[172] Die Scheere der Atropos

An den Herrn Professor Jacobi in Freyburg.


Freund, der den Söhnen und den Töchtern
Der horchenden Germania
Und allen kommenden Geschlechtern,
Die Hackbrett und Harmonika
Mit ihren Ohren nicht vermengen,
Vom schlauen Sohn der Zypria,
In hundert reizenden Gesängen,
So manchen Schwank erzehlet hat:
Darf ich an deinen Arm mich hängen,
Und dir auf einem Epheublatt
Von ihm ein rauhes Liedchen blasen?
Ich borg es aus der goldnen Zeit,
Da Lamm und Tieger, Hund und Hasen,
In friedlicher Vertraulichkeit
Aus Tellus großer Schüssel aßen,
Und Einfalt und Zufriedenheit
Die reine Brust des jungen Hirten
Und seiner schmucken Dirne zierten.
In jener schönen goldnen Zeit
War Amor noch ein biedrer Junge;
Er schnellte freundlich sein Geschoß
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Nur auf verwandte Herzen los,
Und jeder Blick und jede Zunge
Pries seine süße Zaubermacht:
Denn seine Falkenaugen drückte
Noch nicht der Flor der Mitternacht,
Und seine weissen Schultern schmückte
Noch nicht der Flügel falsche Pracht.
Auch trennte nur der Tod die Herzen,
Die sein geweihtes Band umgab,
Und mancher Greis fuhr unter Scherzen
Mit seinem Mütterchen ins Grab.
Denn auch im Bild der schönsten Tage
Der Menschheit stehen Sarkophage,
Und leider oft im Vordergrund.
So fiel in ihrem Lenz Charite,
Ein Mädchen, gleich der Aphrodite,
Wie sie vor Priams Sohne stund.
Umsonst drang Thirsis, von den Ketten
Der Libitina sie zu retten,
Wie Orpheus in den Höllenschlund.
Umsonst war selbst des Amors Zähre,
Die auf der Mutter Busen floß.
Mein Kind, sprach Venus, hat die Scheere
Der fürchterlichen Atropos
Einmal den Faden abgeschnitten,
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So knüpft kein Gott ihn wieder an. –
Nun, sagt er, kann ich nichts erbitten,
So räch ich mich! – Gesagt, gethan.
Er eilet in die dunkeln Zonen,
Wo die drey Spinnerinnen thronen,
Die des Geschickes Mägde sind.
Nach vielen Knicksen, vielen Grüßen
Von der Mama, schleicht sich das Kind
Zur Atropos. Mit hundert Küssen
Macht er die graue Vettel zahm,
Und als sie eine Prise nahm,
Erwischt er schnell die blanke Scheere
Und wirft sie in den Erebus.
Er flieht. Doch schnell erschien die Mähre
In dem Olymp. Saturnius
Berief die himmlischen Magnaten,
Um sich mit ihnen zu berathen,
Und alle schrieen voll Verdruß:
Erhöhen wir die stillen Freuden
Des Menschen durch Unsterblichkeit,
So würden seine Seligkeit
Die Götter selbst mit Recht beneiden! –
Nur Atropos schwieg zu dem Streit,
Mit ihren Ferien zufrieden,
Und Zevs war auch noch unentschieden,
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Als Charon, eisgrau, wie die Zeit,
Und mit Alektos Wuth im Blicke,
In die lazurne Halle drang.
Wie lang, o Vater der Geschicke,
Rief er aus heiserm Hals, wie lang
Schweigst du zu Amors Bubenstücke?
Schon sieben Tage bringt der Tod
Mir keine Schatten aus dem Lande
Der Sterblichkeit. Mein leckes Boot
Liegt müßig an dem öden Strande;
Und ich, Herr Zevs, bin ohne Brod.
Auf einmal braust es wie ein Wetter
Durch den Olymp. Das Chor der Götter
Kreischt des Matrosen Klage nach;
Und Zevs, statt ihn zum Stubenheitzer,
Zum Bratenwender, oder Schweizer
Zu machen, thut was mancher Schach
Der Christenheit in Ost und Westen;
Um einen Diener fett zu mästen,
Erwürgt er huldreich eine Welt.
Der Parze ward vom härtsten Stahle
Bey Venus hinkendem Gemahle
Ein neues Instrument bestellt.
Und Amor? Rachsucht und Kabale
Behielt auch gegen ihn das Feld.
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Sein Flehn und seiner Mutter Thränen
Vermogten nicht den wilden Greis,
Die harten Richter zu versöhnen!
Und selbst auf Jupiters Geheiß
Nahm Ganimed die dichte Binde
Der ernsten Themis von dem Kopf
Und band damit Cytherens Kinde
Die Augen zu. Der arme Tropf
Schleicht nun im Finstern an den Wänden.
Der Zufall blos lenkt sein Geschütz,
Und Themis läßt sich durch den Blitz
Des Golds die offnen Augen blenden.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Pfeffel, Gottlieb Konrad. Gedichte. Fabeln und Erzählungen. Dritter Theil. Viertes Buch. Die Scheere der Atropos. Die Scheere der Atropos. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-730D-D