Antoine-François Prévost d'Exiles
Manon Lescaut
(Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut)

Vorwort des Verfassers

[15] Vorwort des Verfassers.

Die Abenteuer des Chevalier des Grieux hätte ich auch in meine »Erinnerungen und Erlebnisse eines Mannes von Stande« einreihen können. Da sie aber keine notwendigen Beziehungen dazu haben, glaubte ich doch, daß der Leser sie mit größerer Befriedigung als gesondertes Werk aufnehmen würde. Eine so ausgedehnte Erzählung hätte den Faden meiner eigenen Geschichte zu lange unterbrochen, und obgleich ich mich durchaus nicht für einen peinlich genauen Schriftsteller ausgebe, so weiß ich doch, daß eine Erzählung von allen Zugaben frei sein muß, die sie schwerfällig und verwickelt machen. Wie es ja auch Horaz sagt:


Ut jam nunc dicat jam nunc debentia dici,
Pleraque differat, ac praesens in tempus omittat. 1

[15] Man braucht sogar noch nicht einmal eine so gewichtige Autorität heranzuziehen, um eine so einfache Wahrheit zu beweisen, denn der gesunde menschliche Verstand verlangt die Befolgung dieser Regel.

Wenn das Publikum meine Lebensgeschichte mit Genuß und Anteilnahme aufgenommen hat, so wage ich es ihm zu versprechen, daß ihm die neue Gabe nicht minder gefallen wird. Man wird in dem Geschick des Herrn des Grieux ein erschreckendes Beispiel für die Gewalt der Leidenschaften finden. Ich schildere hier einen verblendeten jungen Mann, der seinem eigenen Glück aus dem Wege geht und sich freiwillig in das ärgste Unglück stürzt; der bei allen Gaben, durch die sonst eine glänzende Laufbahn verbürgt wird, doch zugunsten eines ruhmlosen und unsteten Lebens auf alle Vorteile des Reichtums und der Geburt verzichtet; der sein widriges Geschick kommen sieht und ihm doch nicht ausweichen will; der davon gequält und bedrückt wird und doch die Heilmittel verschmäht, die man ihm immer wieder anbietet, und die sein Unglück in jedem Augenblick beenden könnten; kurz einen zwiespältigen Charakter, eine Mischung von Tugenden und Lastern, einen ewigen Gegensatz von guten Vorsätzen und schlechten Handlungen. Alles dieses liegt der gegenwärtigen Schilderung zugrunde. Verständige Menschen werden ein Werk von solcher Art nicht als eine unnütze Arbeit ansehen. Ganz abgesehen von dem Vergnügen einer angenehmen Lektüre, wird man hier [16] wenige Ereignisse finden, die nicht einer sittlichen Belehrung dienen könnten, und meiner Meinung nach erweist man dem Publikum einen beträchtlichen Dienst, wenn man es belehrt, indem man es unterhält.

Man kann nicht über die Vorschriften der Moral nachdenken, ohne mit Verwunderung zu bemerken, daß sie zu gleicher Zeit geschätzt und mißachtet werden, und man fragt sich, warum das menschliche Herz doch so seltsam ist, die Ideen des Guten und Vollkommenen zu lieben, um im wirklichen Leben ihnen aus dem Wege zu gehen. Wenn Menschen von einer gewissen Bildung und Kultur doch einmal prüfen wollten, womit sie sich am meisten in ihren Unterhaltungen oder auch in ihren einsamen Träumereien beschäftigen, so werden sie ohne weiteres bemerken, daß es fast immer moralische Betrachtungen sind. Es sind die köstlichsten Augenblicke ihres Lebens, wenn sie sich allein oder in Gesellschaft eines Freundes mit offenem Herzen unterhalten über den Zauber der Tugend, die Süßigkeit der Freundschaft, die Wege zum Glück, die Schwächen der Natur, die uns davon entfernen, und die Mittel, die diese Schwächen heilen können. Horaz und Boileau heben, wenn sie das Bild eines glücklichen Lebens entwerfen, eine solche Unterhaltung als einen der schönsten Züge hervor. Woher kommt es dann aber, daß man so leicht von der Höhe solcher Ideen hinabsinkt, bis man sich auf dem Niveau des Alltagsmenschen befindet? Ich glaube mich nicht zu [17] täuschen, wenn ich diesen Widerspruch zwischen unseren Ideen und unserer Lebensführung folgendermaßen erkläre: Die Vorschriften der Moral sind sehr unbestimmt und allgemein gehaltene Grundsätze, die man nur mit großer Schwierigkeit auf die besonderen Einzelheiten unserer Sitten und Handlungen anwenden kann.

Machen wir uns die Sache an einem Beispiel klar. Gut veranlagte Seelen fühlen, daß Milde und Menschenfreundlichkeit schätzenswerte Tugenden sind, und haben eine Neigung, sie auszuüben. Aber im Augenblick, da sie sie betätigen wollen, weichen sie unschlüssig zurück. Liegt hier auch wirklich ein Anlaß vor? Weiß ich, wieweit ich gehen soll? Täusche ich mich auch nicht über den Gegenstand?

Hundert Schwierigkeiten tun sich auf. Man möchte wohltätig und freigebig sein und fürchtet, betrogen zu werden. Man will nicht als Schwächling erscheinen, indem man zu weich und zu gefühlvoll ist. Mit einem Wort, man schwankt zwischen den Empfindungen, die Pflichten, die in den allgemeinen Begriffen der Menschlichkeit und Güte nur dunkel zum Ausdruck gebracht werden, entweder in übertriebenem Maße oder gar nicht auszuüben. In dieser Ungewißheit vermögen nur Erfahrung oder Beispiel den Trieb des Herzens vernünftig zu regeln. Aber die Erfahrung ist kein Vorzug, den sich jedermann, wie er will, verschaffen kann. Sie hängt von den verschiedenartigen[18] Verhältnissen ab, in die uns das Schicksal versetzt. Es bleibt also nur das Beispiel übrig, das der Mehrzahl der Menschen bei der Pflege der Tugend als Richtschnur dienen kann.

Grade für Leser von dieser Art nun können Bücher wie das vorliegende von äußerstem Nutzen sein, wenigstens wenn sie von einem ehrlichen und vernünftigen Menschen geschrieben sind. Jede Tatsache, die man berichtet, ist eine Stufe zur Einsicht, eine Unterweisung, die der eigenen Erfahrung hilft. Jedes Abenteuer ist Vorbild, nach dem man sich richten kann, denn es braucht nur den Umständen, in denen man sich befindet, angepaßt zu werden. So ist dieses ganze Werk eine moralische Abhandlung, die in unterhaltsame Übungen zerfällt.

Vielleicht wird ein sittenstrenger Leser daran Anstoß nehmen, daß ich in meinem Alter noch einmal die Feder zur Hand nahm, um über Abenteuer und Liebesereignisse zu schreiben; aber wenn die Erwägung, die ich soeben gemacht habe, begründet war, so bin ich gerechtfertigt. War sie falsch, dann diene es mir zur Entschuldigung, daß ich mich geirrt habe.

Fußnoten

1 ... daß man immer wisse, was

zu sagen ist, doch vieles, was sich auch

noch sagen ließe, jetzt zurückbehalte

und für den Platz, wo man's bedarf, verspare.

(Übersetzung von Cristoph Martin Wieland.)

Geschichte der Manon Lescaut

Erster Teil
[1] [3]Erster Teil.

Ich bin genötigt, den Leser bis zu jener Zeit meines Lebens zurückzuführen, da ich den Chevalier des Grieux zum erstenmal traf. Es war das etwa sechs Monate vor meiner Abreise nach Spanien. Obgleich ich nur selten aus meiner Einsamkeit heraustrat, so machte ich doch aus Gefälligkeit gegen meine Tochter verschiedene kleine Reisen, die ich so kurz wie möglich gestaltete.

Eines Tages kam ich von Rouen zurück. Sie hatte mich gebeten, vor dem normannischen Landtag ihre Rechte auf einige Güter zu vertreten, auf die sie durch meinen Großvater mütterlicherseits Ansprüche besaß. Ich machte meinen Rückweg über Evreux, wo ich zum erstenmal übernachtete, und kam am nächsten Tag zur Essenszeit nach Passy, das fünf oder sechs Meilen davon entfernt liegt. Zu meinem Erstaunen fand ich, als ich in dem Ort anlangte, die ganze Einwohnerschaft in großer Aufregung. Die Leute stürzten sich förmlich aus ihren Häusern und liefen [3] in Scharen nach dem Tor einer elenden Ausspannung, vor der zwei bedeckte Frachtwagen standen. Die Pferde waren noch angeschirrt, sie dampften vor Müdigkeit und Hitze, und man sah, daß sie soeben erst angekommen waren.

Ich hielt einen Augenblick an, um mich nach der Ursache des Auflaufs zu erkundigen, aber ich konnte von der neugierigen Bevölkerung keine Aufklärung bekommen. Die Leute beachteten meine Frage gar nicht, sondern drängten sich noch immer stoßend und lärmend nach der Ausspannung. Endlich sah ich einen Polizeisoldaten, der ein Bandelier trug und eine Flinte auf der Schulter hatte, an dem Tor, und ich winkte ihm mit der Hand, zu mir zu kommen. Ich bat ihn, mir den Grund zu dem Durcheinander mitzuteilen.

»Es ist nichts Wichtiges, mein Herr«, sagte er mir. »Wir haben hier nur ein Dutzend Freudenmädchen, die ich und meine Gefährten nach Havre de Grâce bringen, von wo sie nach Amerika eingeschifft werden. Es sind ein paar hübsche darunter, und das erregt offenbar das Interesse dieser biederen Landleute.«

Ich wäre mit dieser Erklärung weitergeritten, wenn mich nicht die Ausrufe einer alten Frau festgehalten hätten. Sie kam händeringend aus dem Gasthof und schrie, so etwas sei unmenschlich, da müßte einen ja Entsetzen und Mitleid überkommen.

»Was gibt es denn?« fragte ich sie.

