3. Huttens letzte Tage. Eine Dichtung

Nur Hohes soll der Dichter künden –

Gemeines suche man zu Haus.

Ernst von Feuchtersleben.


Der Zufall wollte, daß die Dichtung, deren Titel diesen Zeilen voransteht, in einem großen, weltgeschichtlichen [228] Moment zuerst ans Licht der Öffentlichkeit trat. Das Buch erschien kurz nach dem Schluß des vatikanischen Konzils von 1869–1870 und mitten in dem Waffenlärm des deutsch-französischen Krieges. Eine solche Zeitlage schien keineswegs danach angetan, einem Dichterwerk die Wege zu bereiten. Wenn gewaltige Ereignisse Schlag auf Schlag einander folgen und die Tagesgeschichte selbst zum erschütternden Epos wird, pflegt man der Poesie wenig zu achten, es wäre denn, daß sie es unternähme, den Zwiespalt der Gegenwart bis zu seinem Ursprung zu verfolgen und das Andenken an längst gefallene Streiter für dieselben Ideen zu verherrlichen. Dies tat das in Rede stehende Gedicht in Worten voll einschneidender, leidenschaftlicher Beredtsamkeit, und darum konnte es selbst in einer so stürmisch bewegten Zeit lebhaften und allgemeinen Anklang finden. Viele, die für den künstlerischen Aufbau des Werkes, die harmonische Durchbildung aller seiner einzelnen Teile keinen literarischen Maßstab besaßen, hatten doch Sinn und Verständnis für das Charakterbild des Mannes, als dessen Erben und Nachfolger sie sich betrachteten, der Jahrhunderte vor ihnen dieselben Ziele angestrebt hatte, die sie begeisterten, der in ihren Augen der Repräsentant des nach politischer Größe und religiöser Freiheit ringenden Deutschtums war. Das Buch hatte einen großen, durchgreifenden Erfolg. Bis dahin hatte, seinen persönlichen Bekanntenkreis [229] ausgenommen, niemand von C. F. Meyer gewußt. Seine im Jahre 1867 erschienenen Balladen waren trotz ihres bedeutenden poetischen Wertes unbeachtet geblieben. Erst sein »Hutten« verhalf ihm zum Sieg. Gestern noch unbekannt und ungenannt, zählte er mit einem Male zu der kleinen Schar der Auserwählten, die den Ruhm der deutschen Dichtkunst zu mehren bestimmt sind. Sein Talent entsprach den Erwartungen, die man in dasselbe gesetzt hatte, ja es übertraf sie. C. F. Meyers folgende in Prosa geschriebenen Erzählungen: »Das Amulet«, »Georg Jenatsch«, »Der Heilige« geben das Maß für den Reichtum seiner ursprünglichen Begabung, die Tiefe und den Umfang seiner künstlerischen Bildung. Die gewichtigsten kritischen Stimmen begrüßten in dem Verfasser eine jener seltenen Erscheinungen, die sich ihrer hohen Ziele vollkommen bewußt, auch zugleich die Kraft besitzen, sie zu erreichen.

Merkwürdigerweise haben die Werke dieses so hervorragenden Dichters in Österreich nicht die Würdigung und Verbreitung gefunden, die sie verdienen. Es ist nicht meine Aufgabe, zu erörtern, wie und vermöge welcher Ursachen dies gekommen ist; die Tatsache, daß C. F. Meyer für die überwiegende Majorität des österreichischen Lesepublikums eine unbekannte Größe geblieben ist, steht fest. Man mag sie bedauern, ableugnen läßt sie sich nicht. Eben dieses Faktum läßt [230] es mir als angemessen und zweckdienlich erscheinen, die soeben erschienene dritte Auflage eines Werkes, das bei uns nie in weitere Kreise gedrungen ist, so eingehend zu besprechen, als handelte es sich um ein neues Buch.

Die in Rede stehende Dichtung zerfällt in Blätter eines Tagebuches. Keines derselben erhält auch nur einen Gedanken, nur eine Empfindung, die mit Huttens ganzem Wesen nicht vollständig übereinstimmten. Sie enthalten Einfälle, schildern Eindrücke, wie der Moment sie bringt, beschwören Erinnerungen an vergangene Tage herauf und ergehen sich in sinnigen Betrachtungen, an deren Stelle dann auch wieder leidenschaftliche Ausbrüche treten, wenn Hutten die Sache, die er seinem Leben geweiht hat, gefährdet sieht oder wenn menschliche Niedertracht sein Blut in Wallung bringt. – Als hoffnungslos Kranker betritt Hutten die Zufluchtsstätte, die Zwingli ihm auf einer Insel des Züricher Sees bereitet hat. Auch von diesem stillen Eiland aus späht sein Auge nach Deutschland hinüber, horcht sein Ohr auf jede Kunde, die von dorther zu ihm gelangt. Der Arzt mahnt ihn, sich den Zeitereignissen gegenüber größeren Gleichmuts zu befleißen. Als ob Hutten sich von dem eigentlichsten Inhalt seines Lebens lossagen könnte! Wie? ruft der Kranke:


Wie? Sinkt der Sickinger, bedeckt mit Blut,
So brennt's mich nicht wie eig'ner Wunden Glut?
[231]
Wie? Steht ein deutsches Heer im Pulverdampf,
Stürz' ich im Geist nicht mitten in den Kampf?
Freund, was Du mir verschreibst, ist wundervoll:
Nicht leben soll ich, wenn ich leben soll!

