Betty Paoli
Letzte Gedichte
(Aus dem Nachlaß)

[181] Im Walde

Jüngst hab' ich drüber nachgedacht,
Verstimmt und unzufrieden,
Was mir die Gabe eingebracht,
Die mir Natur beschieden.
Mit welchem Kranze mich umlaubt
Mein Dichten und mein Denken?
Und schweigend mußte ich das Haupt
Mit bittrem Lächeln senken. –
Des Liedes sanfter Wellenschlag
Geht im Gebraus verloren!
Was soll der Dichter heutzutag?
Er singt vor tauben Ohren.
Warum ward nicht des Sanges Kraft
Anstatt in meine Seele,
Wo sie mir doch nur Leiden schafft,
Gelegt in meine Kehle?
[181]
Da wär' ich Königin im Reich
Der Triller und Kadenzen,
Mein Name würde sternengleich
In den Journalen glänzen. –
Statt daß der Schönheit reine Norm
Sich meinem Geist enthüllte,
O, daß sie doch in Tanzesform
Mein Gliederspiel erfüllte!
Da würden sie mit Mund und Hand
Mich als »Ereignis« grüßen!
Zwei Welten lägen, froh entbrannt,
Anbetend mir zu Füßen.
Das wäre mir ein Glückeszug!
Das wären mir Talente,
Die man mit gutem Recht und Fug
Mit diesem Namen nennte! –
So dachte ich, mein Unmut schwoll,
Und ganz von ihm befangen
Bin ich, im Herzen finstern Groll,
Hinaus zum Wald gegangen.
Ein schöner, milder Herbsttag war's,
Vielleicht die letzte Spende,
Der letzte Sonnenblick des Jahrs,
Das nah schon seinem Ende.
Wohl sprach der Blätter Gelb und Rot
Von Scheiden und Verzichten,
Doch um so treuern Gruß entbot
Das Immergrün der Fichten.
[182]
Ein sanfter Geist des Friedens hieß
Mich hier willkommen wieder;
Auf einem moos'gen Steine ließ
Ich mich zur Ruhe nieder.
Hoch über mir das reine Blau,
Um euch ein Meer von Strahlen,
Zu Füßen mir der Morgentau,
Bunt schillernd gleich Opalen!
Es schienen Erd' und Himmel traut
In Eines zu verschwimmen!
Da wurd' es plötzlich in mir laut
Von wundersamen Stimmen.
In meiner Seele ward es Tag,
Ich jauchzte auf und fühlte,
Wie unsichtbarer Flügelschlag
Die heiße Stirn mir kühlte.
Mein Geist, von frischem Mut geschwellt,
Trieb neue Blütenranken
Und es umwob mich eine Welt
Von tönenden Gedanken. – –
Des Leid's hab' ich nicht mehr gedacht,
Davon ich erst beklommen;
Dank einer rätselhaften Macht
War es von mir genommen.
Lebendig ward mir im Gemüt
Der eig'nen Kraft Erinnern,
Und tief beseligt, dankerglüht
Rief es in meinem Innern:
[183]
Trinkt immerhin vom gold'nen Wein
Des Ruhms in vollen Zügen!
Mir ward die Gabe, die allein
Sich selber kann genügen!
Die Kunst, die himmelangehaucht,
In stillen Waldeslauben,
Den Beifall nicht der Menge braucht
Um an sich selbst zu glauben.
Ihr müßt nach einem Publikum
Mit Sehnsuchtblicken spähen,
Und bleibt dies ferne oder stumm,
So ist's um euch geschehen!
Doch meine Herrin, Poesie,
Tritt allwärts mir entgegen,
Am öd'sten Strand entböte sie
Mir ihren Gruß und Segen.
Sie hebt mich über all den Wust
Mit ihren starken Schwingen
Und heißet frisch in meiner Brust
Des Liedes Quellen springen.
Und wenn dem Lied voll Lust und Schmerz
Auch keine Seele lauschet,
Genug, daß es mein eig'nes Herz
Begeistert und berauschet!
Nehmt Gold und Ruhm als Lohn dahin,
Sirenen und Silphiden!
Mir ward der Dichtkunst Strahl – ich bin
Mit meinem Teil zufrieden!