[4] »Ach, mein Herr, kommen Sie herein,« sagte sie, »und sehen Sie selbst, ob ein solcher Anblick nicht herzzerreißend ist.«

Ich wurde jetzt doch neugierig und stieg vom Pferde, das ich meinem Stallknecht überließ. Nur mit Mühe konnte ich mich durch die Menge drängen und trat dann ins Haus, wo ich allerdings etwas sehr Ergreifendes sah.

Unter den zwölf Mädchen, die zu je sechs an der Taille zusammengekettet waren, befand sich eine, deren Gesicht und ganze Erscheinung so wenig zu ihrer augenblicklichen Lage zu passen schien, daß ich sie in jeder anderen Umgebung für eine Dame vom höchsten Rang gehalten hätte. Ihre Traurigkeit und der schmutzige Zustand ihrer Wäsche und ihrer Kleidung beeinträchtigten ihre Schönheit so wenig, daß ihr Anblick mir Achtung und Mitleid einflößte. Sie versuchte trotzdem, soweit es ihr die Kette erlaubte, sich abzuwenden, um ihr Gesicht vor den Blicken der Zuschauer zu verbergen. Die Bewegung, die sie machte, um sich zu verstecken, war so natürlich, daß sie aus einem Gefühl der Bescheidenheit zu kommen schien.

Da sich die sechs Wachtsoldaten, die diese unglückliche Schar begleiteten, ebenfalls im Zimmer befanden, nahm ich ihren Anführer zur Seite und bat ihn, mir etwas Genaueres über das Schicksal dieses schönen Mädchens mitzuteilen. Er konnte mir aber nur eine ganz allgemeine Auskunft geben.

[5] »Wir haben sie«, sagte er mir, »auf Anordnung des Herrn Polizeipräfekten aus dem Arbeitshaus geholt. Sicherlich war sie nicht wegen ihrer guten Aufführung dorthin gelangt. Ich habe sie unterwegs wiederholt ausgefragt, sie weigert sich aber hartnäckig, mir zu antworten. Obwohl ich nun keine Anweisung erhalten habe, sie mehr als die anderen zu schonen, habe ich ihr doch immer einige Erleichterungen zukommen lassen, denn sie scheint mir etwas besser zu sein, als ihre Gefährtinnen. Übrigens,« fügte der Beamte hinzu, »dort ist ein junger Mann, der Ihnen besser als ich über die Ursachen ihres Mißgeschicks Auskunft geben könnte. Er ist ihr von Paris aus gefolgt und hat kaum einen Augenblick aufgehört, zu weinen. Er muß entweder ihr Bruder oder ihr Geliebter sein.«

Ich wandte mich nach der Zimmerecke, wo dieser junge Mann saß. Er schien in tiefes Grübeln versunken zu sein. Niemals habe ich ein lebendigeres Bild des Schmerzes gesehen. Er war sehr einfach gekleidet, aber man erkannte auf den ersten Blick einen Mann von Stand und guter Erziehung. Ich näherte mich ihm. Er erhob sich, und ich entdeckte in seinem Blick, in seinen Gesichtszügen und in seinen ganzen Bewegungen etwas so Vornehmes und Edles, daß in mir unwillkürlich ein wohlwollendes Gefühl für ihn aufstieg.

»Hoffentlich störe ich Sie nicht«, sagte ich, indem ich mich neben ihn hinsetzte. »Möchten Sie wohl meine Neugierde [6] befriedigen, etwas über diese schöne Person zu erfahren, die mir durchaus nicht für den traurigen Zustand geschaffen scheint, in dem ich sie erblicke.«

Er antwortete mir aufrichtig, daß er mir nicht sagen könne, wer sie sei, ohne sich dabei auch zu nennen, und er habe bestimmte Gründe, unbekannt bleiben zu wollen. »Ich kann Ihnen aber trotzdem mitteilen, was diese Elenden da auch schon wissen«, fuhr er fort und wies auf die Polizisten. »Nämlich, ich liebe sie mit einer solchen heftigen Leidenschaft, daß ich dadurch zum unglücklichsten aller Menschen werde. Ich habe in Paris alles versucht, sie frei zu machen. Aber alle Rechtsgesuche, Schleichwege und Gewaltanwendungen waren vergebens, und so habe ich mich entschlossen, ihr zu folgen, selbst wenn es bis an das Ende der Welt geht. Ich werde mich mit ihr einschiffen und nach Amerika fahren.«

»Was aber das Unmenschlichste ist,« fügte er hinzu, indem er wieder auf die Polizisten wies, »diese feigen Halunken wollen mir nicht erlauben, mich ihr zu nähern. Ich hatte die Absicht, sie einige Meilen von Paris entfernt offen anzugreifen, und mich mit vier Mann verbunden, die mir für eine beträchtliche Summe ihre Hilfe versprochen hatten. Die Verräter ließen mich einfach im Stich und machten sich mit meinem Geld davon. Da es mir nun auf diese Weise unmöglich wurde, mit Gewalt etwas auszurichten, streckte ich die Waffen. Ich schlug aber den Polizisten [7] vor, mir wenigstens zu gestatten, ihnen zu folgen, wofür ich sie entschädigen wollte. Geldgierig stimmten sie zu. Sie wollten aber jedesmal bezahlt werden, wenn sie mir die Gelegenheit gewährten, mit meiner Geliebten zu sprechen. In kurzer Zeit hat sich meine Börse geleert, und jetzt, da ich keinen Sou mehr habe, stoßen sie mich brutal zurück, wenn ich einen Schritt auf sie zu mache. Erst vorhin, als ich mich ihr trotz ihrer Drohungen zu nähern wagte, besaßen sie die Unverschämtheit, eine Gewehrmündung auf mich zu richten. Um ihrer Habgier Genüge zu tun und den Weg zu Fuß fortsetzen zu können, bin ich gezwungen, hier ein armseliges Pferd, das mich bisher getragen hat, zu vekaufen.«

Obgleich er diesen Bericht scheinbar mit ziemlicher Ruhe gab, fielen ihm doch zum Schluß einige Tränen aus den Augen. Mir erschien sein ganzes Abenteuer ungewöhnlich seltsam und ergreifend.

»Ich dränge Sie nicht,« sagte ich zu ihm, »mir Ihr Geheimnis zu entdecken; aber wenn ich Ihnen in irgendeiner Beziehung nützlich sein kann, so stehe ich Ihnen ganz zur Verfügung.«

»Ach,« antwortete er, »ich sehe nicht den kleinsten Hoffnungsschimmer. Ich muß mich meinem Schicksal in seiner ganzen Strenge unterwerfen. Ich gehe daher nach Amerika; dort werde ich wenigstens frei sein mit der, die ich liebe. Ich habe an einen meiner Freunde geschrieben, [8] der mir in Havre de Grâce einige Hilfe erweisen wird. Meine einzige Sorge ist, glücklich dorthin zu gelangen und unterwegs diesem armen Geschöpf soviel Erleichterung wie möglich zu verschaffen.«

Damit warf er seiner Geliebten einen traurigen Blick zu.

»Ich will Ihre Sorgen erleichtern«, sagte ich. »Hier ist etwas Geld, nehmen Sie es, bitte, an. Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht in anderer Weise dienen kann.«

Ich gab ihm, ohne daß die Wächter es bemerken konnten, vier Louisdor, denn ich begriff wohl, daß sie ihm ihre Vergünstigungen viel teurer verkaufen würden, wenn sie es gewußt hätten. Mir kam sogar der Einfall, mit ihnen einen Handel abzuschließen, um dem jungen Liebenden die Erlaubnis zu verschaffen, bis Havre jederzeit mit seiner Geliebten reden zu können. Ich winkte also dem Anführer, zu mir zu kommen, und machte ihm einen entsprechenden Vorschlag. Trotz seiner Frechheit schien er sich etwas zu schämen.

»Nicht, daß wir uns weigern, mein Herr,« antwortete er mit verwirrter Miene, »ihn mit diesem Mädchen reden zu lassen. Aber er möchte am liebsten immerfort bei ihr sein, und das wird uns unbequem. Da ist es doch nicht mehr wie recht, daß er uns etwas für diese Unbequemlichkeit bezahlt.«

»Gut,« sagte ich zu ihm, »wieviel wäre dann nötig, um Ihnen diese Unbequemlichkeit weniger fühlbar zu machen?«

[9] Er besaß die Dreistigkeit, zwei Louisdor zu verlangen; ich gab sie ihm sofort.

»Aber nehmen Sie sich wohl in acht,« sagte ich zu ihm, »daß Sie mich nicht betrügen. Ich werde diesem jungen Mann meine Adresse geben, damit er mir darüber berichten kann, und seien Sie überzeugt, daß ich wohl in der Lage bin, Sie zur Rechenschaft zu ziehen.«

Die Sache kostete mich also sechs Louisdor.

Der vornehme Anstand und die aufrichtige Erkenntlichkeit, mit der dieser junge Unbekannte mir dankte, brachten mich zu der Überzeugung, daß er von edler Herkunft war und meine Freigebigkeit wohl verdiente. Ehe ich ging, sprach ich auch noch einige Worte mit seiner Geliebten. Sie antwortete mir mit einer so sanften und anmutigen Bescheidenheit, daß mir beim Weiterreiten unwillkürlich tausend Gedanken über den unbegreiflichen Charakter der Frauen kamen.

Ich langte wieder in meiner Einsamkeit an und erhielt keine Nachrichten über den weiteren Verlauf dieses Abenteuers. Es vergingen dann fast zwei Jahre, und ich hatte es gänzlich vergessen, als der Zufall mir Gelegenheit gab, einen genauen Bericht darüber in allen Einzelheiten kennenzulernen.

Ich war mit meinem Schüler, dem Marquis de ***, von London nach Calais gekommen und, wenn ich mich recht erinnere, im »Goldenen Löwen« abgestiegen, wo uns [10] bestimmte Gründe zwangen, den ganzen Tag und die folgende Nacht zu verbringen. Als ich des Nachmittags durch die Straßen schlenderte, glaubte ich denselben jungen Menschen zu erkennen, mit dem ich das Zusammentreffen in Passy gehabt hatte. Er befand sich in sehr schlechter Kleidung und war viel blasser, als ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Offenbar war er gerade in der Stadt angekommen, denn er trug unter dem Arm ein altes Felleisen. Da er aber ein so schönes Gesicht hatte, das man nicht so leicht vergaß, wußte ich sofort, mit wem ich es zu tun hatte.

