Erinnerung

1.

Das ist der Platz, auf dem ich stand
zum letzten Mal, zum letztem Mal
an deiner Seite Hand in Hand – – –
nun ging ein Wetter übers Land,
die Luft ward kühl, das Laub wird fahl.
Jenseits der Düne schäumt das Meer,
sein Rauschen klingt wie Klagesang;
scharf weht der Wind von Osten her – – –
mir pocht das Herz so sehnsuchtsschwer:
ich seh dich nicht, weiß Gott, wie lang!
So schleppt sich müde Tag für Tag,
schon färbt sich rot der Waldessaum;
in Tränen steht der Rosenhag – – –
daß ich in deinen Armen lag,
es dünkt mich wie ein Traum . . .

2.

Als noch von deinem Munde
mir Wort und Gruß erklungen,
in glückberauschter Stunde
ist mir kein Lied gelungen.
[134]
Erst wenn der Sonnenball
verglomm in sprühenden Funken,
anhebt erinnerungstrunken
ihr Lied die Nachtigall.

Begegnung

Und neulich traf sich's auf der Reise:
du bogst dein bleiches Angesicht
am Fenster vor und nicktest leise –
dann pfiff der Zug; du sahst mich nicht.
War's so, daß wir uns finden sollten
nach langer Irrfahrt wunderlich?!
Ich weiß nicht, wem dein Gruß gegolten,
und nahm ihn lächelnd an – für mich.

Nachtwandlerin

Ahnungslos an Abgrunds Rande
wandelst du, vom Tod umhegt –
welche Gottheit hat die Binde
deinen Augen umgelegt?
Ströme brausen dir zu Füßen,
doch dein Herz erzittert nicht, –
bleich erglänzt im Mondenstrahle
dein verklärtes Angesicht.

Die letzte Note

Nun ist die letzte Note
vom alten Lied gesungen,
an der verstaubten Harfe
die letzte Saite ist gesprungen.
Kaum rührt ein Hauch die Lüfte
mit leisem tönenden Beben,
wenn über die toten Saiten
hinflattern die Spinneweben . . .

[135] Alltag

So schleppen sich in breiter Spur
dahin die müden Tage,
der Sang der Liebe tönt mir nur
wie eine ferne Sage.
Das eine Wort, das mich beglückt,
war in den Wind gesprochen, –
den Goldreif, der mein Haupt geschmückt,
hat deine Hand zerbrochen.

Wetterleuchten

Durch die dichtverhüllten Fenster dringt
noch der letzten Blitze mattes Leuchten, –
und die Stunde naht auf regenfeuchten
Sohlen, die dich wieder zu mir bringt.
Jahre liegen zwischen dir und mir:
Herzen, deren Pulse nicht mehr pochen,
Klüfte, deren Brücken abgebrochen –
tote Gluten, Staub und Grabeszier.
Aber heut umweht von Liedern mich
noch ein Ton, die einst so süß mir däuchten,
und die Brust durchzuckt's wie Wetterleuchten,
das noch blitzt, wenn schon die Wolke wich.
Lächle, ob ich finster blicken mag!
Strahle mir mit deiner Augen Sonnen
neu ins Herz die längstverrauschten Wonnen,
unserer Liebe heitern Frühlingstag.
Aus den Schalen duftet Veilchenpracht
dir zum Gruß, und volle Kelche schäumen:
o, noch einmal laß den Traum mich träumen,
der mein Herz so selig einst gemacht!

[136] Ruh' dich aus!

Nun laß dich nieder, flüchtige Taube,
du Unruhvolle, halte Rast!
In meines Gartens dunklem Laube
erscheinst du wie ein seltener Gast.
Hier tönen keine Vogellieder,
kein Rosenflor erblüht für mich –
verstoßne Taube, laß dich nieder,
an meinem Busen berg' ich dich!
Wohl stand dein Sinn in blaue Ferne,
dein Auge trank das goldne Licht,
doch bis hinauf ins Reich der Sterne
die müde Schwinge trug dich nicht.
Es sank dein Heim der Glut zum Raube,
irr flatternd flogst du weit hinaus . . .
nun laß dich nieder, flüchtige Taube,
in meinem Garten ruh dich aus!
Verschüchtert Kind, laß ab zu zittern;
nicht schreib ich dir ein hart Gesetz,
ich berg' dich nicht in goldenen Gittern
und spanne deinem Flug kein Netz:
ein Dach für dich im lichten Laube,
ein Nest für dich im tiefsten Grün . . .
an meinem Herzen, flüchtige Taube,
soll dir die Heimat neu erblühn!