[184] Eitler Wunsch

Wär's, mir zur Wahl, in meine Macht gegeben,
Aufs neue zu beginnen dieses Sein,
Ich wendete mich ab mit scheuem Beben
Und riefe schaudernd: Nein! und dreimal Nein!
Ich weiß zu gut, wie nichtig alles Streben,
Und daß nichts wirklich als der Schmerz allein.
Die Dornen, die sich um das Leben winden,
Es ist genug, sie einmal zu empfinden.
Ein and'rer Wunsch, seht, ich gesteh's in Treuen!
Regt thöricht sich in meiner müden Brust:
Auf einen Tag nur möcht' ich mich erneuen
In voller Jugendkraft und Jugendlust,
Am heitern Glanz des Lebens mich erfreuen,
Des Wehs, das er verschleiert, nicht bewußt,
Und mitten in so arglosem Genießen
Das hold getäuschte Aug' im Tode schließen.

[185] Die Tugend, die ich meine –

Die Tugend, die ich meine,
Für die mein Herz in Brand,
Abhold dem eitlen Scheine,
Trägt sie ein schlicht Gewand.
Sie rührt den Sinn der Menge
Mit holdem Reize nicht;
Aus ihrem Aug' blickt Strenge,
Ernst ist ihr Angesicht.
Spät reifen ihre Saaten,
Und karg scheint ihr Gewinn;
Es reißen ihre Thaten
Nicht zur Bewund'rung hin.
Nach ewig heil'gen Zielen
Fährt sie auf rauher Spur,
Gehaßt, verfolgt von vielen,
Geliebt von wen'gen nur.
Wer kühn sich ihr will weihen,
Der nehme wohl in acht:
Ihm Lorbeer'n zu verleihen,
Steht nicht in ihrer Macht!
Mit schmetternden Fanfaren
Begrüßt ihn nicht der Ruhm
In seinem unscheinbaren,
Selbstlosen Heldentum.
[186]
Sie aber, die er schützet,
Der er sich zugesellt,
Nur sie erhält und stützet
Und trägt den Bau der Welt.
Es ist die Hehre, Reine
Zu höchstem Dienst geweiht!
Die Tugend, die ich meine,
Ist die Gerechtigkeit.

[187] Jung und Alt

So lang uns noch die Jugend blüht,
Ergreift oft, ehe wir's gedacht,
Grundlose Trauer das Gemüt,
Und unsre Thränen fließen sacht.
Doch wem des Alters Eulenflug
Die Stirne streifte kalt und schwer,
Zur Trauer hätt' er Grund genug,
Nur hat er keine Thränen mehr.

[188] Das befreiende Wort

Ein Wort hab' ich erkoren,
Das in der Lebensschlacht
Ein Schutz, stets unverloren,
Mich hieb- und schußfest macht.
Man lernt es nur mit Schmerzen,
Doch wer's erlernen kann,
Der preist in seinem Herzen
Das Wort: was liegt daran?!
Wenn Falsches und Verkehrtes
Die Welt von ihm ersinnt,
Ein Mann, bar jedes Wertes,
Den Rang ihm abgewinnt.
Wenn ihn die blöde Menge
Belegt mit Acht und Bann,
Ihn bringt's nicht in's Gedränge –
Er denkt: Was liegt daran?!
Nah'n ihm des Alters Schatten,
Wird ohne Groll und Streit
Er ihr zurückerstatten,
Was die Natur nur leiht.
Geht selbst der Ruhm zu Trümmern,
Den er vordem gewann,
Es wird ihn wenig kümmern –
Er denkt: Was liegt daran?!