»Wir müssen diesen jungen Mann ansprechen«, sagte ich zu dem Marquis.

Seine Freude war fast unbeschreiblich, als er mich ebenfalls erkannte.

»Ach, mein Herr,« rief er und küßte mir die Hand, »ich kann Ihnen also doch noch einmal meine unauslöschliche Dankbarkeit aussprechen!«

Ich fragte ihn, woher er käme. Er sagte mir, er käme zu Schiff von Havre de Grâce, wohin er vor kurzem aus Amerika zurückgekehrt wäre.

»Sie scheinen mir nicht in sehr guten Geldumständen zu sein«, sagte ich zu ihm. »Gehen Sie zum ›Goldenen Löwen‹, wo ich auch wohne. Ich werde Sie dort sofort treffen.«

Ich kehrte dann auch wirklich um, denn ich war voller [11] Neugierde, die Einzelheiten seines Mißgeschicks und die Umstände seiner Amerikareise zu erfahren. Ich erwies ihm tausend Aufmerksamkeiten und gab Anweisung, es ihm an nichts fehlen zu lassen. Er wartete nicht ab, bis ich ihn bat, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen.

»Mein Herr,« sagte er, »Sie haben so edel an mir gehandelt, daß ich es mir als eine abscheuliche Undankbarkeit anrechnen müßte, wenn ich Ihnen irgend etwas von mir verheimlichte. Ich will Ihnen daher nicht nur mein Unglück und meine Leiden erzählen, sondern auch meine Fehler und meine schändlichsten Schwächen. Ich bin sicher, wenn Sie mich auch verdammen, so werden Sie doch zugleich auch nicht umhin können, mich zu beklagen.«

Ich muß hier dem Leser mitteilen, daß ich seine Geschichte fast sofort, nachdem ich sie hörte, niederschrieb, und daß es daher sicherlich nichts Genaueres und Wahrheitsgetreueres geben kann als diese Erzählung. Ich gebe auch ebenso wahrheitsgetreu die Ge danken und Gefühle wieder, die der junge Abenteurer in der elegantesten Form von der Welt zum Ausdruck brachte.

Hier folgt also sein Bericht, dem ich bis zur letzten Zeile nichts hinzufüge, was nicht von ihm ist:

Ich war siebzehn Jahre alt und beendete die oberste Klasse auf dem Gymnasium zu Amiens, wohin mich meine Eltern, die zu einer der ersten Familien von P*** [12] gehören, geschickt hatten. Ich führte ein so besonnenes und geregeltes Leben, daß mich meine Lehrer für ein Musterbeispiel des Gymnasiums erklärten. Nicht, daß ich mir besondere Mühe gab, diese Lobsprüche zu verdienen, aber ich besaß von Natur eine sanfte und ruhige Veranlagung und eine besondere Neigung zum Studieren, so daß man mir meine natürliche Abneigung gegen das Laster als Tugend anrechnete. Meine Herkunft, der Erfolg meiner Studien und einige äußerliche Vorzüge brachten mir die Bekanntschaft und Achtung aller besseren Leute der Stadt.

Die öffentliche Prüfung bestand ich mit so allgemeinem Beifall, daß der Herr Bischof, der ihr beiwohnte, mir vorschlug, mich dem geistlichen Stand zu widmen, in dem ich mir, wie er sagte, größere Auszeichnung verschaffen würde als in dem Malteserorden, für den mich meine Eltern bestimmt hatten. Sie ließen mich schon das Malteserkreuz tragen unter dem Namen eines Chevalier des Grieux. Als die Ferien kamen, traf ich meine Vorbereitungen, zu meinem Vater zurückzukehren, der versprochen hatte, mich bald auf die Ritterakademie zu schicken.

Beim Abschied von Amiens war es mein einziges Bedauern, daß ich dort einen Freund zurückließ, mit dem ich immer aufs zärtlichste vereinigt gewesen war. Er zählte einige Jahre mehr als ich, und wir waren zusammen erzogen worden. Da aber seine Familie nur wenig begütert war, hatte er nur die Wahl, sich dem geistlichen Stande [13] zu widmen, und er mußte in Amiens zurückbleiben, um hier die zu diesem Beruf nötigen Studien zu betreiben. Er hatte unendlich viele gute Eigenschaften, seine besten werden Sie im Verlauf meiner Geschichte kennenlernen, in der vor allem seine Hingabe und sein Edelmut alles übertreffen. Hätte ich damals seinen Rat befolgt, dann wäre ich immer weise und glücklich geblieben. Und selbst in dem Abgrund, in den mich meine Leidenschaften gestürzt haben, hätte ich immer noch etwas aus dem Schiffbruch meines Vermögens und meines Rufs gerettet, wenn ich dann wenigstens aus seinen Vorwürfen Nutzen gezogen hätte. Aber für alle seine Bemühungen hat er nur den Schmerz geerntet, einzusehen, daß sie umsonst waren und manchmal übel belohnt wurden durch einen Undankbaren, der sie übelnahm oder sie als Zudringlichkeiten auffaßte.

Ich hatte die Zeit meiner Abreise von Amiens fest gesetzt. Ach, warum setzte ich sie nicht für einen Tag früher fest! Dann hätte ich meinem Vater meine ganze Unschuld zurückgebracht. Es war gerade am Tage vor meiner festgesetzten Abreise aus der Stadt, und ich schlenderte mit meinem Freund, der Tiberge hieß, durch die Straßen, als wir den Postwagen aus Arras ankommen sahen, und ihm zu dem Gasthof, wo diese Wagen halten, folgten. Uns trieb dabei nichts anderes als die Neugierde. Verschiedene Frauen stiegen aus und verschwanden dann. [14] Eine aber, eine sehr junge, blieb allein auf dem Hof, während ein Mann von vorgerücktem Alter, der ihr als Führer zu dienen schien, bemüht war, ihr Gepäck herauszuschaffen. Sie erschien mir so reizend, daß ich, der ich niemals an die Verschiedenheit der Geschlechter gedacht, noch ein Mädchen mit irgendwelcher Aufmerksamkeit betrachtet hatte, daß ich, dessen Vernünftigkeit und Zurückhaltung von aller Welt bewundert wurde, plötzlich bis zum Wahnsinn entflammt wurde. Ich besaß den Fehler, daß ich außerordentlich schüchtern und leicht aus der Fassung zu bringen war, aber in diesem Augenblick verspürte ich von meiner Schwäche durchaus nichts und ging ohne weiteres auf die Herrin meines Herzens zu.

Obgleich sie noch jünger war als ich, nahm sie meine Höflichkeiten ohne bemerkbare Verlegenheit entgegen. Ich fragte sie, warum sie nach Amiens käme, und ob sie hier Bekannte hätte. Sie antwortete mir unbefangen, ihre Eltern schickten sie hierher, damit sie Nonne würde. Die Liebe hatte mich in dem Augenblick, seit sie von mir Besitz genommen, schon so erleuchtet, daß ich diese Absicht als einen tödlichen Schlag für meine Wünsche empfand. Ich sprach zu ihr in einer Art, die ihr meine Gefühle wohl verständlich machte, denn sie war viel erfahrener als ich. Man schickte sie ja gerade deshalb ins Kloster, um ihrem Hang zum Vergnügen entgegenzutreten, der sich schon damals bei ihr gezeigt hatte, und der in der Folge ihr [15] und mein Unglück herbeiführen sollte. Ich bekämpfte die grausame Absicht ihrer Eltern mit allen Gründen, die meine wachsende Liebe und meine scholastische Beredsamkeit mir nur eingeben konnten.

Sie zeigte sich weder streng noch abweisend. Sie sagte mir nach einem Augenblick des Schweigens, daß sie nur zu gut voraussähe, wie unglücklich sie sein würde, aber daß das wohl offenbar der Wille des Himmels sei, indem er ihr keine Möglichkeit ließe, diesem Schicksal auszuweichen. Ihre sanften Blicke, der Zauber ihres traurigen Gesichts, während sie dieses sagte, vielleicht auch mein böses Gestirn, das mich ins Verderben ziehen wollte, gestatteten mir nicht, einen Augenblick mit meiner Antwort zu zögern. Ich versicherte ihr, wenn sie sich ein wenig auf meine Ehre und auf die unendliche Neigung, die sie mir schon jetzt einflößte, verlassen wollte, dann würde ich mein Leben daran setzen, sie aus der Tyrannei ihrer Eltern zu befreien und glücklich zu machen.

Ich habe mich später, wenn ich darüber nachdachte, unendlich oft verwundert, woher mir damals diese Kühnheit und Gewandtheit im Ausdruck kam. Aber man hätte nie aus der Liebe eine Gottheit gemacht, wenn sie nicht manchmal Wunder wirkte. Ich fügte noch tausend beschwörende Worte hinzu.

Meine schöne Unbekannte wußte gut, daß man in meinem Alter kein Betrüger ist. Sie gestand mir, wenn [16] ich eine Möglichkeit sähe, sie zu befreien, daß sie mir dann Köstlicheres als ihr Leben schuldig zu sein glaubte. Ich wiederholte ihr, ich sei bereit, alles zu unternehmen. Da ich aber nicht genug Erfahrung besaß, um mir plötzlich einen Weg, ihr zu helfen, auszudenken, verharrte ich bei dieser unbestimmten Versicherung, die weder ihr noch mir viel helfen konnte.

Ihr bejahrter Argus war inzwischen zu uns herangetreten, und alle meine Hoffnungen wären zu nichts zerronnen, hätte sie nicht genügend Witz gehabt, um der Unfruchtbarkeit meines eigenen zu helfen. Zu meinem Staunen redete sie mich bei der Ankunft ihres Führers mit Vetter an und sagte mir ohne den geringsten Anschein irgendeiner Verlegenheit, sie sei sehr glücklich, mich hier in Amiens getroffen zu haben. Sie wollte deshalb ihren Eintritt ins Kloster auf den nächsten Tag verschieben, um das Vergnügen zu genießen, mit mir zu Abend zu speisen. Ich verstand sehr gut den Sinn dieser List und schlug ihr vor, in einem Gasthof zu übernachten, dessen Besitzer sich in Amiens niedergelassen hatte, nachdem er lange Zeit bei meinem Vater Kutscher gewesen, und der mir in jeder Beziehung ergeben war.

