Weihe-Nacht

Ein leises Rauschen durch die Tannenzweige –
des kurzen Tages Zwielicht geht zur Neige.
Im Westen glimmt ein matter Rosenstreif,
auf stille Fluren fällt der weiße Reif.
Der weiße Reif, der rings das Feierkleid
der Erde stickt mit flimmerndem Geschmeid.
Der Abend kommt. Es kommt die heilige Nacht,
die aus den Menschen selige Kinder macht,
die Weihe-Nacht, da trost- und wundersam
ein Märchentraum zur dunklen Erde kam:
Der Friedenskönig, den die Welt verstieß,
weil er die Armen Gottes Kinder hieß.
Weil er den Sanften, der den Frieden liebt,
den Liebenden, der seine Seele gibt,
weit über alle Reichen dieser Welt,
hoch über alle Herrschenden gestellt.
[51]
Du Weiser, seit die Engelharfen klangen,
sind nun Jahrtausende dahingegangen,
die deinen Namen auf den Fahnen trugen
und zu den fernsten Ländern Brücken schlugen,
Millionen Kirchen prangen dir zum Ruhme,
die ewige Flamme brennt im Heiligtume . . . .
Und dennoch, du, der Sklaven Heil gespendet,
du wärst noch heut in tiefe Nacht gesendet,
du schienst auch heut in unser finstres Tal
aus fernen Himmeln, ein verirrter Strahl;
und gingest du im schlichten Arbeitskleid
durch deine Menschheit, deine Christenheit,
sie hätten heute dir das Kreuz errichtet
und morgen dir den Holzstoß aufgeschichtet!
Hoch auf dem Grunde, den dein Blick gesucht,
darüber hin rast laut der Zeiten Flucht,
da regt sich's dumpf, und aus der Erde Schoß
ringt sich der Urquell aller Sehnsucht los.
Die Welt durchhallt ein Schrei nach Luft und Licht:
Wann braust du, Strom, der Wall und Schranke bricht?
[52]
Wann kommst du, Tag, da hell die Sonne steigt,
vor deren Glanz der tiefste Schatten weicht?
Ich sah dein dunkles Angesicht
erglühn in einem Strom von Licht. –
Ich sah dein Aug, das sonst so trübe,
verklärt von einem Strahl der Liebe.
Da ward mir traumhaft wunderbar
zumut; in tiefster Seele war
mir's fast, als könnt der lichte Schein
ein Abglanz meiner Liebe sein.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Müller-Jahnke, Clara. Weihe-Nacht. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-5269-3