[189] Die Kinder der Einsamkeit

Es war die hold'ste Töchterschaar
Der Einsamkeit beschieden;
Wer ihnen sich gelobt, fürwahr!
Der findet sel'gen Frieden.
Da ist die Ahnung, die beschwingt,
Uns nicht am Staub läßt kleben;
Erkenntnis, die den Willen zwingt
Sich selber aufzugeben;
Die Sammlung, die, der Seele Licht,
In's Große sich versenket;
Die echte Freiheit, länger nicht
Von Furcht und Wunsch beschränket,
Die Liebe, die, nicht mehr verrannt
In selbstisches Verlangen,
Sich von dem einzelnen gewandt
Um alle zu umfangen.
Wer priese nicht die edle Zier
So makelloser Lilien?
Doch, schlimm genug! ergeht's auch hier
Wie manchmal in Familien:
Den Töchtern, liebevoll bestellt
Uns himmelwärts zu tragen,
Sind leider Söhne beigesellt,
Die aus der Art geschlagen.
Der Eigensinn, der störrisch hält
An angemaßtem Rechte,
Der Hochmut, der rings auf der Welt
Nur Thoren sieht und Knechte,
[190]
Der Mißmut, mit sich selbst im Streit,
Der starre Trotz nicht minder,
Sind allesamt der Einsamkeit
Schmachvoll mißrat'ne Kinder.
Drum lasse du in deiner Brust
Nur ihre Töchter walten!
Die bösen Buben aber mußt
Du dir vom Leibe halten.

[191] Wien, 26. November 1872.

Der Versucher

»Was du von dieses Berges Zinnen
Erschaust im weitgedehnten Kreis,
Durch meine Gunst kannst du's erringen,
Und, wahrlich, um geringen Preis.
Ich trage dich zu Ruhm und Ehre
Empor mit meines Fittichs Schwung!
Du fragst, was ich dafür begehre?
Nichts als nur deine Huldigung.
Jedwedes Ziel magst du erstreben,
Wenn du vor mir die Kniee beugst,
Und mit der Ehrfurcht scheuem Beben
Für meine Oberhoheit zeugst.
Dein sei das Maß der Herrlichkeiten,
So lang du mir zu Willen bist!«
Der Satan sprach's in alten Zeiten,
Und heute sagt's der Journalist.

[192] Verpflichtung

Hat die Natur in einer ihrer Launen
Mit Gaben dich so hoher Art geschmückt,
Daß eine Welt mit ehrfurchtsvollem Staunen
Empor zu dir, dem Auserwählten blickt;
Gibst Abertausenden du Ziel und Richtung,
Bist du der Stern, der ihre Nacht erhellt,
Dann fühle auch die heilige Verpflichtung,
Die solcher Herrscherwürde beigesellt.
Bevor das Wort dir von den Lippen gleitet,
Erwäge erst sein folgenschwer Gewicht!
Eh eine neue Bahn dein Fuß beschreitet,
Geh prüfend mit dir selber in's Gericht!
Ja, überwache dich mit ernster Strenge,
Nicht beuge der Versuchung je dein Haupt!
Die Schwächen, leicht verzieh'n der dunkeln Menge,
Dir, ihrem Führer, sind sie nicht erlaubt.
In dir den Richter ehrend und Propheten
Schaart sie sich glaubensfroh um dein Panier;
Nicht für dich selbst nur hast du einzutreten –
Die Tugend vieler steht und fällt mit dir.

[193] Was not thut

Eines wisse, eines merk',
Kraft wird dir's verleih'n:
Glauben mußt du an dein Werk,
Wenn es soll gedeih'n.
Hoffen mußt du, daß sich's einst
Durch dein treues Walten,
Wie du es im Geiste meinst,
Sichtbar wird gestalten.
Lieben mußt du es so heiß,
Daß, es ganz zu reinen,
Alle Müh' und aller Fleiß
Nur ein Spiel dir scheinen.
In der Kirche nicht allein,
Auch im Kunstbetriebe
Heißt der Tugenden Verein:
Glaube, Hoffnung, Liebe!

[194] In der Neujahrsnacht

Weithin ertönt der Gruß der Glocken,
Von hundert Lichtern glänzt der Saal,
Die Menschen jubeln und frohlocken,
Vereint beim festlich heitern Mahl.
Sie bringen Wünsche sich entgegen
Und klingen mit den Gläsern an.
Wie mag sie's nur so froh bewegen,
Daß abermals ein Jahr verrann!
Daß sie aus ihrer Freuden Mitte
Verhülltem Los entgegengehn,
Daß näher sie um so viel Schritte
Dem Ziel, vor dem sie schaudern, stehn!
Wie? Oder sollen Spiel und Necken,
Der Scherz, der immer Toll'res wagt,
Das Wehgefühl nur überdecken,
Das leis an jedem Herzen nagt?
Das Wehgefühl, nicht zu versöhnen,
Daß eine Frist nun wieder um,
Und daß die Glocken nur ertönen,
Vergänglichkeit! zu deinem Ruhm!

