Flug

Flug

Ich gürte dich, mein Flügelroß:
wir fliegen weit ins Land hinein
nach einem fernen Märchenschloß,
das dämmert weiß im Mondenschein.
Um seine Zinnen windet sich
die scharlachrote Blütenpracht,
durch seine Säulengänge weht
der lilienschwüle Hauch der Nacht.
Und rings der Blick ins blühende Land,
das blau verschwimmt im Mondscheinduft, –
und tief im Park mit süßem Klang
ein seltener Wundervogel ruft.
[95]
Der Silberspringquell steigt und fällt
und plaudert leis'; – hier halte Ruh,
mein schnelles Roß, mein weißes Roß,
aus Marmorschalen trinke du, –
indes ich heimlich suchen geh
tief, tief im mondumflossnen Hag,
ob aus dem Lorbeerdickicht nicht
die weiße Hand mir winken mag . . . .

Der goldene Schlüssel

Dir, –
dem goldenen Schlüssel
zum sonnigen Lande der Freiheit,
dir sing ich.
Irgendwo, irgendwo in der Welt,
– in Orangenwäldern vielleicht,
wo der Glutwind die Zweige bricht
und sie reifer, saftstrotzender Früchte voll
dem Wanderer in den Schoß wirft, –
oder an Norwegs Felsenkap,
das die kühle Stirn
hoch in schimmernde Wolken hebt
und niederschauend sich spiegelt
in den träumerisch blauen Augen des Fjords –
irgendwo in der Welt
weilt die Fee,
die dich mir versprochen
ihr Wort mir zu lösen.
und nun der Zeit nicht gedenkt,
in heiliger Stunde
[96]
Jahre verrauschen,
auf meinen Scheitel fällt Schnee.
In den Tiefen der Seele
aber wirkt und schafft
befruchtete Frühlingskraft
und keimt und gebiert an das Licht
der Gewißheit leuchtende Blume:
ein Tag wird kommen
und eine Stunde blühen
aus dem Dämmerdunkel des Alltagsdaseins,
so wonnig und wärmend
von Gebeten begrüßt,
wie die Siegerin Sonne
der eisigen Oede
den Schauern der arktischen Nacht enttaucht.
Und leise, leise,
lockend wie Harfenlaut
klingt es und klirrt es
vor der Tür meiner Hütte
und pocht und pocht.
Ich erkenne den Laut
und erhebe mein Haupt
und lächle und lausche . . . . .
Da knarren und knirschen
die rostigen Riegel:
die Tür springt auf.
Ueber die Schwelle strömt
eine flimmernde Flut von Sonnensilber –
und mitten drin in dem Sonnenlichtmeer
die Fee,
[97]
die dich mir versprochen,
den goldenen Schlüssel zum Lande der Freiheit,
und die nun gekommen ist,
ihr Wort zu lösen.
Liebevoll lächelnd
schreitet die Lichtmar
durch das Dunkel der Hütte.
Um sie her
wallen und weben
gleißend und glimmernd
die goldenen Fäden
und legen ein Lichtband
über die lastende Staubschicht am Boden,
über die drückenden Ketten am Arm mir,
über den klappernden Webstuhl,
an den ich geschmiedet war
Jahre, o Jahre lang,
wie Prometheus dereinst an die Felsen des Kaukasus.
In leuchtenden Händen
trägt sie den Schlüssel, –
und wie sie leise den Arm mir berührt,
springt die Kette mit klirrendem Klang, –
springt – fällt –
und ich hebe die Hände
jubelnd und jauchzend
