[51] [57]Sendschreiben an alle »Verbrüderten« 1

»Verbrüderung!« Das Losungswort ist gefallen, »Verbrüderung aller Arbeiter!« Ihr habt es selbst hinausgerufen in die Welt, ihr Arbeiter, und ihr habt es nicht ausgesprochen als eine Phrase, sondern als einen Aufruf, dem die Tat auf dem Fuße folgen soll.

Da liegen sie vor mir, die Beschlüsse des Berliner Arbeiter-Kongresses, und ich neige mein Haupt voll Ehrerbietung vor dem kleinen Buch. Ich denke an das alte Gleichnis vom Senfkorn, aus dem ein großer Baum erwuchs, der die Lande weithin überschattete und darinnen die Vögel des Himmels nisteten. So möge eurer Kongreß mit seinen Beschlüssen der Keim sein, aus dem ein lebendiger Freiheitsbaum erwachse, ein Baum, der alle Arbeiter in seinen Schutz nehme, der über alle Lande den Schatten des Friedens breite und aus dessen Zweigen die Triumphgesänge der Freiheit und Liebe hervorschallen!

Der zweite Teil der »Beschlüsse« handelt von der »Selbsthilfe der Arbeiter« und schließt mit dem:

»§. 29. Von allen diesen Bestimmungen sind die weiblichen Arbeiter nicht ausgeschlossen und genießen unter gleicher Verpflichtung gleiche Rechte«.

Mit diesem habt ihr es ausgesprochen, daß Männer und Frauen gleichberechtigt sind, nach der Gleichheit der Arbeit. Ihr habt mit diesem Paragraph den ganzen unsinnigen Fluch aufgehoben, der auf der einen Hälfte des Menschengeschlechts liegt: unberechtigt zu sein und unterdrückt von der andern Hälfte nach dem sogenannten Recht des Stärkern, welches nichts ist als die rohe Gewalt und also nicht ihr Recht, sondern ihr Unrecht. Arbeiter! Ihr habt damit die anderen Männer beschämt, die Männer der Wissenschaft, des Staats, der Geschäfte u.s.w., welche niemals daran denken, daß neben ihnen noch eine gleich große Zahl menschlicher Wegen existiert, welche auch zur Freiheit und Selbständigkeit geboren sind wie sie, ebenbürtige Wesen. Nur der [57] Wahnsinn alten Vorurteils und die irrtümlichen Anschauungen überwundener Standpunkte der vergangenen Zeit konnten es geschehen lassen, daß ein Mensch den andern zu seinem Eigentum, seinem Sklaven oder, wenn ihr wollt, seiner Sklavin machte, diese Zeit ist vorüber, ein neuer Tag ist angebrochen.

So bin ich es denn gewiß: Ihr habt es nicht vergessen, daß ihr nicht nur Brüder seid untereinander, sondern daß ihr auch Schwestern habt. Schwestern, die wie ihr leiden unter den Herrenrechten des Geldes, unter der Übermacht des Kapitals, unter dem Drucke tyrannischer Arbeitgeber und eines Übermaßes von Konkurrenz; Schwestern, die nicht nur gezwungen sind, ihre Arbeitskraft für einen kargen Lohn, der zum Leben nicht ausreicht, zu verkaufen, sondern die oft nur zu leben vermögen, indem sie sich der Schande preisgeben, den fluchwürdigsten Sündensold zu erwerben.

Aber, wie die Natur zwei verschiedene Geschlechter schuf, so hat sie denselben für diese Verschiedenheit auch verschiedene Wirkungskreise und körperliche Fähigkeiten zugewiesen. Ihr werdet also nicht meinen, daß mir es einfallen könnte, für die Frauen das ganz Gleiche zu fordern wie für die Männer. So wenig, wie eine Frau zur Besetzung eines Staatsamtes sich eignen würde, so wenig wird sie sich auch eignen, ein Schlossermeister oder Schmied zu werden. Ebenso ist nicht zu leugnen, daß, wie jetzt die Sachen stehen, wie die Bildung der Frauen hinter der Bildung der Männer zurückgeblieben, es auch den Frauen schwer werden würde, in gleicher Weise, wie ihr es tut, Assoziationen zu bilden und sich selbst zu helfen.

Es liegt also das Los der Arbeiterinnen mit in eurer Hand, Arbeiter! Sie können sich nicht allein helfen, ihr müßt euch ihrer annehmen und sie wenigstens führen und ihnen bei der Anordnung ihrer eignen Angelegenheiten hilfreich an die Hand gehen! – Ich bin gewiß, daß ihr dies tun werdet, da ihr einmal jenen Paragraph in eure Beschlüsse aufgenommen und am Besten wißt, wie schlimm es um eure Schwestern steht. Wollt ihr mir gestatten, unter euch, wie ich es schon früher getan, die Sache unserer armen Schwestern zu vertreten, so wird es mein Stolz und meine Freude sein, für sie und zu euch zu sprechen als eure treue Schwester.


Meißen

Louise Otto.

[58]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Otto, Louise. Essays. Aufsätze aus der »Frauen-Zeitung«. Sendschreiben an alle »Verbrüderten«. Sendschreiben an alle »Verbrüderten«. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-655F-6