[195] Rosa multiflora

Vor allen deinen Schwestern
Gepriesen seist du mir
Du, die so heut wie gestern
Des Gartens blüh'nde Zier.
Die, wenn die andern lange
Den letzten Duft verstreut,
In freud'gem Lebensdrange
Sich immerfort erneut!
Laß sie nur prunkend stehen
Und hauchen würz'gen Brand!
Sie blühen und verwehen,
Du aber hast Bestand.
Du rankst an welken Hagen
Und zauberst unserm Blick
Noch in des Herbstes Tagen
Den Rosenmond zurück. –
Mir spiegelt sich in jenen
Das Glück, das lockend gleißt
Und, wenn wir's unser wähnen,
Sich unserm Arm entreißt;
In dir der stete Segen,
Den mild ein guter Geist
Auf unsern Erdenwegen
Uns still begleiten heißt.
Hold tritt er uns entgegen,
Wenn bang die Seele ringt,
Der unscheinbare Segen,
Den jeder Tag uns bringt!

[196] Sieh dich vor

Wer hat je einen Freund zu Grab getragen
Und nicht durchforscht sein innerstes Gewissen,
Ob er das Band, das jetzt der Tod zerrissen,
Nach seinem vollen Wert stets angeschlagen?
Ob er auch stets in den entschwund'nen Tagen
Sein Glück voll auszunützen sich beflissen?
Ob er nie Huld und Nachsicht ließ vermissen?
Dem Freund nie Grund gab zu gerechten Klagen?
Den preis' ich glücklich, der mit freier Brust
In seinem tiefen Leid sich selbst darf sagen,
Daß er sich darin keiner Schuld bewußt!
Doch wer verstummen muß vor jenen Fragen,
Weh ihm! Denn grimmer noch als der Verlust
Wird späte Reue ihm am Herzen nagen.

[197] Den duft'gen Kränzen wollt' ich gern entsagen –

Den duft'gen Kränzen wollt' ich gern entsagen,
Die Lieb' und Jugend, inniglich verbunden,
Mir einst gereicht in meinen Blütestunden,
Und klag' ich jetzt, nicht ihnen gilt mein Klagen.
Doch, daß, bedrängt von unlösbaren Fragen,
Vom Schwerte des Gedankens überwunden,
Der fromme Glaube meinem Geist entschwunden –
Wo find' ich Kraft dies herbste Weh zu tragen?
Mit welchem Trost soll ich mein Herz umfrieden,
Wenn dumpf die Donnerworte es durchhallen:
Die Himmel leer! Der Zufall Herr hienieden! –
Nur der ist elend, dem das Los gefallen,
Von allem Glück der Erde längst geschieden,
Zuletzt auch ohne Gott des Wegs zu wallen!

[198] Paraphrase

»Ein Menschenleben, ach, es ist so wenig!

Ein Menschenschicksal, ach, es ist so viel!«

Grillparzer.


Der Welle gleich, die fern vom Meeresstrande
Spurlos im weiten Ozean verschwimmt;
Der Flamme ähnlich, die nach kurzem Brande
Zu einem toten Aschenrest verglimmt;
Ein Schatten nur in täuschendem Gewande,
Der, kaum erschienen, auch schon Abschied nimmt;
Dem Walten blinder Kräfte unterthänig, –
Ein Menschenleben, ach, es ist so wenig!
Allein in dieser armen Spanne Zeit,
Die uns, den Bildern eines Traums, gelassen,
Welch ein Gedräng' von Schmerz und Seligkeit!
Welch ein Gewog' von Lieben und von Hassen!
Ob nichtig auch dies Sein, das Herz ist weit
Und kühn genug Unendliches zu fassen
Im Los, das ihm für flücht'ge Stunden fiel –
Ein Menschenschicksal, ach, es ist so viel!