Ich führte sie selbst dorthin, während der alte Begleiter ein wenig zu murren schien, und mein Freund Tiberge, der überhaupt nichts von diesem Vorgang begriff, ohne ein Wort zu sprechen, folgte. Unsere Unterhaltung hatte [17] er nicht gehört, da er, während ich meiner schönen Gebieterin Liebesworte zuflüsterte, im Hofe auf und ab ging. Da ich mich vor seiner Sittsamkeit fürchtete, entledigte ich mich seiner, indem ich ihn um eine Besorgung bat. So hatte ich also das Vergnügen, als ich zur Herberge kam, die Königin meines Herzens allein zu unterhalten.

Ich erkannte bald, daß ich weniger Kind war, als ich es zu sein glaubte. Mein Herz öffnete sich tausend Empfindungen der Lust, von denen ich niemals etwas geahnt hatte. Eine süße Glut durchrann alle meine Adern. Ich befand mich in einem Zustand der Verzücktheit, die mich manchmal des Gebrauchs der Sprache beraubte, und der ich nur durch meine Blicke Ausdruck geben konnte.

Fräulein Manon Lescaut, denn das war, wie sie mir erzählte, ihr Name, schien von diesem Eindruck ihrer Reize sehr befriedigt zu sein. Wie ich zu bemerken glaubte, war sie nicht weniger bewegt als ich. Sie gestand mir, daß sie mich liebenswert fände und entzückt sein würde, mir ihre Freiheit zu verdanken. Sie wollte wissen, wer ich sei, und diese Kenntnis vermehrte noch ihre Zuneigung, denn sie war nur von gewöhnlicher Herkunft und fühlte sich geschmeichelt, einen solchen Geliebten, wie ich es war, erobert zu haben. Wir unterhielten uns über die Möglichkeiten, einander anzugehören.

Nach allen möglichen Erwägungen fanden wir kein anderes Mittel als das der Flucht. Wir mußten die[18] Wachsamkeit des Begleiters täuschen, der zwar nur ein Bedienter, aber durchaus kein dummer Mensch war. Wir einigten uns dahin, daß ich während der Nacht einen Reisewagen bereitstellen und in aller Frühe zurückkommen sollte, ehe man im Gasthof wach war. Dann wollten wir uns still davonmachen und geradeswegs nach Paris fahren, um uns dort trauen zu lassen. Ich besaß ungefähr fünfzig Taler, die die Frucht meiner kleinen Ersparnisse waren; sie hatte etwa das Doppelte. Als unerfahrene Kinder bildeten wir uns ein, daß diese Summe nie ein Ende nehmen könnte, und in gleichem Maße waren wir von dem Erfolg unserer sonstigen Pläne überzeugt.

Nachdem ich mit einem Genuß, wie ich ihn nie vorher empfunden, zu Abend gespeist hatte, zog ich mich zurück, um unseren Plan in die Wege zu leiten. Meine Maßnahmen waren um so leichter auszuführen, weil ich ja die Absicht hegte, am nächsten Tag zu meinem Vater zurückzukehren, und mein kleines Gepäck schon fertiggemacht war. Ich brauchte also nur meinen Koffer forttragen zu lassen und für fünf Uhr einen Wagen zu bestellen. Um diese Zeit mußten die Stadttore schon geöffnet sein. Aber nun fand ich ein Hindernis, an das ich nicht gedacht hatte, das aber um ein Haar meinen ganzen Plan vereitelt hätte.

Tiberge war zwar nur drei Jahre älter als ich, aber doch schon ein ziemlich gereifter Mensch von sehr beherrschter [19] Lebensführung. Er liebte mich mit einer außerordentlichen Zärtlichkeit, und der Anblick eines so hübschen Mädchens, wie es Fräulein Manon war, meine Beflissenheit, sie zu begleiten, und dann der auffallende Eifer, mit dem ich ihn fortgeschickt, hatten in ihm doch einigen Argwohn wegen meiner Liebe erweckt. Er hatte es nicht gewagt, in den Gasthof, wo er mich allein gelassen, zurückzukehren, denn er fürchtete, mich durch sein Erscheinen zu kränken. Aber er war zu meiner Wohnung gegangen, um dort auf mich zu warten, und ich fand ihn auch noch da, obgleich es bei meiner Ankunft schon zehn Uhr war. Seine Anwesenheit machte mich verdrießlich, was er leicht an meinem gezwungenen Wesen bemerkte.

»Ich bin überzeugt,« sagte er mir ganz offen, »daß du über einen Plan nachdenkst, den du vor mir verbergen willst. Ich sehe es an deinem Gesicht.«

Ich antwortete ihm ziemlich barsch, ich sei nicht verpflichtet, ihm über alle meine Pläne Rechenschaft zu geben.

»Gewiß nicht,« fuhr er fort. »Aber bisher hast du mich immer als einen Freund behandelt, und eine solche Eigenschaft setzt etwas Vertrauen und Offenheit voraus.«

Er drängte mich so stark und so anhaltend, ihm mein Geheimnis zu entdecken, daß ich, da ich ihm nie etwas verhehlt hatte, auch meine Liebe voll und ganz gestand. Er nahm meine Beichte mit einer so ausgesprochenen [20] Mißbilligung auf, daß ich unwillkürlich erzitterte. Ich bereute sofort meine Offenherzigkeit, mit der ich ihm meinen Fluchtplan mitgeteilt hatte.

Er sagte mir, er sei zu sehr mein Freund, um sich dem nicht mit all seinen Kräften zu widersetzen. Zunächst einmal wolle er mir alle Gründe vorhalten, die mich vielleicht noch umstimmen könnten. Wenn ich dann aber nicht von meinem abscheulichen Entschluß zurückträte, dann würde er Leute benachrichtigen, die der Sache ein Ende für immer machen könnten. Er hielt mir nun eine ernsthafte Strafrede, die über eine Viertelstunde dauerte und mit der Drohung endete, mich anzuzeigen, wenn ich ihm nicht mein Wort gäbe, mich anständiger und vernünftiger aufzuführen.

Ich war verzweifelt, mich so zur Unzeit verraten zu haben. Aber die Liebe hatte in den zwei oder drei Stunden meinen Verstand schon ziemlich geschärft, und da mir einfiel, daß ich ihm von der Absicht, meinen Plan schon am nächsten Morgen auszuführen, noch nichts gesagt hatte, so beschloß ich, ihn durch eine Doppelzüngigkeit zu täuschen.

»Tiberge,« sagte ich zu ihm, »ich glaube, daß du bis jetzt mein Freund gewesen bist, und ich wollte das durch mein Vertrauen erproben. Es ist wahr, daß ich verliebt bin, ich habe dir nur die Wahrheit gesagt. Was aber meine Flucht angeht, so ist das ein Unternehmen, das [21] man nicht unüberlegt durchführen darf. Komme mich morgen früh um neun Uhr abholen, ich will dich meiner Geliebten vorstellen, und du sollst selbst urteilen, ob sie es verdient, daß ich diesen Schritt für sie tue.«

Er verließ mich nach unendlichen Freundschaftsbeteuerungen.

Ich verbrachte die Nacht damit, alle meine Angelegenheiten zu ordnen, und als ich bei Tagesgrauen nach dem Gasthof zu Fräulein Manon ging, fand ich sie schon auf mich wartend. Sie stand an ihrem Fenster, das nach der Straße hinausging, so daß sie, als sie mich bemerkte, selbst kam, um mir zu öffnen. Geräuschlos verließen wir das Haus. Sie hatte kein anderes Gepäck als ihre Wäsche, die ich selbst trug. Der Wagen stand zur Abfahrt bereit, und wir entfernten uns schnell aus der Stadt.

Später werde ich berichten, was Tiberge tat, als er entdeckte, daß ich ihn getäuscht hatte. Sein Eifer für mich verlor dadurch nicht an Glut. Sie werden sehen, wie weit er ihn trieb, und wieviele Tränen ich vergießen mußte bei dem Gedanken, wie übel ich ihm vergolten habe.

Wir beeilten uns so sehr, weiterzukommen, daß wir noch vor Einbruch der Nacht in Saint-Denis anlangten. Ich war neben dem Wagen hergeritten, weswegen wir uns nur unterhalten konnten, wenn die Pferde gewechselt wurden. Aber jetzt, da wir uns so nahe bei Paris und damit sozusagen in Sicherheit befanden, nahmen wir uns [22] die Zeit, uns zu erfrischen, denn wir hatten seit unserer Abreise von Amiens noch nichts gegessen. So leidenschaftlich verliebt ich in Manon war, sie wußte mich doch zu überreden, daß sie nicht minder in mich verliebt sei. Wir hielten mit unseren Zärtlichkeiten so wenig zurück, daß wir gar nicht die Geduld hatten, zu warten, bis wir allein waren. Die Kutscher und Wirte sahen uns kopfschüttelnd an, und ich bemerkte, wie erstaunt sie waren, zwei Kinder unseres Alters sich bis zur Raserei lieben zu sehen.

Unseren Vorsatz, uns zu heiraten, vergaßen wir in Saint-Denis. Wir setzten uns über die Rechte der Kirche hinweg und waren Gatten, ehe wir noch weiter darüber nachgedacht hatten. Bei meiner zärtlichen und beständigen Veranlagung wäre ich sicherlich für mein ganzes Leben glücklich geblieben, wenn mir Manon die Treue bewahrt hätte. Je mehr ich sie kennenlernte, desto zahlreichere liebenswürdige Eigenschaften entdeckte ich an ihr. Ihr Verstand, ihr Herz, ihre Sanftmut und Schönheit umwanden mich mit so starken und süßen Fesseln, daß ich es als mein höchstes Glück betrachtet hätte, mich niemals von ihnen zu befreien. Wie furchtbar sollte sich das ändern! Das, was mir die Verzweiflung brachte, hätte mir das Glück bringen können. Ich bin der unglückseligste aller Menschen geworden gerade durch dieselbe Anhänglichkeit, von der ich das süßeste Schicksal und das vollkommenste Glück in der Liebe hätte erwarten dürfen.