und fasse die strahlenden Finger der Fee
und schreite mit ihr
aus dem Dunste der Dienstbarkeit,
aus der Hütte farbloser Finsternis
in die Helle,
in die sonnigen Lande der Freiheit hinaus.
[98]
Durch Rosenbüsche und Lilienfelder
wandle ich träumend und duftbefangen;
Wundblätter vom Wege
legen sich lindernd
mir auf die blutig geriebenen Arme;
Scharlachdolden neigen sich nieder
aus exotischem Blättergewirr,
küssen die Stirn mir mit feurigen Lippen –
Palmenfächer und Riesenfarren
wölben sich über meinem Haupte,
gegen die sengenden Gluten der Sonne
Schatten spendend ein duftiges Dach.
Aber weiter –
aus Palmenhainen und Lilienfeldern
zieht mich die Sehnsucht zu sonnigen Höhen.
Wo Dornenhecken den Fuß mir hemmen,
berühr ich sie lächelnd mit goldenem Schlüssel
und schreite mitten durch Rosenhage;
mitten durch marmorne Märchenschlösser
öffnet der Schlüssel mir leuchtende Wege, –
über Steine und Felsgeröll
geh ich so sanft wie auf sammetnem Teppich,
weiter und weiter,
höher und höher,
bis mir zu Füßen
in bläulichem Duft
die blühende Ferne verschwimmt, versinkt, –
bis mir zu Häupten
der Sphären Gesang,
die goldene Harfe des Weltalls klingt . . . ..
[99]
Und wieder nieder
aus den heiteren Höhen
himmlischer Herrlichkeit
in die Täler des Schmerzes
schreite ich schweigend.
Aus seligen Gefilden
in sumpfige Niederung
– Geschöpf zu Geschöpfen –
treibt mich das Herz.
Wo ein Vöglein gefangen
hinter Gitterstäben
sehnsüchtige Lieder girrt, –
wo, zitternd vor Fieberdurst,
kettengeschlossen
ein hungernder Hund die Nächte durchheult, –
wo ein Dulder gefesselt
ans Marterpfühl,
aus des Krankenzimmers giftigem Broden
nach dem heilenden Hauch der Höhen seufzt, –
wo Menschenblüten verwelken
im Dunste der Dienstbarkeit
und unter des Alltags
gleichmäßig dröhnendem Hammerschlag
eine Kraft zermürbt, – –
wo immer ein Mensch
eine Kette schleppt,
sei es Sehnsucht und Sorge,
sei es Schmerz oder Schmach – –
Da geh ich und wandle
und schließe und schließe
mit goldenem Schlüssel
[100]
Ketten und Schlösser auf
und führe freudig
die Qualbefreiten
in die sonnendurchglühten Gefilde der Freiheit
und an der Schönheit kühlenden Quell.
Doch wo gebrochen
eine Seele trauert
an dunklen, verschütteten Grüften,
die kein Schlüssel mehr sprengt,
und hinaus sich sehnt,
– über Höhen hinaus,
die ein Fuß noch beschreitet, –
da lege ich leise und heimlich,
daß der Klang sie nicht schrecke,
den goldenen Schlüssel beiseite
und neige mich nieder
zu der armen trauernden Seele,
ein Lied ihr zu singen,
das ich erlauschte,
als ich einsam stand
auf den himmlischen Höhen,
als mir zu Füßen
die Welt in leuchtendem Duft zerfloß
und über mir
ein lichter Engel
die Harfe spielte,
die mit Sonnenstrahlen besaitet war,
und das Lied dazu sang
unsterblicher Liebe,
die göttlicher als die Freiheit ist.