[199] Die naturalistische Schule

Zum Spiegel einer Spanne Zeit
Wollt ihr die heil'ge Kunst erniedern?
Nichts als die bare Wirklichkeit
Soll sie euch schildern und zergliedern?
Dünkt euch die Wirklichkeit so viel?
So würdig aller höchsten Ehren
Des blinden Zufalls flüchtig Spiel,
Gebund'ner Kräfte trübes Gären?
Ein Wirrsal ist sie, in der Macht
Des Widerspruchs, der sie durchwütet!
Ein Chaos, über dem die Nacht
Der dumpfen Unbewußtheit brütet!
Soll diesem Chaos, wüst und fahl,
Sich eine blüh'nde Welt entringen,
So muß mit schöpferischem Strahl
Die Poesie es erst durchdringen.
Denn sie nur weiß das Lösungswort
Verworr'ner Rätsel aufzufinden,
Das Stückwerk hie, das Stückwerk dort
Zu einem Ganzen zu verbinden.
Denn ihr nur ward der Seherblick,
Der Wesenheit vom Scheine trennet,
Und in dem einzelnen Geschick
Ein allgemein Gesetz erkennet.
[200]
Wollt ihr von ihrem Sternenlauf
Nicht froh vertrau'nd euch leiten lassen,
Dann, teure Freunde! gebt es auf
Der Welt Mysterien zu fassen.
Dann bleibt auch künftig wie zuvor
Am Truge der Erscheinung kleben!
Zur Wahrheit führt nur sie empor,
Sie, die der Weg, das Licht, das Leben!

[201] Zeichen der Zeit

Die Wolken nicht, die, dunkel hingestreckt,
Uns nahe Stürme zu verkünden scheinen,
Was mich an unsrer Zeit zumeist erschreckt,
Ist ihre Lust am Niedern und Gemeinen.
Ins Reich der Kunst hat es sich eingedrängt,
Der Wahrheit hehren Namen schnöd mißbrauchend,
Von keiner Scheu und keiner Scham beengt,
Mit Wollust sich in Schlamm und Pfützen tauchend.
Ergriff es erst von diesem Reich Besitz,
Wer könnte ferner seinen Lauf noch wenden?
Bald dringt es zu des tiefsten Lebens Sitz,
Das Werk der Schmach, des Unheils zu vollenden!
Ein heißer Schmerz flammt grimm in mir empor,
Seh' ich der Menschheit Adel frech geschändet.
Weh einer Kunst, die solchen Weg erkor,
Und weh dem Volke, das ihr Beifall spendet!

[202] In späten Jahren

Mit jenen nicht, die mich umgeben,
Verbring' ich diesen Rest von Leben,
Nein! mit der Heimgegang'nen Schaar.
Mit ihnen, die in fernen Tagen
Mich sah'n in meiner Blüte ragen,
Und deren Zeit die meine war!
Beim Fest, im dicht gedrängten Saale,
Im stillen Wald beim Mondesstrahle
Verfolg' ich träumend ihre Spur;
Und hier wie dort, auf allen Wegen
Tritt mir vertraut ihr Bild entgegen,
Nur reiner und verklärter nur!
Und aus dem Mund der teuren Schemen
Mein' ich die Frage zu vernehmen,
Die mir im eig'nen Herzen brennt:
»Allein, allein auf dieser Erde,
Was hoffst du wohl, daß dir noch werde?
Was hält dich noch von uns getrennt?«

[203] Aufgegeben

Stets öder wird's auf meinem Pfade,
Am Herzen nagt mir dumpfe Pein.
O Hoffnung, du Scheherezade!
Wieg' mich mit deinen Märchen ein!
Die Nacht, der ich entgegenschreite,
Verhülle mir mit ros'gem Flor,
Und gib mir tröstend zum Geleite
Holdsel'ger Zukunftsträume Chor.
Wird ihnen die Erfüllung nimmer
In diesem schwanken Erdenhaus,
So breite deinen milden Schimmer
Weit über's dunkle Grab hinaus.
O nahe mir wie Frühlingsrauschen,
Vor dem des Eises Rinde springt,
Und laß mich deinen Märchen lauschen,
Bis froh mein Herz davon erklingt!
Die Hoffnung drauf: »Ein Märchen nennst
Du selbst, was ich zu künden weiß,
Und sagst damit, daß du erkennst,
Wie fern und fremd du meinem Kreis.
Zu tief ist deiner Stirn das Zeichen
Ruchlosen Zweifels eingebrannt!
Nie wieder wird er von dir weichen,
Du bist und bleibst an ihn gebannt.
Und so ist mir die Macht benommen,
Dir vorzuspiegeln holden Wahn.
Mein Zuspruch könnte dir nicht frommen,
Denn, ach! Du glaubtest nicht daran!«

[204] Woher? – wohin?