[23] In Paris nahmen wir eine möblierte Wohnung. Sie lag in der Rue V... und zu meinem Unglück neben dem Hause des Herrn de B***, des bekannten Steuerpächters. Drei Wochen vergingen, während derer ich so von meiner Leidenschaft erfüllt war, daß ich wenig an meine Familie dachte und an den Kummer, den mein Vater über meine Abwesenheit empfinden mußte. Da ich aber trotz meiner Ausschweifung sonst sehr ruhig lebte, und auch Manon sich zurückhaltend betrug, so führte diese Stille unseres Daseins mich allmählich doch dahin, daß ich mich an meine Pflicht erinnerte.

Ich beschloß, mich, wenn es möglich war, mit meinem Vater auszusöhnen. Meine Geliebte war so liebenswürdig, daß ich nicht daran zweifelte, daß sie ihm gefallen würde, wenn ich nur ein Mittel fände, ihn von ihren geistigen und sonstigen Vorzügen zu überzeugen. Mit einem Wort, ich schmeichelte mir, seine Erlaubnis zur Heirat zu bekommen, nachdem meine Hoffnung, sie ohne diese Zustimmung zu heiraten, enttäuscht worden war. Ich teilte nun Manon meine Absicht mit und gab ihr zu verstehen, daß mich außer den Gefühlen der Liebe und Pflicht auch die Not dazu triebe, denn unser Geldvorrat hatte sehr schnell abgenommen, und ich glaubte nicht mehr daran, daß er unerschöpflich sei.

Manon nahm diesen Vorschlag kühl auf, doch kamen ihre Einwendungen nur aus ihrer großen Zärtlichkeit [24] und aus ihrer Furcht, mich zu verlieren. Denn, wenn mein Vater erst unsern Zufluchtsort kannte und nicht auf unsere Absicht einging, dann war nicht im geringsten daran zu zweifeln, welches grausame Verhängnis mir drohte. Auf meinen Einwand, die Not zwinge uns dazu, antwortete sie, wir hätten ja immer noch für einige Wochen zu leben, und nachher würde ihr schon die Zuneigung verschiedener Verwandten in der Provinz, an die sie schreiben wollte, einige Mittel verschaffen. Sie versüßte mir ihre Weigerung durch so hingebende und leidenschaftliche Zärtlichkeiten, daß ich, der ich nur in ihr lebte und nicht das geringste Mißtrauen gegen sie hegte, alle ihre Antworten und Entschlüsse billigte.

Ich hatte ihr die Verfügung über unser Geld und die Sorge, unsere gewöhnlichen Ausgaben zu bezahlen, überlassen. Allmählich bemerkte ich, daß unser Tisch besser bestellt war, und daß sie sich einige Kleidungsstücke von beträchtlichem Wert angeschafft hatte. Da ich wohl wußte, daß wir höchstens noch zwölf oder fünfzehn Pistolen besitzen konnten, äußerte ich mein Erstaunen über diese offenbare Vermehrung unseres Wohlstandes. Lachend bat sie mich, mir darüber keine Sorgen zu machen.

»Habe ich dir nicht versprochen,« sagte sie, »Geldquellen zu finden?«

Ich liebte sie mit viel zu großer Arglosigkeit, um so leicht einen wirklichen Verdacht zu schöpfen.

[25] Eines Nachmittags war ich mit dem Bescheid ausgegangen, daß ich länger als gewöhnlich fortbleiben würde, und wunderte mich bei der Rückkehr sehr, weil man mich zwei oder drei Minuten an der Tür warten ließ. Wir hatten ein kleines Mädchen zur Bedienung, das ungefähr von unserem Alter war. Als sie mir endlich öffnete, fragte ich sie, warum sie so lange gezögert hätte. Sie antwortete mir mit verwirrter Miene, sie hätte mein Klopfen überhört.

»Aber, wenn du mich nicht gehört hast,« sagte ich, »warum hast du mir dann überhaupt geöffnet?«

Ich hatte nämlich überhaupt nur einmal geklopft.

Meine Frage setzte sie in eine solche Verlegenheit, daß sie nicht genügend Geistesgegenwart zu einer Ausrede fand. Sie begann zu weinen und versicherte mir, es sei nicht ihr Fehler, denn die gnädige Frau habe ihr verboten, zu öffnen, ehe nicht Herr de B*** sich über die zur Wohnung gehörige Hintertreppe entfernt hätte.

Ich wurde jetzt so verwirrt, daß ich nicht die Kraft hatte, die Wohnung zu betreten. Ich beschloß, wieder hinabzusteigen, indem ich vorgab, mir sei noch eine Besorgung eingefallen. Ich gebot dem Mädchen, seiner Herrin zu sagen, ich käme im Augenblick zurück, sie sollte ihr aber nichts davon mitteilen, daß sie mit mir über Herrn de B*** gesprochen hätte.

Meine Bestürzung war so groß, daß ich Tränen vergoß, [26] während ich noch die Treppe hinabstieg, und ich wußte nicht einmal, welchem Gefühl diese Tränen entstammten. Ich betrat das erste beste Kaffeehaus, setzte mich an einen Tisch und stützte den Kopf auf meine Hände, um mir klar zu werden, was in mir vorging. Ich wagte kaum an das zu denken, was ich so eben erfahren hatte. Ich wollte es als eine Sinnestäuschung ansehen, und zwei- oder dreimal war ich nahe daran, nach der Wohnung zurückzukehren und mich zu stellen, als ob ich gar nichts gehört hätte. Es erschien mir so unmöglich, daß Manon mich verraten hätte, daß ich sogar in der bloßen Vermutung eine Beleidigung für sie sah. Ich betete sie an, das war sicher, und ich hatte ihr nicht mehr Beweise meiner Liebe gegeben, als ich von ihr empfangen hatte. Wie kam ich dazu, sie zu beschuldigen, sie sei weniger aufrichtig und treu als ich selber? Welchen Grund hätte sie auch gehabt, mich zu betrügen? Es war erst drei Stunden her, seit sie mich mit den zärtlichsten Liebkosungen überschüttet und die meinigen mit Entzücken empfangen hatte. Ich kannte mein eigenes Herz nicht besser als das ihrige.

»Nein, nein«, sagte ich zu mir. »Es ist unmöglich, daß Manon mich verraten hat. Sie hat keinen Grund, mich zu hassen.«

Trotzdem machten mir der Besuch und der schnelle Aufbruch des Herrn de B*** Gedanken. Mir fielen auch [27] die kleinen Anschaffungen Manons ein, die nicht zu unseren augenblicklichen Geldverhältnissen zu passen schienen. Und das Geständnis, das sie mir über Geldquellen gemacht hatte, die mir unbekannt waren? Ich hatte Mühe, so vielen Rätselfragen eine so günstige Auslegung zu geben, wie sie mein Herz er sehnte.

Andererseits hatte ich sie, seit wir uns in Paris befanden, fast niemals aus den Augen verloren. Bei allen Geschäften, Spaziergängen, Zerstreuungen waren wir immer zusammen gewesen, denn schon eine kurze Trennung hätte uns allzusehr betrübt. Wir mußten uns ja unaufhörlich sagen, daß wir uns liebten, und wären sonst vor Unruhe gestorben. Ich konnte mir daher fast keinen einzigen Augenblick denken, in dem sich Manon mit jemand anderem als mit mir hätte beschäftigen können.

Schließlich glaubte ich die Lösung des Geheimnisses gefunden zu haben. »Herr de B***«, sagte ich zu mir, »ist ein großer Geschäftsmann, der viele Beziehungen hat. Die Verwandten Manons werden sich seiner bedient haben, um ihr etwas Geld zukommen zu lassen. Vielleicht hat sie schon welches von ihm erhalten, und heute kam er, um ihr neues zu bringen. Zweifellos hat sie mir das absichtlich verheimlicht, um mir eine angenehme Überraschung zu bereiten. Vielleicht hätte sie auch schon mit mir darüber gesprochen, wenn ich in gewohnter Weise zurückgekommen wäre, statt mich hierhin zu setzen und trübe Gedanken [28] zu hegen. Sie wird es mir um so weniger verschweigen, da ich einfach selbst mit ihr darüber sprechen will.«

Ich durchdrang mich so stark mit dieser Meinung, daß meine Traurigkeit dadurch merklich gemildert wurde, und kehrte sofort in meine Wohnung zurück. Ich umarmte Manon mit gewohnter Zärtlichkeit, und sie empfing mich sehr liebenswürdig. Anfangs war ich geneigt, ihr meine Vermutungen, von deren Richtigkeit ich jetzt fest überzeugt war, mitzuteilen. Ich hielt mich aber zurück in der Hoffnung, daß sie mir vielleicht zuvorkommen würde, indem sie mir alles, was geschehen war, erzählte.

Das Abendessen wurde aufgetragen, und ich setzte mich mit sehr fröhlicher Miene zu Tisch. Aber beim Schein der Kerze, die zwischen ihr und mir stand, glaubte ich im Gesicht und in den Augen meiner Geliebten eine gewisse Traurigkeit zu bemerken. Diese Beobachtung machte mich ebenfalls traurig. Mir fiel auf, daß ihre Blicke in einer ganz anderen Art als sonst auf mich gerichtet waren, aber ich konnte nicht unterscheiden, ob dies Liebe oder Mitleid war. Jedenfalls schien es mir ein süßes, schmachtendes Gefühl zu sein. Ich betrachtete sie mit derselben Aufmerksamkeit, und vielleicht hatte sie die gleiche Mühe, an meinen Blicken den Zustand meines Herzens zu erraten. Wir dachten weder an Sprechen noch an Essen. Endlich sah ich, wie Tränen aus ihren schönen Augen fielen: heuchlerische Tränen!