[101] Das Märchen meiner Tage

Da geht mir durch den Sinn die alte Sage
von jenem König, dem, was er berührt,
zu Golde ward: – das Märchen meiner Tage.
Als noch mein Geist, der Erdenfesseln frei,
in seliger Gefilde Wonne schwelgte,
trat lächelnd zu ihm der Erhörung Fei.
Ihr roter Mund verhieß ihm reichen Segen
auf seiner Pilgerfahrt: »Nun wähle dir
den Leitstern selbst auf deinen Erdenwegen.«
Vor meines Geistes Augen hingestreut
lag alles Glück und alle Herrlichkeiten,
die seinen Lieblingen das Leben beut.
Da funkelten des Reichtums Diamanten,
der Liebe Rosen blühten düftereich,
der Weltlust helle Opferfeuer brannten,
der Freundschaft Perlen glänzten auf der Schnur;
doch meinen Geist vermochte nichts zu locken,
als eines Himmelssternes Schimmer nur:
»Ob meinem Haupte strahlt der Stern der Lieder,
nimm hin des Reichtums Glanz, der Liebe Lust:
im Reich der Dichtung blüht mir alles wieder.
Und was dein Mund mir schönes bieten mag,
ich geb es freudig hin um seinen Schimmer,
ins tiefste Dunkel trägt er lichten Tag.
[102]
Nicht sorg ich mehr, daß ich den Heimweg finde:
was meine Hand berührt, wird Poesie –
o gib den Stern mir mit als Angebinde!«
Und lächelnd winkte der Erhörung Fei. –
Da sank ein dumpfer Schlaf auf meine Lider;
als ich erwachte, war der Traum vorbei.
Im dunklen Tal der Welt fand ich mich wieder;
und Zentnerlasten beugen mir das Haupt,
und Eisenfesseln drücken mir die Glieder.
Die glühende Bilderpracht des Lebens blinkt
vor meiner Sehnsucht fieberheißen Blicken,
wie durch die Wüste die Morgana winkt.
Der Freundschaft Lächeln hab ich nie empfangen;
wenn sie bei andern sich zu Gaste lud,
an meiner Tür ist sie vorbeigegangen.
Und selbst die süße Liebe pochte nur
zum Spiele an mein Herz; als ich geöffnet,
da fand ich nicht mehr ihrer Tritte Spur.
Und bange Töne klingen mir im Haupte:
im Liede glüht und blüht mir alles neu,
was mir die Welt versagte oder raubte,
der Winde Wehen klingt wie Melodie;
ob meinem Haupte strahlt der Stern der Lieder,
was meine Hand berührt, wird Poesie.
[103]
Du holde Fei des Himmels logst mir nimmer!
Du arge Fei, du hast mich nicht gewarnt,
daß meines Sternes Glück nur Schein und Schimmer, –
und daß ich mit des Daseins Fesseln auch
des Daseins Lust und Weh empfinden würde, –
ach, brennende Lippen kühlt kein Himmelshauch!
Heiß pocht mein Herz nach irdischem Glück und Lieben,
und will ich's fassen, faß ich Luft und Dunst,
und nur das Lied, das Lied ist mir geblieben.
Den Fischer neid ich, der vom Strande kehrt
mit raschem Schritt, die Last auf seinem Rücken:
daheim erwartet ihn sein Weib am Herd.
Den Bauer neid' ich mit der Hand am Pfluge:
er schaut im Geist der künftigen Ernte Pracht,
und frische Labung quillt aus seinem Kruge.
Und von der Dirne, die im Tanz sich schwingt,
wie tauscht ich gern für alle meine Lieder
die Rose nur, die ihr am Busen blinkt!
Wie gäb ich freudig die erträumten Schätze
für einen Trunk aus dieses Lebens Quell,
daß er die glühenden Lippen mir benetze!
Mir aber blüht die Lust der Jugend nie,
auf meinen Feldern reifen keine Früchte, –
was meine Hand berührt, wird Poesie.

