Ein Kapitel aus der Pastoral-Medizin

»Und sahen, daß sie nackt waren.«

1. Mose 3.7.


In Innsbruck, wo ich im Jahr 1859 als blutjunger Student der Theologie obzuliegen hatte, galt als eine der gefeiertsten Autoritäten der dortigen Universität Professor Süpfli, Benedictiner-Pater, Haus-Prälat Pius IX.' und Ordinarius für Pastoral-Medizin. Seine Abhandlung »De conceptionis sexualis humanae causa transcendentali«, sowie seine scharfsinnige Untersuchung »Ueber den sittlichen Boden bei den Fröschen« waren damals in Aller Händen. Und die wichtige Frage, die wohl alle Gemüther beschäftigte, über den Einfluß der Tod-Sünden auf die Blutmischung – da die ganze Lehre von der Erbsünde von ihr beeinflußt zu werden schien – ruhte sozusagen in Süpfli's Händen. Süpfli locutus est! hieß es damals; und die Sache war damit entschieden. –

Ein älterer Student, dem ich mich angeschlossen hatte, veranlaßte mich, einmal dem Colleg Süpflis über Pastoral-Medizin beizuwohnen; »bei Süpfli zu schinden,« sagte man in der Studentensprache; und dies in doppelter Weise; denn nicht nur durfte man eine Vorlesung, welche man nicht belegt hatte, nicht besuchen, sondern Studenten jüngerer Semester war es überhaupt verboten, Collegs von so vorgeschrittener Weisheit beizuwohnen. – Mit dampfendem Gehirn und aufgesträubten Haaren kam ich heraus; und eine Woche lang hatte ich das Gefühl, eine Kugel spanischen Pfeffers verschluckt zu haben, die sich langsam auflöse, und Blut und Gedanken, alle Nahrungssäfte mit ihrem penetranten Roth durchsetze, bis das fabelhafte Gift glücklich wieder ausgeschieden war. – Ich hoffe, der Leser ist in dieser Beziehung rüstiger und von größerer Widerstandskraft. –

Wir kamen etwas zu spät. Das Colleg hatte bereits begonnen. Ueber einige fünfzig kurzgeschnittene Köpfe mit der thalergroßen Tonsur in der Mitte, alle niedergebeugt und die raschelnde Feder an der rechten Schläfe, hinweg, sahen wir den langen hageren Süpfli hoch auf dem Catheder thronen, mit etwas belegter Stimme, und leichten nach rechts und links austheilenden Handbewegungen, vortragen. Süpfli sprach ein eigenthümlich [325] gemildertes Schweizer Deutsch. Wir waren damals verpflichtet, jedes vorgetragene Wort des Lehrers zu stenografiren und später reinzuschreiben. Als Zuspätgekommene drückten wir uns schnell in eine Ecke. Der Vortrag hatte bereits begonnen. Ich that, was alle Andern thaten: zog Bleistift und Papier heraus, und begann zu schreiben. Das Stenogramm bringt Alles, Dialect-Laute wie Gedankengang mit gleicher Treue. Und so bring' ich denn auch, was ich auf dem Papier hatte, hier wieder, sine ira et studio, Constructionsfehler und lapsus loquendi, Ungeheuerlichkeiten und Bestialitäten durcheinander gemischt.

Süpfli loquitur:

» ......... a seller Zuschtand isch immer schlimmer worda; die Zahl der Chrankheite isch schröckli groß worda; der Düfel, net dermit z'fride, de mänschliche Körper ganz ußere materielle Subschtanz darg'schtellt z'sehe, wellt en no weiter ruinire. Alle Chrankhite, die de mänschliche Körper befalle, sind d'Folge vo der Erbsünde, die si immer vermehrt, und immer vermehrt; eso daß gar kei Hoffnung uf Beß'rung verhande z'sei scheint. Instatt gottähnlicher werda mer immer düfelsähnlicher. Und die letzt' Ursach', zwege der die Erbsünd' in immer größerer Menge uf uns chommen isch, isch seller Zuschtand, ime dem wir eh'mals usem Paradies vertrieb'n worda: die Nacktheit. Durch die Nacktheit wird in den Mänschen die Cubiditas und die Concubiszenschia wachgerufen; selle führen zur Sünde; die Sünde wird uf die Nachkomme in unwiderschtehlicher Gewalt übertrage, und häuft si immer mehr; und isch bis ufem heutige Tag zure schröckeli Gewalt worda. Zwar hat ma Chlider über die Scham conschtruirt, um die Nacktheit zu verberge. Aber leider sind die Chlider verschieblich. Und selle Verschieblichkeit hat in de letschte Jahrhunderte grüseli zug'nomma. Ma verschiebt si alle Augenblick ohne Zweck. Und leider chönna si ganz abg'nomma werda. Dadurch chönna d'Mänsche zu jeder Zeit ihre Nacktheit inne werda und si betrachte. Die einzige Möglichkeit us diesem sündhaften Zuschtand heruszuchumma, war – as e Z'rückversetze i de paradiesische Zuschtand der Sündlosigkeit zur Zit nüt denkbar, – die Verwachsung der Chlider mit der Körper-Oberfläche. Sell sich de Zweck der Paschtoral-Medizin. Uf wellem Weg isch aber dies zu erreiche? Do müesse me z'rückgehe bis zur erschten Entschtehung der [326] Nacktheit beim Mänschen; sell isch bis zur Geburt. As die Ars obschtetrizia aposchtolica, die paschtorale Geburtshülfe, us lehrt, isch die Erzeugung des Mänschen zur Zeit eine sit fascht sechstausend Jahre fortgesetzte Beschtialität; igeleitet gegen den ursprüngliche Wille des Höchschten; entgegengesetzt em ganze urschprüngliche Schöpfungsplan. As uns Scotus Erigena schon im neunten Jahrhundert gezeigt het, war der Zuschtand des erschten Mänschen im Paradies e rein göttlicher, spiritualischer, seraphischer, immaterieller, frei von Concubiszenschia und sexualer Cognitio. Die Vervielfältigung und Weiterzeugung wär' vor sich ganga iner rein idealer Weise, durch Selbscht-Anschauung, wie ebba die der Engel, und in Myriade von fleckenlose Individuen. Erscht durch de Sündefall ging selle siderische Geschtalt verlore. De erscht Mänsch bekam e sinnliche, materielle, fleischliche Körper, de geschlechtliche Zwitheilung erfolgte; und de Chliderfabrik begann. As die Sach' heut' schteht, müsseme uns gedulde, und miteme Dreck abfinde. Aber die aposchtolische Geburtshülfe muß doch conschtatire, daß mit jedem Kinde, das us Mutterlip usschlüpft, e Düfelsfratz uns entgegegrinzt, in wellem der göttliche Funke fascht erloschen isch, e haarlose Beschtie, e Gottrescht, dem zur ewigen Schande der wizengelbe Charakter der Nacktheit zugetheilt worde. Und sit der Zit senmer durch fortwährendes tieferes Verschtricktwerda in die Netze des Düfels zuneme ohnmächtige, flaischliche, concubischzente G'schlecht usgeartet. – Was isch nu z'thun? Was isch d'hütige Ufgabe der Paschtoral-Medizin, die Ufgabe der paschtorale Geburtshülfe? D'Nacktheit chönna mer nüt ändere. D'Nacktheit isch aber z'schame mit der G'schlechtsverthilung uf zwe Individue die Quelle aller Schande, aller libido, aller volubtasch, und ebbe dadurch die Quelle der immer schröcklicher uf uns chumene Erbsünde. Die Chlider verhülla die Nacktheit. Aber die Chlider sind verschieblich, thilbar, ablegbar, mousselinehaft, schlüpfrig und täuschungsrich. Mit Leim chönna merse nüt de Mönsche ufen Lib feschtkleba. Wenn'sch aber g'linget, d'Män sche in Chlider gebore werda z'lasse, war allem Uebel a'g'holfe! In Chlider, diene Anschauung der Nacktheit unmöglich mache! Dann war e Vermehrung der Erbsünde nimmer möglich. Welches Wunder! Ma söll's nüt für möglich halte. Und doch isch sell Wunder amol vor sich gange:

In Verona isch im siebezehnte Jahrhundert e frommes Ehepaar [327] g'si, die händ kei Chinder gha. Er stammte usere vornehme Familie. Sie isch e armes frommes Mädla gsi. Durch's Loos isch si si Frau worda. Zerscht welletse e christlichs, gottseligs, chinderloses Leba führe. Aberne Stimme hat ihn an sine Pflicht erinnert. E Conzeptschio is sine ulla libidine necne cubiditate z'schtand chumme. As die Schtund der Wehen isch näher chumme, sen sechs Priester Dach und Nacht an's Bett der Wöchneri hi gechniet, und händ ihr heißes Flehen ebba im Sinn von sellem ideale Ziel vereinigt, von dem ich oba g'sprochn hab, und das unschre Disciplin, die ars obschtetrizia aposchtolica verfolgt. Es verganga bange, schwer Schtunde. D'Hebam isch g'weiht gsi, und hat d' Communion z'vor empfange gha. Ändli gegen Oba, as sich's Leibesthor öffnet, was meinad er, isch chumma?! E Menschle, e Büeble isch usi chomma, inema Frack, in braune, runzliche Hösli, e Schilee het's ang'het mit schöne, gliche, glanzige Knöpfli, Cylinder Manschette, und sehr zarte Stiefeli, die erscht an der Luft hart worda sind; g'lacht hat's mit rothi Bäckli, mit freundlich blinzelnde Äugli, hat sie gruseli g'freut, und isch mit sime feine Schpazierstöckli usi stapft ufem wiße Leintuch .....«

In diesem Augenblick machte es: »Tim, Tim, Tim, Tim, Tim .....« zehn Mal. Es war zehn Uhr. ProfessorSüpfli schlug einen großen Folianten zu, und sagte: »s nächschte Mol Mehres über selle Materie!« –

Fußnoten

1 Der Verleger, welcher die obigen englischen Worte ursprünglich beanstandete, da er als Mitglied des Deutschen Sprach-Reinigungs-Vereins das Eindringen fremder Worte und Phrasen in die deutsche Sprache perhorresziert, einigte sich mit dem Verfasser, der sich weigerte durch Weglassung der Worte sich einer Geschichtsfälschung schuldig zu machen, dahin, durch Wiedergabe der kleinen englischen Phrase im Deutschen, jede Mißdeutung auszuschließen, was hiermit geschieht. Was Judas sagt, lautet ungefähr: »Was ist denn da los? – Was soll denn das mit dem »»wird mich verraten?«« – Was ist denn? – Was soll denn das Alles?« Über die merkwürdige Thatsache, daß Judas hier Englisch spricht, wird der Leser später Einiges Nähere finden.

2 »Sieh der Teufel«!

3 »Und hier seine Braut!«

4 Schwatzerei.

5 Der Teufel ist traurig, und hat wohl Furcht; er hat seine Braut verloren, und fürchtet die Superiorin. –

6 Ach, sie thun mir weh.


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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Panizza, Oskar. Ein Kapitel aus der Pastoral-Medizin. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-66EF-9