In den Erinnerungen, die Hutten hier aufzeichnet, tauchen die Gestalten vieler seiner bedeutenden Zeitgenossen in scharfem Umriß empor. In seinen Urteilen über sie spricht sich die ganze Energie seines für Liebe und Haß gleich stark besaiteten Herzens aus. Er gedenkt des Zwiespaltes, der ihn aus den Reihen der Seinen scheiden und ihn neue Kampfesbrüder wählen ließ:


Ich weiß es, ich erlebe nicht den Sieg,
Erbittert ist der Kampf und lang der Krieg.
Doch heißen wird's, so lang's in Deutschland tagt:
Der Hutten hat den ersten Wurf gewagt!

In dem »Der Einsame« betitelten Abschnitt ist die Kontemplation vorwiegend. Die Sterne betrachtend, die nach dem Glauben seiner Zeit des Menschen Tun und Lassen im vorhinein bestimmen, ruft er halb im Scherz aus:


Gewissen, lasse fürder mich in Ruh'!
Den Sternen schreib' ich meine Fehle zu. –
Doch überleg' es, Hutten! Dreimal nein!
Ein Sklave willst Du nie gewesen sein.
[232]
Du bist ein Feind von jeder Tyrannei
Und was Du Schlimmes tat'st, Du tat'st es frei!

Von gleicher Kraft und Tiefe der Empfindung sind die sich daran reihenden Gedichte »Homo sum«, »Ariosto«, »Bin ich ein Dichter?« Aber was nützen dem Leser bloße Überschriften? Was nützen ihm selbst Zitate, die von dem festgefügten Bau, dem einheitlichen Charakter des Ganzen, bei allem Wechsel der Stimmungen, nicht den richtigen Begriff geben können? Das einzige, was sie vermögen, ist, dem Leser Interesse für das Werk selbst einzuflößen, ihn durch die Mitteilung einzelner Stellen die Bedeutung des Buches ahnen zu lassen. Zu diesem Zwecke sei es mir gestattet, einen Abschnitt von besonderer Wichtigkeit »Der Widersacher« hervorzuheben. Hutten erzählt darin seine Begegnung mit einem auf der Pilgerfahrt nach Jerusalem begriffenen spanischen Ritter. Er bietet diesem ein Obdach für die hereingebrochene Gewitternacht an, so wenig auch das düstere, asketische Wesen des Gastes nach seinem Sinne ist. Schlaflos sich auf seinem Lager wälzend, vernimmt er Wort für Wort das »andachtsvoll irrsinnige« Gebet, in dem der Fremdling die Ausrottung aller Ketzerei sich als höchste Lebensaufgabe stellt. Seine äußere Erscheinung wird also geschildert:


»Nachtdunkle Augen, voller Traum und Wahn,
Der stolze Mund Entschluß, die Stirne Plan.«

[233] Der hier einsprach, ist kein Geringerer, als der damals zweiunddreißigjährige Inigo de Loyola, dessen Pilgerfahrt nach Jerusalem tatsächlich in Huttens Todesjahr (1523) fiel. Noch vor Tagesanbruch verschwindet er, aber die Erinnerung an ihn verfolgt Hutten wie ein böser Spuk. Er ahnt in ihm den furchtbarsten, gefährlichsten Gegner seiner Ideale. Umsonst sucht er sich zu überreden, daß ein Frömmler kein Mann der Tat sei, sein Instinkt zwingt ihn zur Erkenntnis, ein Schwärmer, wie dieser, sei wohl auch befähigt, Gewaltiges auszuführen.


Er ist geschult in kriegerischer Zucht
Und tut als Pflicht, was teuflisch und verrucht.
Der ist kein Mönch, im Müßiggang erschlafft,
Er hat des Wahnsinns schauerliche Kraft.
Arglist'ge Schüler findet er genug;
Ist er ein Schwärmer, sind die Jünger klug.

Divinatorisch sieht er die Kämpfe vorher, die, von solchem Fanatismus angefacht, die Welt verwüsten werden, und schmerzliche Bitterkeit entringt ihm den Ausruf:


O Menschheit, qualenvoller Sisyphus,
Der seinen Felsen ewig wälzen muß!

Noch eine andere Begegnung erschüttert ihn tief und erschüttert den Glauben, der ihn sonst stützte. Der[234] Zufall führt ihn mit seinem Todfeind, dem Herzog Ulrich von Württemberg, zusammen, dem Mörder, der ihm den Vetter meuchlings erschlug, dem frechen Heuchler, der nur um irdischen Vorteils willen sich zur neuen Lehre bekannte. Hutten vergleicht das Los, das diesem Ruchlosen beschieden, mit seinem eigenen und finsterer Zweifel an einen gerechten Richter beschleichen sein Gemüt:


Gerechtigkeit, bist du nicht außer Amt,
Wirf einen Blitz, der tötend niederflammt!
Der Himmel lacht in unverwölktem Licht –
He! Hast du Ferien, himmlisch Hofgericht?
Die Wage falsch! Gefälscht das Schuldenbuch!
Wie Wetterlaunen walten Heil und Fluch.