[104] Beati qui in Domino moriuntur

Da riß der Geist mich fort auf Sturmesflügeln
und trug mich über Mauer, Tor und Strom
zur alten heiligen Stadt auf sieben Hügeln.
Die tolle Nacht zum Aschermittwoch sank
auf Rom herab, das, Rosen in den Locken,
berauschten Sinns den Kelch der Freude trank.
Mich aber zog es aus dem Lärm der Gassen,
der grellen Farbenpracht des Karnevals
zu einer Villa, lichtlos und verlassen.
Wie kam's, daß sie, die nur der Lust geweiht,
die freudenreiche Villa Cavalotti,
am Fasching sank in Nacht und Dunkelheit?
Wohl mag sie trauern, da ihr Stern erblich;
mit leisem Seufzen nur um ihre Mauern
gespensterhaft der irre Nachtwind strich:
Denn er, der römischen Jugend ein Verderben,
des Bundes Meister und der Kunst Mäcen,
Ernesto Cavalotti, kam zum Sterben.
In Seide ruht er und auf Purpurpfühlen, –
und keine Hand erhebt sich, ihm die Stirn,
die fieberglühende, mitleidsvoll zu kühlen?!
Weilt von den Frauen, die sein Kuß beglückt,
nicht eine hier, daß sie in Todeswehen
dem vielgeliebten Mann die Kissen rückt? –
[105]
Hielt keiner seiner Freunde bei ihm stand? –
Sind schon die Funken, die sein Geist versprühte,
bevor sein Blick erloschen, ausgebrannt?! – –
Die Lust des Faschings rief sie alle – alle –;
ein Diener nur mit welkem Angesicht
lehnt einsam wachend in der Säulenhalle,
indes der kranke Herr sich unruhvoll
auf seinem Lager dehnt und von der Gasse
das Fastnachtstreiben laut und lauter scholl.
Da plötzlich lächeln Cavalottis Züge:
es ist, als habe ein Trompetenstoß
den fliehenden Geist belebt zur letzten Lüge.
Er strebt empor und winkt dem alten Mann:
»Die andern sind zerstoben und verflogen –
Du bliebst mir treu; nun hör mein Letztes an.
Mein Lebenlang hab ich gewirkt im Dienste
der freien Wahrheit, hab verhöhnt, verflucht
der Priesterweisheit taube Hirngespinste.
Das Kreuz, davor der feige Pöbel kriecht,
mit Füßen trat ich's und zerriß der Dornen
Gewinde, das um seinen Stamm sich flicht.
Die Wahngebilde, ich bezwang sie alle –
nun kommt der schwerste Kampf, der stärkste Feind
und kommt zur rechten Stunde: – Carne vale!
Zum letzten Siege steh ich kampfbereit;
hörst du die Hörner durch die Gassen gellen?
den Mantel her, das rote Narrenkleid!
[106]
Im Festschmuck will ich Ehre ihm bekunden,
dem »Boten Gottes«, den ich stets gehaßt,
des Narrengotts, den Pfaffentrug erfunden,
den Dummheit nur und Heuchelei verehrt!
der Mummenschanz des Lebens geht zu Ende –
so laß mich sterben, meines Lebens wert!« –
Und zitternd eilt der Diener, dem Gebote
des Herrn zu folgen; mit dem Domino,
dem flammendroten, schmückt er ihn zum Tode.
Und da er sorglich ordnet das Gewand,
da streift sein Blick die spottverzerrten Züge, –
und angstvoll flehend hebt er seine Hand:
»O Herr, gedenket eurer armen Seele!« –
Doch der, die Arme wie zum Kreuz verschränkt,
ruft hohnvoll, schrill, mit schon gelähmter Kehle,
den starren Blick gerichtet himmelwärts:
– »Beati qui in ›Domino‹ moriuntur!!« –
Das war des Cavalottis Fastnachtsscherz.
Das Auge bricht, die Hand sinkt kraftlos nieder,
doch um den Mund das grause Lachen bleibt;
ein Grau'n durchbebt des alten Dieners Glieder.
Scheu schleicht er, wie von Geistermacht bezwungen,
zur Türe sich und scheu sich zum Portal, –
da ist der lustige Faschingslärm verklungen.
Da ist versiegt der bunte Menschenstrom.
Vom Dome klingt ein dumpfes Sterbeläuten:
der Aschermittwoch dämmert über Rom.
[107]
Und in die Kirche zieht's ihn, Gott die Ehre
zu geben; – dort im Schein des ewigen Lichts
beugt er die Knie und betet: »Miserere –«.