[29] »Ach, mein Gott!« rief ich aus. »Du weinst, liebe Manon? Du bist bis zu Tränen betrübt und sagst mir mit keinem Wort, was dir fehlt?«

Sie antwortete nur mit einigen Seufzern, die meine Unruhe noch vermehrten. Zitternd erhob ich mich und beschwor sie mit dem innigsten Ausdruck meiner Liebe, mir die Ursache ihres Weinens zu entdecken. Ich vergoß dabei selbst Tränen und trocknete die ihrigen. Ich war überhaupt mehr tot als lebendig. Ein Barbar wäre durch die Äußerungen meines Schmerzes und meiner Besorgnisse gerührt worden.

Während ich so ganz mit ihr beschäftigt war, hörte ich, daß mehrere Menschen die Treppe heraufkamen. Man klopfte leise an die Tür. Manon gab mir einen Kuß, und indem sie sich schnell aus meinen Armen losriß, trat sie in das Schlafzimmer, das sie sofort hinter sich zuschloß. Ich glaubte, sie wollte sich, da ihr Kleid etwas in Unordnung geraten war, vor den Augen der Fremden, die angeklopft hatten, verbergen. Ich öffnete ihnen selbst.

Kaum hatte ich die Tür aufgemacht, als ich mich von drei Männern ergriffen sah, die ich als Bediente meines Vaters erkannte. Sie behandelten mich behutsam, aber während zwei mich an den Armen festhielten, untersuchte der dritte meine Taschen und nahm ein kleines Messer heraus, den einzigen eisernen Gegenstand, den ich bei mir [30] hatte. Sie entschuldigten sich wegen der Notwendigkeit, den Respekt gegen mich zu vergessen, und sagten mir geradeheraus, daß sie auf Befehl meines Vaters handelten, und daß mich mein älterer Bruder unten in einem Wagen erwarte.

Ich war so verwirrt, daß ich mich ohne Widerstand, und ohne etwas zu antworten, wegführen ließ. Mein Bruder erwartete mich wirklich. Man setzte mich neben ihn in den Wagen, und der Kutscher, der schon Bescheid wußte, fuhr uns in schneller Fahrt nach Saint-Denis. Mein Bruder hatte mich zärtlich umarmt, aber er sprach nicht zu mir, so daß ich völlige Freiheit genoß, nach Belieben über mein Mißgeschick zu grübeln.

Ich befand mich zunächst in einem solchen Dunkel, daß ich auch nicht auf die geringste Mutmaßung kam. Ein grausamer Verrat war an mir begangen worden, aber durch wen? Tiberge war der erste, der mir einfiel.

»Verräter«, sagte ich. »Es ist um dein Leben geschehen, wenn sich mein Verdacht bestätigt.«

Aber dann fiel mir ein, daß er ja gar nichts von meinem Aufenthaltsort wußte und ihn daher unmöglich hatte verraten können. Manon zu verdächtigen, wäre etwas gewesen, dessen sich mein Herz niemals schuldig gemacht hätte. Zwar die ungewöhnliche Traurigkeit, die ich an ihr entdeckt hatte, ihre Tränen und der zärtliche Kuß, den sie mir gegeben, ehe sie sich zurückzog, erschienen [31] mir ziemlich rätselhaft, aber ich erklärte mir das alles schließlich als eine Art Vorgefühl unseres gemeinsamen Unglücks, und die ganze Zeit über, während ich über das Ereignis, das mich von ihr getrennt hatte, fast verzweifelte, war ich blind genug, mir einzubilden, daß sie noch mehr zu beklagen sei als ich.

Das Ergebnis meines Nachdenkens war, daß ich mir einredete, irgendein Bekannter hätte mich in den Straßen von Paris gesehen und meinem Vater davon Mitteilung gemacht. Dieser Gedanke tröstete mich. Ich rechnete darauf, mit einigen Vorwürfen und etwas strenger Behandlung, die mir die väterliche Autorität auferlegen würde, davonzukommen. Ich beschloß, sie ruhig zu ertragen und alles zu versprechen, was man von mir verlangte, um desto leichter bei der erstbesten Gelegenheit nach Paris zurückkehren zu können und meiner lieben Manon Leben und Freude wiederzugeben.

Wir waren in kurzer Zeit in Saint-Denis. Mein Bruder, der sich über mein Schweigen wunderte, schrieb das meiner Furcht zu. Er begann mich zu trösten und versicherte mir, ich hätte nichts von der Strenge meines Vaters zu befürchten, vorausgesetzt, daß ich willig wäre, ruhig zu meiner Pflicht zurückzukehren, und mich der Zuneigung, die er für mich hegte, würdig erwiese. Mein Bruder ließ mich die Nacht in Saint-Denis verbringen, doch mußten die drei Bedienten zur Vorsicht in meinem Zimmer schlafen.

[32] Sehr unangenehm war es mir dabei, daß ich mich in demselben Gasthof befand, in dem ich auf meiner Reise von Amiens nach Paris geschlafen hatte. Der Wirt und die Angestellten erkannten mich und verstanden jetzt meine ganze Geschichte.

»Ah,« hörte ich den Wirt sagen, »das ist ja der hübsche Herr, der vor sechs Wochen hier durchkam mit dem kleinen Fräulein, das er so sehr liebte. Wie reizend war sie doch! Die armen Kinder, wie haben sie sich geküßt! Wahrhaftig, es ist schade, daß man sie auseinandergebracht hat.«

Ich tat so, als hätte ich gar nichts gehört, und ließ mich so wenig wie möglich sehen.

Mein Bruder hatte in Saint-Denis einen zweisitzigen Wagen, in dem wir in aller Frühe abfuhren und am Abend des nächsten Tages zu Hause ankamen. Er sprach zunächst allein mit meinem Vater, um ihn zu meinen Gunsten zu stimmen, indem er ihm schilderte, mit welcher Sanftmut ich mich hatte fortführen lassen. Infolgedessen wurde ich weniger streng empfangen, als ich erwartet hatte. Mein Vater begnügte sich, mir einige allgemeine Vorwürfe zu machen wegen meines Vergehens, ohne seine Erlaubnis mich entfernt zu haben. Was meine Geliebte anging, so sagte er, ich hätte wohl verdient, was mir begegnet sei, indem ich mich mit einer Unbekannten eingelassen hätte. Allerdings habe er eine bessere Meinung [33] von meiner Klugheit gehabt, hoffe aber, daß dieses kleine Abenteuer mich vernünftiger machen würde.

Ich nahm diese Ansprache in dem Sinne auf, der sich mit meinen vorgefaßten Ansichten vertrug. Ich dankte meinem Vater für die Güte, mit der er mir Verzeihung erwiesen, und versprach ihm ein gehorsameres und ordentlicheres Leben. Im Grunde meines Herzens aber triumphierte ich, denn bei der Art, wie die Angelegenheit beigelegt war, zweifelte ich nicht, daß ich schon vor Ende der Nacht die Freiheit hätte, mich wieder aus dem Hause davonzuschleichen.

Wir setzten uns zum Abendessen zu Tisch, und man neckte mich wegen meiner Eroberung in Amiens und der Flucht mit dieser getreuen Geliebten. Ich nahm diese Anspielungen mit guter Laune auf und war sogar entzückt, mich über das unterhalten zu können, was unaufhörlich meine Seele erfüllte. Aber auf einige Bemerkungen, die mein Vater fallen ließ, horchte ich mit gespannter Aufmerksamkeit. Er sprach von der Falschheit und der eigennützigen Dienstbeflissenheit des Herrn de B***. Ich war verblüfft, als ich diesen Namen hörte, und bat meinen Vater bescheiden, sich näher zu erklären.

Er wandte sich an meinen Bruder und fragte ihn, ob er mir denn nicht die ganze Geschichte erzählt hätte. Mein Bruder antwortete, ich sei ihm auf der Fahrt so ruhig vorgekommen, daß er nicht geglaubt habe, ich hätte diese [34] Arznei zur Heilung von meiner Tollheit nötig. Ich bemerkte, daß mein Vater schwankte, ob er mir Näheres mitteilen sollte, und bat ihn so inständig, daß er mir schließlich Genüge tat, oder vielmehr, daß er mich mit dem schrecklichsten aller Berichte beinahe ermordete.

Er fragte mich zunächst, ob ich immer so einfältig gewesen sei, zu glauben, meine Geliebte hätte mich wirklich geliebt, und ich antwortete ihm dreist, ich sei dessen so sicher, daß nichts meinen Glauben erschüttern könne.

»Ha, ha, ha!« lachte er aus vollem Halse. »Das ist großartig! Du bist ein schöner Gimpel, mit solchen Ansichten gefällst du mir. Es ist wirklich schade, mein armer Chevalier, daß du in den Malteserorden eintrittst, denn du hast die wunderbarsten Anlagen zu einem geduldigen und bequemen Ehegatten!«

Er fügte noch eine Menge Spottworte dieser Art über das, was er meine Dummheit und Leichtgläubigkeit nannte, hinzu.

Endlich, da ich fortfuhr zu schweigen, sagte er mir, daß mich Manon nach der Abreise von Amiens vielleicht etwa vierzehn Tage lang geliebt haben könnte.

»Denn«, meinte er, »ich weiß, daß du am 28. des vorigen Monats von Amiens abgereist bist, und wir haben heute den 29. des gegenwärtigen. Elf Tage ist es her, daß Herr de B*** mir geschrieben hat, und ich nehme an, daß er acht gebraucht hat, um mit deiner Geliebten [35] völlig übereinzukommen. Wenn man also elf und acht von den einunddreißig Tagen abzieht, die zwischen dem 28. eines Monats bis zum 29. des folgenden liegen, so bleiben etwa zwölf.«

Das Gelächter brach nun von neuem los. Mir aber zog sich beim Anhören das Herz so krampfhaft zusammen, daß ich glaubte, ich würde es bis zum Ende dieser traurigen Geschichte nicht mehr aushalten.