Tiefer und tiefer nistet sich der Zweifel in Huttens Geist ein. Er höhnt ihn wegen seines Strebens, dessen einziges Resultat war, sein eigenes Glück zu zerstören; er nimmt die Stimme von Huttens Mutter an, die es bejammert, daß er Streit und Unfrieden heraufbeschworen und den erprobten Segenskreis durchbrochen habe, ohne des neuen Weges sicher zu sein. Es ist ein schwerer, innerer Kampf, den Hutten besteht; doch siegreich geht er aus demselben hervor. Vor seiner festgewurzelten Überzeugung, daß der Mensch nach Wahrheit streben müsse, was auch darüber zu grunde gehe, zerstieben die Zweifel, die ihn in einer Stunde [235] der Entmutigung befielen. Des Übrigen möge Gott walten.


Den neuen Marsch des Heeres, nicht kenn ich ihn –
Die Trommel schlägt! Die Fahne weht! Wir zieh'n!
Genug, daß ihn der Herr des Krieges weiß –
Sein Plan und Losung! Unser Kampf und Schweiß!

In dem neu erstarkten Glauben an eine vernünftige Weltordnung, in der unbedingten Hingebung seiner selbst an das Ganze, findet Hutten sich selbst wieder. Festen Mutes die Lösung der dunklen Rätsel des Erdenseins erwartend, scheidet er mit einem letzten Gruß an sein germanisch Land von hinnen.

Dies der Inhalt der Dichtung, die im gleichen Maße ein Seelengemälde, wie ein meisterlich ausgeführtes Zeitbild ist. Jedes der kleinen Gedichte, aus denen sie besteht, atmet den Geist der deutschen Renaissance und spiegelt das Wesen des Mannes wider, dessen Wahlspruch war: »Viel Feind', viel Ehr'!« Manche derselben wirken durch jenen Humor, den Jean Paul so treffend als ein »Lächeln voll Schmerz und Größe« definiert. Die Stimmungen sind wechselvoll, wie eben die augenblickliche Gedankenströmung sie erzeugt, aber im Scherz wie im Ernst ist es stets Huttens eigenste Stimme, die zu uns spricht. – Was die Form betrifft, so scheint sie, wie aus dem Inhalt selbst geboren, kein Kleid für denselben, sondern sein [236] lebendiger Leib. Allerdings hat die Sprache nichts von dem einschmeichelnden Wohllaut, der das Ohr gefangen nimmt, aber meines Erachtens wäre dieser hier geradezu von Übel, weil die psychologische und historische Wahrheit durch ihn schwer gefährdet würde. Eine glaubwürdige Darstellung von Huttens Individualität muß ihn auch die Sprache sprechen lassen, die der Ausdruck seiner Charaktereigentümlichkeiten ist. Für ein schroffes, eckiges, bald in beißender Satire, bald in leidenschaftlichen Ausbrüchen sich äußerndes Wesen paßt nicht die Glattheit melodisch hinfließender Verse; sie würden die Treue des Bildes schädigen, das in seiner jetzigen Gestalt mit überzeugender Wahrheit zu uns spricht und uns an so manches Porträt Albrecht Dürers gemahnt, der gleichfalls das Harte und Herbe nicht scheute, wenn es galt, den innersten Kern einer Individualität bloßzulegen. Daß C. F. Meyer da, wo er es für angemessen hält, den Vers mit großer Schönheit auszustatten versteht, beweisen seine Romanzen und Balladen, wie sein »Engelberg«, zur Genüge.

Die richtigste Bezeichnung für C. F. Meyer hat die ihm geistigverwandte Louise v. François gefunden. Sie nennt ihn den »dichtenden Historiker, der, den Blick nach den Höhen des Lebens gewendet, die Probleme verhängnisvoller Zeiten und hervorragender Ausnahmsmenschen darzustellen sucht«. Um diese Aufgabe [237] so erfolgreich zu lösen, muß sich zu der poetischen Begabung ein gleiches Maß durchdringenden, unbestechlichen Verstandes gesellen. Dem bloßen Talent fehlt dieser nur allzu häufig und sein Abgang bringt es um seine beste Wirkung; dem Genie hingegen ist er unzertrennlich beigesellt und eines seiner charakteristischen Kennzeichen.

Und hiermit sei die dritte Auflage des Buches, dessen erste und zweite viel zu wenig Verbreitung bei uns gefunden haben, allen wahren Literaturfreunden dringendst empfohlen.

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TextGrid Repository (2012). Paoli, Betty. Essays. [Conrad Ferdinand Meyer]. 3. Huttens letzte Tage. Eine Dichtung. 3. Huttens letzte Tage. Eine Dichtung. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-6AFA-9