Der Rufer

Die Blumen im Alleghanytal,
sie duften so süß wie nie zumal,
vom fächelnden Odem der Nacht gewiegt.
Die Welt in den Armen des Schlummers liegt;
nur leise flüstern wie Liebesgruß
die träumenden Wasser im Fluß – im Fluß –
und Maienzauber webt weit und breit
und lächelnde, blühende Einsamkeit.
Da horch! – durch die schweigende Nacht ertönt
ein dumpfer Laut – und es hallt und dröhnt
wie Hufgeklapper und Roßgeschnauf . . .
Du schlummernde Erde, wach auf, wach auf!
Ein Reiter jagt aus der Ferne her –
und die Erde erwacht und atmet schwer, –
es löst sich die Knospe in jäher Hast
aus dem Blatt, das schützend sie umgefaßt,
und sie schaut empor – und das Rot wird fahl
der Rose im Alleghanytal.
Dumpf murrt der Fluß, und er raunt und klagt . . .
Zur Stadt hinunter der Reiter jagt,
die Funken sprühen, der Staub wallt auf, –
es blinken die Lichter von Johnstown auf.
Viel Kerzen schimmern im hohen Saal,
es greift der Zecher zum Goldpokal.
Aus flackernden Blicken die Freude glüht,
[108]
von trunkenen Lippen die Rede sprüht . . .
Und auf der Schwelle zerlumpt, verstaubt,
mit wunden Füßen, mit wehem Haupt
ein Ausgestoßener Nachtruh hält, –
die Lippe lechzt, und die Wimper fällt . . .
Da hallt das Pflaster von Rosseshuf,
da schallt von der Straße der Warnungsruf;
er klingt zu den jubelnden Zechern empor,
er dringt an des schlafenden Bettlers Ohr:
»Hinauf, daß ihr Hügel und Felsen erreicht,
das Wasser, das Wasser der Sündflut steigt!«
»Das Wasser? – Das Wasser! Du faselst, Tor!
Der Sekt soll steigen! Der Schaum empor!«
Und das Glas erklirrt, und der Pfropfen knallt –
ein fernes Brausen dumpf widerhallt.
»Das Wasser – das Wasser?« – In Traumesbann
nachlallt es der Arme – da rollt es heran
wie wogende Berge, das Flutengebraus –
und es wanken die Mauern, es stürzt das Haus.
Ein fahler Streifen im Osten tagt:
zur Stadt hinunter der Reiter jagt,
als säß ihm im Nacken der bleiche Tod . . .
Aufblitzen die Dächer im Morgenrot.
Durch die Lüfte erklingt es wie Lerchengesang.
Die Burschen ziehen den Rain entlang,
das Messer im Gurt und die Rose am Hut,
im Auge den blitzenden Jugendmut –
Und am schimmernden Tamarindenzweig,
da lehnt eine Dirne, vor Sehnsucht bleich;
[109]
feuchtglänzenden Blickes späht sie hinaus:
»Er hat es versprochen und blieb mir aus?! –«
Da kommt's durch die Felder herübergebraust –
nur locker umschließt noch den Zügel die Faust,
wild flattert das Haar, jede Ader klopft –
dem Roß der Schaum von den Stangen tropft.
Und da er vorbeischießt im rasenden Lauf,
da gellt seine Stimme: »Hinauf! Hinauf!
Auf daß ihr die rettenden Hügel erreicht, –
das Wasser, das Wasser der Sündflut steigt!«
Ein spöttisches Lachen vernimmt er noch:
»Das Wasser, Du Narr? – Ei, so zeig' es uns doch!«
Doch das Mädchen schaut auf mit erglühendem Blick:
»Das Wasser?! – Er kommt nicht! O, gnädig Geschick,
O rette ihn – rette –« Noch betet ihr Mund,
da zieht sie die sprudelnde Flut auf den Grund, –
da löschen die Wogen mit dumpfem Gebraus