Ausgekostet

In alle Tiefen bin ich gestiegen,
erklommen habe ich alle Höhn:
ich sah um die Gipfel die Adler fliegen
und hörte der Stürzenden Angstgestöhn.
[137]
Nichts Menschliches ist mir fremd geblieben;
aus dem Becher trank ich der bittern Not –
und ein wettersturmwildes, gewaltiges Lieben
hat wie sengende Flamme mein Haupt umloht.
– Nun steh ich abseits – am Straßenrande
und hör in den Fernen des Nachtwinds Wehn
und seh im sinkenden Sonnenbrande
die letzten Schatten vorübergehn . . .

Krankenwacht

Dumpfe Stille braut und braut
rings im Haus, – zuweilen nur
leiser Stundenschlag der Uhr
und ein geisterhafter Laut
wie ein banges, tiefes Stöhnen . . .
Nicht der Wind, der nächtlich singt, –
ach, ein Seufzen grambeschwert
hebt die Brust, die mich genährt –
eine müde Seele ringt
mit dem letzten großen Schweigen.
Müde glimmt zur Krankenwacht
noch die Lampe – müde fort
starrt mein Blick – – – ach, nur ein Wort,
nur ein Schrei in dieser Nacht!
Nicht dies hoffnungslose Schweigen . . .

Schlaf und Tod

Süß und wonnesam ist der Schlaf. –
In der strengen Schule des Lebens,
wo gleich unverständigen Kindern
wir die krausen, verworrenen Rätsel
[138]
mühsam zusammenbuchstabieren
aber nimmer den Sinn erforschen,
wo der Schmerz mit ehernem Griffel
Runen auf unsere Stirnen schreibt,
dünkt der Schlaf die Erholungsstunde
mir, die süße, köstliche Pause,
da die verschlossene Türe aufspringt
und statt dumpfigen Bücherstaubes
Sonnenstrahlen und Luft wir atmen . . .
süß und wonnesam ist der Schlaf. –
Schlaf ist Vergessen, ist die Befreiung
von all den lastenden, quälenden Sorgen
um des Daseins traurige Narrheit,
um der Zukunft lichtloses Dunkel,
um das eine, selige Glück,
das gleich silbernen Wasserwogen
meines Lebens dornige Wüste
noch mit blühenden Blumen schmückte,
und nun haltlos wie Regentropfen
mir in der zitternden Hand zerrinnt. –
Süß und wonnesam ist der Schlaf,
aber eines noch däucht mich süßer:
nicht das Vergessen nur, – das Vergehen!
Nicht das Ausruhen, – nein, die Ruhe!
Sei willkommen mir, goldene Stunde,
die den Schüler gereiften Sinnes
aus der drückenden Mauern Enge
über die Schwelle hinaus in lichte
sonnendurchstrahlte Weiten führt – –
[139]
Sei gesegnet, du Götterbote,
der auf rauschenden Adlerschwingen
meine Seele aus Nacht und Dunkel
aufwärts trägt zu den fernen Höhn,
wo aus goldenem Schacht des Glückes
nie versiegende Quellen sprudeln! –
Dreimal süßer ist Schlaf, denn Wachen,
aber das Süßeste ist der Tod.

Bild

Blaß und herbe dein Gesicht,
tief im Blick erloschne Funken,
hast den Kelch der Bitternis
bis zum Grund du leergetrunken.
Langsam hebst du ihn vom Mund,
lautlos starrst du in die Ferne –
über deinem Haupte gehn
klar und kalt die ewigen Sterne.
[140]

License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Müller-Jahnke, Clara. Erinnerung. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-5227-8