Es ward im Schlaf, von unbekannter Macht,
Ein Mensch nach einem Riff im Meer gebracht
Und mitleidslos sich selber überlassen.
Er kennt, wie angstvoll er auch danach spürt,
Die Wege nicht, die ihn hieher geführt,
Was er hier soll, er weiß es nicht zu fassen.
Abgründe rings, wohin sein Auge schaut,
Und keine Hand, die liebevoll und traut
Ihm einen Pfad der Rettung möchte zeigen!
Das Meer, den Aether, blauend drüber hin,
Die Sterne fragt er: »Sagt mir, wo ich bin?«
Umsonst! Die Höhen und die Tiefen schweigen.
Und stets muß er gewärtig sein der Nacht,
In der dieselbe tief verhüllte Macht,
Die ihn einst auf geheimnisvollen Bahnen
Hieher geführt, wo er nun bangend irrt,
Von hinnen wieder ihn entführen wird; –
Wohin? Sein Geist vermag nicht es zu ahnen. –
Du fragst: »Wer ward so bitterm Los geweiht?
Wen hat zu solchem schauervollen Leid
Aus Tausenden des Schicksals Haß erkoren?
Der Unglücksel'ge ohne Rast und Ruh,
Wer ist er? Sprich!« – Du selber bist es! Du
Und ich und alle, die vom Weib geboren!

[205] Warum verstummt das Lied?

»Warum verstummt das Lied, daß heiße Welle
Sich stürmisch einst aus deiner Brust ergoß?
Das Lied, das dunkel bald, bald wieder helle
In fremde Herzen strömend überfloß?
Ist's unerhörten Mißgeschickes Grelle,
Die, dich versteinernd, dir die Lippe schloß?
Wie? Oder ward dir solches Glück zu eigen,
Daß es zu feiern nur mit sel'gem Schweigen?«
Das ist es nicht. Kein Uebermaß der Wonnen,
Kein ird'scher Schmerz hält mich in seinem Bann,
Und fahre ich nicht fort wie ich begonnen,
So ist's nur, weil ein Traumbild mir zerrann,
Ein holder Wahn, ein süßer Märchenbronnen,
Aus dem ich immer neue Kraft gewann,
Im Lebenskampf mich standhaft zu bewähren,
Des Lebens Leid im Liede zu verklären.
Was dieses Traumbild war! Es war der Glaube
An eines Gottes treue Vaterhand,
An eine Heimat über'm Erdenstaube,
An meines Wesens ewigen Bestand!
Seit er dem grimmen Zweifel ward zum Raube,
Ist stumm mein Lied, mein Inn'res ausgebrannt,
Und lähmend dringet mir auf allen Wegen
Der Moderhauch der Endlichkeit entgegen!
[206]
Wenn blinde Mächte nur das Weltall lenken
Die selber weiter nichts als Stoff und Kraft,
Dann fluche ich dem Fühlen und dem Denken,
Den Folterknechten unsrer grausen Haft,
Dann lob' ich jeden, der mit Taumeltränken
Dem marternden Bewußtsein sich entrafft,
Daß er, samt seines Geistes reinsten Trieben,
Ob heut', ob morgen spurlos muß zerstieben!
Dem finstern Rätsel nimmer nachzusinnen,
Beglückt, wem sich der einz'ge Ausweg bot!
Mir liegt er fern; auf Stunden nicht entrinnen
Kann ich dem Wehgefühl so bitt'rer Not.
Soll diesem Sein kein höh'res sich entspinnen,
So ist es mir nur ein geschminkter Tod,
Ein Truggesicht mit gleißnerischen Zügen,
Die frechste, die verruchteste der Lügen! –
Dem starren Weltgesetz muß ich mich neigen,
Das mich zum Staub erniedrigt, zum Atom!
So wall' ich denn, versenkt in düstres Schweigen,
Auf Erden hin, ein Schemen, ein Phantom,
Bis, fortgerissen von dem Todesreigen,
Erfaßt von der Vernichtung dunkelm Strome,
Die Qual, die Leben heißt auf diesem Sterne,
In meinem Grabe ich vergessen lerne!

