Stille

Dornen

Der Frühling meines Lebens
blühte lang schon ab –
nun trug ich auch den leuchtenden
Sommer zu Grab . . . .
[131]
Die blühende Rosenkrone
verlor nun Duft und Glanz . . .
auf meine blutende Stirne drückt
der nackte Dornenkranz.

Im Abendschatten

Nun liegt der Reif auf allen Matten,
der letzte fahle Schein erblich,
und traumhaft kommt im Abendschatten
ein Todessehnen über mich.
Ich ließ in dämmergrauer Ferne
die Hoffnung lange schon zurück
und forsche nicht im Buch der Sterne
dem Rätsel nach vom Menschenglück.
Mir geht kein Sommertag zu Ende,
gewebt aus Duft und Farbenpracht: –
mein ist die Wintersonnenwende
mit ihrer ewig langen Nacht, –
mit ihrer Nacht voll Geisterchören,
voll Eisesschauer, Sturmesklang,
die keine Blüte mag zerstören,
weil nie ans Licht die Knospe drang.

In dunkler Stunde

Da war's noch einmal, daß ich fest
an meines Schicksals Sterne glaubte,
bis mir die Welt mit jäher Hand
die letzte Blütenhoffnung raubte.
Ich hab' geirrt, ich hab' gefehlt
mit meinem Blut, dem jugendheißen;
ein kleiner Fehl – doch groß genug,
um Herz von Herzen loszureißen.
[132]
Die Freundschaft schwand wie Wolkenflug,
die Liebe sank wie Sonnengluten,
und die mir einst so hold gelacht,
sehn mitleidslos mein Herz verbluten.
Ihr Auge kalt, ihr Antlitz streng –
o, meiner Jugend töricht Wähnen!
Danieder kämpf ich stolz und stark
auch dieser Stunde bittre Tränen.
Und nimmer soll vor ihnen sich
mein Haupt erbarmenheischend neigen; –
ich hab's gewollt und kann es jetzt:
der Welt ein lachend Antlitz zeigen!
In Stunden nur der Einsamkeit,
in Stunden der Erinnerungen,
da fühl ich's doch, wie tief, wie tief
der Stachel mir ins Fleisch gedrungen.
Es war nicht Sünde, war nicht Schuld,
der Jugend Leichtsinn war's zu nennen –
doch groß genug, um Herz von Herz
für Zeit und Ewigkeit zu trennen.

In Tränen

Die Fliederblüten fallen.
Und wieder ist ein Lenz dahin
mit seinen Träumen allen.
Vom Meere wehr ein sanfter Wind
und singt die Schlummerlieder
den Freuden, die entschlafen sind.
Nun blühn ja wohl die Rosen –
und unterm dichten Laubendach
die Turteltauben kosen.
[133]
Ich seh es nicht, ich weiß es kaum:
vor meinem Blick, ein Schleier,
liegt ein gestorbner Traum.
Ein feuchter Tränenschleier
hängt zitternd überm Rosenhag
und wandelt mir den Sommertag
zur düstern Totenfeier.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Müller-Jahnke, Clara. Stille. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-5248-D