»Ich muß dir also mitteilen,« fuhr mein Vater fort, »da du es noch nicht weißt, daß Herr de B*** das Herz deiner Prinzessin erobert hat. Natürlich schwindelt er, wenn er mir einreden will, daß er sie dir nur aus uneigennützigem Diensteifer für mich abspenstig gemacht hat. Er ist gerade der richtige Mann, um an einen ihm völlig Unbekannten, wie ich es bin, so edelmütige Gefühle zu verschwenden! Er hat von ihr erfahren, daß du mein Sohn bist, und um sich Unannehmlichkeiten durch dich vom Halse zu schaffen, hat er mir deine Adresse und deine Geldverlegenheit mitgeteilt und mir zu verstehen gegeben, man müsse sich deiner mit Gewalt versichern. Er erbot sich, mir deine Festnahme zu erleichtern, und in Befolgung seiner Anweisung und sogar der deiner Geliebten gelang es dann deinem Bruder, dich unvorbereitet festzunehmen. Sei also zufrieden mit der Dauer deines Triumphes. Du verstehst ziemlich schnell zu siegen, Chevalier, aber du verstehst nicht, deine Eroberungen fest zuhalten.«

[36] Ich besaß nicht die Kraft, eine Unterhaltung länger anzuhören, von der jedes Wort mein Herz durchbohrt hatte. Ich erhob mich vom Tisch, aber ich hatte kaum vier Schritte nach dem Ausgang des Zimmers getan, als ich ohne Gefühl und Bewußtsein zu Boden sank. Durch schnellen Beistand brachte man mich wieder zu mir. Ich öffnete die Augen, um einen Strom von Tränen zu vergießen, und meinen Mund, um die traurigsten und rührendsten Klagen auszustoßen.

Mein Vater, der mich immer zärtlich geliebt hat, bemühte sich mit seiner ganzen Innigkeit, mich zu trösten. Ich hörte seine Worte, aber ich verstand sie nicht. Ich beschwor ihn mit gefalteten Händen, mich nach Paris zurückkehren zu lassen, um de B*** niederzustechen.

»Nein,« sagte ich, »er hat nicht Manons Herz erobert, er hat ihr Gewalt angetan. Er hat sie durch ein Zaubermittel oder ein Gift verführt, er hat sie vielleicht mit roher Gewalt gezwungen. Manon liebt mich. Weiß ich denn das nicht allzu gut? Er wird sie mit dem Degen in der Hand bedroht haben, um sie zu zwingen, mich zu verlassen. Was wird er nicht versucht haben, um mir eine so wundervolle Geliebte zu rauben! O ihr Götter, ihr Götter, könnte es denn möglich sein, daß Manon mich verraten, daß sie aufgehört hätte, mich zu lieben?«

Da ich immerfort davon sprach, sofort nach Paris zurückzukehren, und da ich mich sogar jeden Augenblick [37] erhob, um das in die Wege zu leiten, sah mein Vater wohl, daß mich in dem wahnsinnigen Zustand, in dem ich mich befand, nichts zurückhalten könnte. Er führte mich in ein hochgelegenes Zimmer, wo er zwei Bediente bei mir ließ, die mich nicht aus den Augen lassen durften. Ich war außer mir, ich hätte tausendmal mein Leben geopfert, um nur eine Viertelstunde in Paris sein zu können.

Ich begriff nun auch, daß man mir jetzt, nachdem ich mich so offen ausgesprochen hatte, nicht so leicht erlauben werde, das Zimmer zu verlassen. Mit einem Blick maß ich die Höhe der Fenster über dem Erdboden, und da ich keine Möglichkeit sah, auf diesem Wege zu entfliehen, wandte ich mich vorsichtig an die beiden Bedienten.

Ich verpflichtete mich mit vielen Eidschwüren, später ihr Glück zu machen, wenn sie in meine Flucht einwilligten. Ich drängte sie, ich schmeichelte ihnen, ich drohte ihnen, aber alle meine Versuche blieben nutzlos. Da verlor ich jede Hoffnung. Ich beschloß, zu sterben, und warf mich aufs Bett mit der Absicht, es nicht mehr lebend zu verlassen. Die Nacht und den folgenden Tag verbrachte ich in dieser Lage, ich verweigerte auch die Annahme der Nahrung, die mir am Tage gebracht wurde.

Des Nachmittags besuchte mich mein Vater. Er hatte die Güte, mit den sanftesten Trostesworten meinen Schmerz zu lindern, und befahl mir so nachdrücklich, etwas zu essen, daß ich es aus Achtung vor seinem Gebote [38] tat. Einige Tage verflossen, während derer ich nichts zu mir nahm, außer in seiner Gegenwart und um ihm zu gehorchen. Er fuhr immerzu fort, Verstandesgründe zu entwickeln, die mich vernünftig machen und mir Verachtung gegen die ungetreue Manon einflößen sollten. Nun ist es sicher, daß ich keine Achtung mehr für sie empfand. Wie hätte ich auch das flatterhafteste und treuloseste aller Geschöpfe achten können? Aber ihr Bild, ihre reizenden Gesichtszüge, die ich tief in meinem Herzen bewahrte, lebten dort noch immer. Ich war mir darüber ganz klar.

»Ich kann sterben«, sagte ich zu mir. »Ich müßte es sogar nach soviel Schande und Schmerz. Aber, wenn ich tausend Tode stürbe, nie könnte ich die undankbare Manon vergessen.«

Mein Vater wunderte sich darüber, mich noch immer so stark von dieser Leidenschaft ergriffen zu sehen. Er kannte mich als einen Menschen von empfindsamem Ehrgefühl und war überzeugt, daß ihr Verrat mir Verachtung gegen sie einflößen müßte. Daher kam er auf den Gedanken, meine Hartnäckigkeit rühre nicht von dieser besonderen Liebesleidenschaft her, sondern von einer allgemeinen starken Neigung zum weiblichen Geschlecht. Er hatte sich so sehr in diese Ansicht vertieft, daß er sie eines Tages, indem er sich nur von seiner herzlichen Zuneigung zu mir leiten ließ, offen aussprach.

[39] »Chevalier,« sagte er zu mir, »ich hatte bisher die Absicht, dich das Kreuz des Malteserordens tragen zu lassen, aber ich sehe jetzt ein, daß deine Neigungen durchaus nicht dorthin gerichtet sind. Du liebst die hübschen Frauen, und ich bin gesonnen, dir eine auszusuchen, die dir gefallen wird. Sage mir daher offen, wie du über diesen Plan denkst.«

Ich antwortete ihm, daß ich keine Unterschiede mehr zwischen den Frauen machte, und daß ich sie nach dem Unglück, das mir zugestoßen sei, alle in gleichem Maße verachtete.

»Ich suche dir eine,« antwortete mein Vater lächelnd, »die deiner Manon gleichen, die aber treuer sein wird.«

»Ach,« sagte ich, »wenn Sie mir wirklich eine Güte erweisen wollen, dann geben Sie mir Manon zurück. Seien Sie überzeugt, teurer Vater, daß sie mich keineswegs verraten hat. Sie ist einer so schwarzen und grausamen Niederträchtigkeit gar nicht fähig. Es ist nur der ruchlose de B***, der uns alle getäuscht hat, Sie, Manon und mich. Wenn Sie wüßten, wie zärtlich und aufrichtig sie ist, wenn Sie sie kennten, Sie wür den sie selber lieben.«

»Du bist ein Kind«, erwiderte mein Vater. »Wie kannst du nach allem, was ich dir von ihr erzählt habe, deine Augen noch in dem Maße verschließen? Sie selbst hat dich deinem Bruder ausgeliefert. Wenn du klug wärest, würdest du sie bis auf ihren Namen vergessen und die Nachsicht, die ich dir entgegenbringe, benutzen.«

[40] Ich sah zu klar ein, daß er recht hatte. Es war nur eine unwillkürliche Regung gewesen, die mich veranlaßt hatte, so die Partei meiner Ungetreuen zu ergreifen.

»Ach«, sagte ich nach einem Augenblick des Schweigens. »Es ist nur allzu wahr, daß ich das unglückselige Opfer der abscheulichsten aller Gemeinheiten geworden bin. Ja,« fuhr ich fort, indem ich Tränen des Unwillens vergoß, »ich sehe wohl, daß ich nur ein Kind bin. Bei meiner Leichtgläubigkeit wurde es ihnen nicht schwer, mich zu täuschen. Aber ich weiß auch, was ich tun muß, um mich zu rächen.«

Mein Vater wollte wissen, welches meine Absicht wäre.

»Ich werde nach Paris gehen,« sagte ich, »das Haus dieses B*** in Brand stecken und ihn mit der treulosen Manon lebend verbrennen.«

Mein Vater lachte über diesen Wutausbruch und sorgte nur dafür, daß ich noch strenger in meinem Gefängnis bewacht wurde.

Ich verbrachte hier im ganzen sechs Monate, und im Anfang veränderte sich meine Stimmung wenig. Alle meine Gefühle waren nur eine fortwährende Abwechslung zwischen Haß und Liebe, Hoffnung und Verzweiflung, je nach dem Bilde, das ich mir in meinen Gedanken von Manon machte. Einmal sah ich in ihr nur das liebenswürdigste aller Mädchen und verschmachtete vor Sehnsucht, sie wiederzusehen. Ein andermal erschien sie mir [41] als eine gemeine und abscheuliche Dirne, und ich schwur tausend Eide, sie nur aufzusuchen, um sie zu bestrafen.

Man gab mir Bücher, die mein Herz auch wirklich etwas beruhigten. Ich las alle meine Autoren wieder und lernte neue kennen. Ich bekam wieder eine unendliche Lust zum Studium. Sie werden sehen, wie wertvoll mir dies in der Folge wurde. Die Erkenntnisse, die ich der Liebe verdankte, klärten mir manche Stellen im Horaz und Virgil auf, die mir vorher dunkel erschienen waren. Ich schrieb einen liebeatmenden Kommentar zum vierten Buch der Äneide. Er soll gedruckt werden, und ich schmeichle mir, daß er dem Publikum gefallen wird.