[207] Drei Stufen

Umflossen von des Glückes Schein
Den Uebermut nicht zähmen,
Im Mißgeschicke schwach und klein,
Zur Demut sich bequemen,
Sich je nach dem Erfolg des Tags
Für hoch, für niedrig achten:
Das ist so des gemeinen Schlags
Verhalt in Lebensschlachten.
Dann gibt es eine zweite Art,
Aus edlerm Stoff erzeuget,
Die, wenn ihr voll Gelingen ward,
Das Haupt in Demut beuget,
Und wenn der Blitz hernieder fuhr,
Der Saat und Frucht vernichtet,
Verarmt, beraubt, es stolzer nur
Und trotz'ger aufwärts richtet.
Doch eins geht drüber noch hinaus:
Bei allem Schicksalstreiben
Bei Sonnenschein und Sturmgebraus
Derselbe stets zu bleiben!
Demütiger im Glücke nicht,
Nicht stolzer in Gefahren,
In Leid und Lust das Gleichgewicht
Der Seele zu bewahren.

[208] Früh oder spät

Gezittert hab' ich um dein teures Leben,
Mit der Verzweiflung Aug' in Aug' gerungen,
Als ich, von namenloser Angst durchdrungen,
Dich schon im Scheiden wähnte und Entschweben.
Jetzt, da du wieder mir zurückgegeben,
Aufjubeln sollte ich mit Flammenzungen!
Ich kann es nicht. Von deinem Arm umschlungen,
Fühl' ich die finstre Macht uns doch umweben.
Früh oder spät, die Stunde muß erscheinen,
Die, trennend uns mit grimmem Todeshiebe,
Der Seelen Glut dem Staube wird vereinen.
Und Schauder faßt mich an vor einer Welt,
In der das Höchste, Heiligste, die Liebe,
Sowie das Niedrigste dem Nichts verfällt.

[209] Was bleibt?

Wenn deine Schönheit, dein Talent man preist,
Sei der Gedanke stets dir gegenwärtig:
Das Leben wird mit allem, allem fertig,
Und wie das Antlitz altert auch der Geist.
Du meinst: »Verschmerzen läßt sich der Verlust,
Die Zeit mag ihres strengen Amtes walten,
Bleibt mir nur eins, das Köstlichste, erhalten:
Die tiefe Liebeskraft in meiner Brust!«
So wisse: müd, erschöpft und abgehetzt
Fühlst du dereinst auch diese Kraft dir schwinden,
Dein Herz vertrocknet, stumpf wird dein Empfinden,
Nicht lieben kannst du mehr – – was bleibt zuletzt?!

[210] An verwaister Stätte

Die Teuern, die sich hie
Ein Heim gegründet hatten,
Nicht länger wandeln sie
In dieser Bäume Schatten.
Sie schauen länger nicht
Den Segen dieser Fluren.
Ihr Aug' schloß sich dem Licht,
Verweht sind ihre Spuren.
Doch, ob geschieden auch,
Ich hör' auf Geisterschwingen,
Im sanften Windeshauch
Ihr Wort noch zu mir dringen.
Und, ob die dunkle Schicht
Der Erde sie umgebe,
Gestorben sind sie nicht,
So lange ich noch lebe.
Denn Liebe, stark und frei,
Kennt kein Vergeh'n und Schwinden,
Sie weiß der Welten zwei
Untrennbar zu verbinden!

[211] An Hermine Villinger

Ganz nach rechter Dichterart
Ist in deines Wesens Fülle
Ernst mit Heiterkeit gepaart.
Leicht dein Sinn und fest dein Wille,
Klar dein Blick und frisch dein Mut,
Dein des Herzens tiefe Glut.
Während wir auf steilen Pfaden
Mühsam wandern und beladen,
Trägt beschwingt dich der Humor
In sein lichtes Reich empor.
Von den köstlichsten Geschenken,
Womit Götter uns bedenken,
Ist dir kein's versagt geblieben –
Und man sollte dich nicht lieben?!

