann ihren Schleier auf eine neben ihr stehende silberne Wiege legt. – Vgl. Kuhn, Märk. Sagen Nr. 111.