die Flammen der Jugend, der Sehnsucht aus.
Der Tag bricht an, und das Wasser schäumt –
»Nun keine Sekunde, mein Roß, gesäumt!
Schon wirbeln die Fluten im dichten Tann,
dort atmen noch Menschen – bergan, bergan!«
Zwei Buhlen ruhen am Felsenhang –
die Nacht war schwül und die Nacht war lang
voll Liebeszauber, voll Maienlust . . .
sein Haupt sank müde auf ihre Brust.
Im Walde noch schluchzt die Nachtigall –
da klingt es von ferne, ein dumpfer Hall,
Und er naht im schimmernden Morgenlicht,
der Rufer, der Retter – sie hören's nicht.
[110]
Sein Blick starrt gläsern, sein Haar ist ergraut;
doch wie er die schlummernden Liebsten erschaut,
da hemmt er noch einmal des Rosses Lauf,
und es schrillt eine Stimme! »Wacht auf, wacht auf!
Auf daß ihr die rettenden Hügel erreicht, –
das Wasser, das Wasser der Sündflut steigt!«
Das Weib schrickt auf aus des Mannes Arm,
doch er zieht sie nieder: »Sei ohne Harm,
mein Lieb, – der Himmel ist klar und blau,
und die Rosen blitzen im Morgentau,
die Rosen im Alleghanytal –«
Und er fährt in die Höhe, das Antlitz fahl,
das Haar gesträubt – und er lauscht – und lauscht: –
um die schützenden Felsen kommt es gerauscht
wie Sündflutwogen, wie Todesgraus –
und löscht die glühendste Liebe aus.
Und weiter, weiter in jäher Hast, –
aufstöhnt das Roß – doch er gibt nicht Rast.
Die Dörfer, die Städte versinken im Schwall,
schon wogen die Fluten von Wall zu Wall,
nun aufwärts, aufwärts den engen Pfad!
Da winkt von des Berges steilstem Grat,
die eigene Rettung – hinauf, Gesell,
die Felsen stehen, dein Roß ist schnell!
Und das Roß im Sterben zusammenbricht, –
zu Fuß denn weiter – er rastet nicht.
Wo eng an die schützenden Tannen geschmiegt
ein kleines verstecktes Häuschen liegt,
dort schlummern noch Menschen! – Der kalte Schweiß
perlt ihm von der Stirn, die Brust fliegt heiß,
und er schleppt sich bis vor des Hüttleins Tür,
– ein weinender Knabe tritt herfür.
[111]
»Und bringst Du nicht heim mein Mütterlein?
Sie ging zur Stadt, und ich blieb allein –
sie ging zur Stadt, und sie weilt so lang,
Du fremder Mann, mir ist so bang!«–
»Die Mutter, mein Knabe«, – sein Blick starrt hohl, –
»die Mutter, die Mutter; ich sah sie wohl –
von jenem Berge dort winkt sie Dir,
sie ruft mein Knabe – hinauf zu ihr!«
Da lächelt das Kind und eilt hinan;
an der Tür noch lehnt der sterbende Mann,
noch einmal schlägt er die Augen auf:
»Mein wackerer Knabe, hinauf, hinauf!
Ein Schritt noch – ein Schritt – und das Ziel ist erreicht;
so hoch keine Woge der Sündflut steigt!
Gott schütze dich droben im sonnigen Licht,
gerettet, gerettet!« – Sein Auge bricht,
sein Haupt sinkt nieder zum feuchten Grund,
die Flut küßt schweigend den starren Mund.
Das blühende Alleghanytal
durchtobt der brausende Wogenschwall,
doch über den wirbelnden Wassern kreist
versöhnend der ewigen Liebe Geist!
[112]

License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Müller-Jahnke, Clara. Flug. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-53AA-B