[212] Fragment aus einer größeren, noch unvollendeten Dichtung

In Trümmer war die alte Welt gesunken!
Den Schwerpunkt missend, glitt sie todestrunken
Von Sturz zu Sturz durch schaurig öde Nacht.
Der Glaube, der sie stützend einst getragen,
Er war dahin, und mit ihm lag zerschlagen
Die ihm entspross'ne Fülle ihrer Macht.
Was konnte sie noch zeugen und gebären,
Der Götter, Freiheit, Vaterland Chimären,
Erfunden für der Thoren Wahnbedarf?
Sie, die von dunkeln Mächten Unterjochte,
Die Großes zu belächeln nur vermochte
Und alles Hohe zu den Toten warf?
Stets mehrten sich die finstern Unheilszeichen.
Den Mannesstolz sah blasser Furcht man weichen,
Die Bürgertugend käuflich feilem Sinn!
Klein wie die Seelen wurden ihre Ziele.
Des Pöbels Losungswort hieß: Brot und Spiele!
Der Mächt'gen Wahlspruch: Wollust und Gewinn!
Es lösten sich die heiligsten der Bande,
In Purpur ging, erhob'nen Haupts, die Schande,
Verödet stand des Hauses trauter Herd.
Wo einst im Schmucke der verdienten Ehren
Matronen saßen, thronten jetzt Hetären,
Geschmückt mit eines Fürstentumes. Wert.
[213]
Ein wüster Wahnsinn hielt die Welt umfangen;
Der Schminke Rot auf ihren fahlen Wangen,
Erhoffte sie Betäubung vom Genuß.
Umsonst! wohin sie ihren Schritt auch kehrte,
Der Ekel vor sich selbst blieb ihr Gefährte,
Als Schatten folgte ihr der Ueberdruß.
Kein Zauber war, der diesen Schatten bannte!
Und tief in ihrem Innersten entbrannte
Ein wildes Sehnen nach dem Untergang. –
Da, plötzlich, in so hoffnungslosem Trauern,
Vernahm sie eine Stimme, die mit Schauern
Des Schreckens und der Wonne sie durchdrang.
Ihr schwindelte! – Mit goldnem Licht umwob sich
Das Dunkel rings, ihr müder Blick erhob sich,
Ihr Fuß hielt inne auf dem Grabesgang!
Und sie begann dem Wunderwort zu lauschen,
Das durch der Stürme und der Wogen Rauschen
Aus fernem Ost bis hin zum Tiber klang.
Er sprach dies Wort den Herren und den Knechten
Vom Kampf und von dem Siege des Gerechten,
Von des Entsagens herber Seligkeit!
Von einer Liebe, die befreit, entsündet,
Und deren Strahl, da wo er trifft und zündet,
Zum Helden- und zum Märtyrtume weiht. –
Die Welt, von diesem Worte übermeistert,
Sie beugte sich, erst staunend, dann begeistert,
Dem sanften Joch, das es ihr auferlegt.
Genommen war der Fluch von ihrem Haupte!
Sie jauchzte, wie die unfruchtbar Geglaubte,
Wenn sich in ihr ein keimend Leben regt!
[214]
Dies neue Leben, das in ihr erwachte,
Mit tausend Werdetrieben sie durchfachte,
Es war der Liebe ungeahnte Kraft!
Durch ihre Adern floß der Strom der Weihe, –
Verjüngt, erneuert schritt sie, eine Freie,
Aus der Versumpftheit und der Selbstsucht Haft!

[215] Letztes Gedicht

(1894.)


Wenn quälend mich die Angst beschleicht,
Mein Teuerstes auf Erden,
Mein Liebstes könnte mir vielleicht
Einst noch entrissen werden;
Dann tröstet der Gedanke mich:
»Weshalb davor erbeben?
Dies große Leid vermöchte ich
Ja nicht zu überleben.«
Die Hoffnung, die sich in dir regt,
Bevor du ihrer dich entschlagen,
Daß keinem werde auferlegt
So viel als er kann tragen.
Wie groß das Leid, wie tief die Not,
Du wirst dich d'rein ergeben,
Und was dir bitt'rer als der Tod,
Du wirst es überleben.

Notes
Erstdruck aus dem Nachlaß in: Gedichte von Betty Paoli. Auswahl und Nachlaß. Stuttgart (J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger) 1895.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Paoli, Betty. Letzte Gedichte. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-6B92-9