»Ach,« sagte ich, als ich ihn schrieb, »die getreue Dido hätte ein Herz wie das meinige gebraucht.«

Tiberge besuchte mich eines Tages in meinem Gefängnis. Ich war erstaunt über die Freude, mit der er mich umarmte. Bisher hatte ich noch keine Beweise seiner Zuneigung gehabt, nach denen ich in ihr etwas anderes sehen konnte als eine der einfachen Schülerfreundschaften, wie sie sich oft zwischen jungen Leuten von fast gleichem Alter bildet. Ich fand ihn seit den fünf oder sechs Monaten, die ich ihn nicht gesehen hatte, so verändert und entwickelt, daß mir sein Gesicht und die Art seines Redens unwillkürlich Achtung einflößten. Er sprach zu mir mehr als weiser Berater, denn als Schulfreund. Er beklagte die Verirrung, in die ich gefallen war, und beglückwünschte [42] mich zu meiner Heilung, die er für ziemlich vollständig hielt. Schließlich ermahnte er mich, aus dieser jugendlichen Verirrung den Nutzen zu ziehen, meine Augen über die Eitelkeit aller Vergnügungen aufzumachen.

Ich sah ihn erstaunt an, und er merkte es.

»Mein lieber Chevalier,« sagte er, »alles, was ich dir sage, ist fest begründet, und ich habe mich durch ernsthaftes Prüfen von seiner Wahrheit überzeugt. Ich hatte eine ebenso starke Neigung zur Sinnlichkeit wie du, aber der Himmel hat mir zur gleichen Zeit auch die Liebe zur Tugend gegeben. Ich habe meine Vernunft angewandt, um die Früchte der einen und der anderen miteinander zu vergleichen, und es hat mir nicht viel Mühe gemacht, ihre Unterschiede zu bemerken. Die Gnade des Himmels kam meinen Erwägungen zu Hilfe, und ich faßte für die Welt eine Verachtung ohnegleichen. Begreifst du nun, was mich noch zurückhält und was mich hindert, die Einsamkeit aufzusuchen? Es ist einzig die zärtliche Freundschaft, die ich für dich hege. Ich kenne die Vortrefflichkeit deines Herzens und Geistes, es gibt nichts Gutes, dessen du nicht fähig wärest. Das Gift des Vergnügens hat dich vom rechten Wege abgebracht. Welch ein Verlust ist das für die Tugend! Deine Flucht aus Amiens hat mir einen solchen Schmerz bereitet, daß ich seitdem keine zufriedene Stunde mehr gekostet habe. Du kannst es nach den Schritten beurteilen, die ich deswegen unternommen habe.«

[43] Er erzählte mir nun, wie er, als er bemerkte, daß ich ihn getäuscht und mit meiner Geliebten die Flucht ergriffen hatte, zu Pferde gestiegen und mir gefolgt war. Aber, da ich vor ihm einen Vorsprung von vier oder fünf Stunden hatte, war es ihm unmöglich gewesen, mich zu erreichen. Trotzdem langte er eine halbe Stunde nach meiner Abreise in Saint-Denis an, und da er nicht zweifelte, daß ich mich in Paris aufhielt, verbrachte er dort sechs Wochen, um mich vergeblich zu suchen. Er war überall hingegangen, wo ich mich nur hätte aufhalten können, und eines Tages erkannte er meine Geliebte im Theater. Sie trug einen so glänzenden Schmuck, daß er sich sagte, sie müsse wohl diesen Reichtum einem neuen Geliebten verdanken. Er folgte nun ihrem Wagen bis zu ihrem Hause und er fuhr von einem Bedienten, daß sie von einem Herrn de B*** unterhalten würde.

»Ich gab mich hiermit nicht zufrieden,« fuhr Tiberge fort, »sondern kam am nächsten Tage wieder, um aus ihrem eigenen Munde zu erfahren, was aus dir geworden sei. Als sie mich von dir reden hörte, ließ sie mich einfach stehen, und ich war gezwungen, in die Provinz zurückzukehren, ohne eine Aufklärung gefunden zu haben. Dort erfuhr ich dann dein Abenteuer und die tiefe Niedergeschlagenheit, die es dir gebracht hatte. Aber ich wollte dich nicht besuchen, ehe ich nicht sicher war, dich in einer ruhigeren Verfassung zu finden.«

[44] »Du hast also Manon gesehen?« antwortete ich ihm seufzend. »Ach, du bist viel glücklicher als ich, der ich verdammt bin, sie niemals wiederzusehen!«

Er machte mir Vorwürfe wegen meines Seufzers, der noch meine Neigung zu ihr zeigte. Dann aber erwies er mir so schmeichlerische Bemerkungen über meinen guten Charakter und meine edle Veranlagung, daß in mir von seinem ersten Besuch ab eine starke Neigung entstand, ebenso wie er auf alle Vergnügungen der Welt zu verzichten und in den geistlichen Stand einzutreten.

Diese Idee gefiel mir so sehr, daß ich, sobald ich wieder allein war, mich mit nichts anderem beschäftigte. Ich erinnerte mich der Worte des Herrn Bischofs von Amiens, der mir denselben Rat gegeben und mir das glücklichste Schicksal prophezeit hatte, wenn ich diesen Entschluß durchführen würde. Auch hatte die Frömmigkeit einen Anteil an meinen Erwägungen.

»Ich werde ein weises und christliches Leben führen«, sagte ich mir. »Ich werde mich mit den Wissenschaften und der Religion beschäftigen und infolgedessen gar nicht dazu kommen, an die gefährlichen Vergnügungen der Liebe zu denken. Die Ideale der großen Menge werde ich verachten, und da ich sicher bin, daß sich mein Herz nur nach dem sehnen wird, was es achten darf, so werde ich ebenso wenig Sorgen wie Wünsche haben.«

In dieser Art malte ich mir schon im voraus ein [45] ruhiges und einsames Leben aus. Ich dachte mir ein abgelegenes Haus mit einem kleinen Wäldchen und einem sanften Bach am Ende des Gartens, eine fein ausgewählte Bibliothek, eine kleine Zahl tugendhafter und verständiger Freunde, eine anständige, aber einfache und mäßige Küche. Dazu sollte dann ein Briefwechsel kommen mit einem Freund, der in Paris wohnen und mich über alle wichtigen Neuigkeiten unterrichten würde, weniger um meine Neugier zu befriedigen, als um mir über die törichten Erregungen der Weltmenschen eine Zerstreuung zu verschaffen.

»Würde ich so nicht glücklich sein?« fragte ich mich dann. »Wären dann nicht alle meine Wünsche erfüllt?«

Sicherlich schmeichelte dieser Vorsatz im höchsten Maße meinen Neigungen. Wenn ich aber meinen weisen Plan ganz bis zu Ende gedacht hatte, dann fühlte ich, daß mein Herz doch noch etwas erwartete, und daß, um nichts mehr zu wünschen in dieser wundervollen Einsamkeit, es nötig gewesen wäre, dort mit Manon zusammen zu sein.

Da aber Tiberge fortfuhr, mich häufig zu besuchen, um mich in dem Vorsatz, den er mir eingeflößt hatte, zu bestärken, so ergriff ich eine Gelegenheit, ihn auch meinem Vater mitzuteilen. Er erklärte mir, er sei entschlossen, seinen Kindern bei der Wahl ihres Berufes freie Hand zu lassen, und, wie ich nun auch über mich verfügen [46] wollte, so behielte er sich nur das Recht vor, ihnen dabei mit guten Ratschlägen zu helfen. Er wußte mir auch sehr weise zu raten, und zwar nicht, um mir meine Absicht zu verleiden, sondern um mir die dazu dienlichen Erfahrungen zu übermitteln.

Der Beginn des neuen Schuljahres nahte heran. Ich kam mit Tiberge überein, gemeinsam das Seminar von Saint-Sulpice zu beziehen, er, um seine theologischen Studien zu beenden, ich, um die meinigen zu beginnen. Durch seine bisherigen Verdienste, die dem Bischof der Diözese bekannt waren, erhielt er von diesem Prälaten vor unserer Abreise eine beträchtliche Unterstützung.

Mein Vater, der überzeugt war, daß ich von meiner Leidenschaft vollständig geheilt sei, machte durchaus keine Schwierigkeit, mich abreisen zu lassen. Wir kamen nach Paris, das geistliche Gewand trat an die Stelle des Malteserkreuzes, und der Name des Abbé des Grieux an die des Chevaliers. Ich widmete mich dem Studium mit einem solchen Eifer, daß ich in wenigen Monaten außerordentliche Fortschritte machte. Ich verbrachte sogar einen Teil der Nacht damit und verlor am Tage keine Minute. Mein Ruf war schon so glänzend, daß man mir bereits zu den Würden Glück wünschte, die ich sicherlich erringen würde, und ohne daß ich mich darum beworben hätte, wurde mein Name auf die Pfründenliste gesetzt. Auch vernachlässigte ich die Frömmigkeit nicht und gab [47] mich mit Glut allen religiösen Übungen hin. Tiberge, der dies alles als sein Werk betrachtete, war entzückt darüber, und manchmal sah ich, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen, wenn er sich zu dem, was er meine Bekehrung nannte, Glück wünschte.

Daß die Entschließungen der Menschen veränderlich sind, ist mir niemals erstaunlich vorgekommen. Eine Leidenschaft ruft sie ins Dasein, eine andere kann sie wieder zerstören. Aber wenn ich an die Heiligkeit derjenigen denke, die mich nach Saint-Sulpice geführt hatte, an die innere Freude, die der Himmel mich bei ihrer Durchführung kosten ließ, so erschrecke ich über die Leichtigkeit, mit der ich sie gebrochen habe. Wenn es wahr ist, daß der Beistand des Himmels stets von gleicher Kraft ist, wie es die der Leidenschaften sind, so möge man es mir erklären, durch welchen unheilvollen Einfluß man plötzlich aus den Bahnen seiner Pflicht herausgerissen wird, ohne des geringsten Widerstandes fähig zu sein, ohne die mindesten Gewissensbisse zu empfinden.

Ich glaubte mich ganz befreit von den Schwächen der Liebe. Es schien mir, als zöge ich das Lesen einer Seite des heiligen Augustin oder eine Viertelstunde christlicher Meditation allen Vergnügungen der Sinne vor, ohne die auszunehmen, die mir Manon angeboten hätte. Und doch stürzte mich ein unglückseliger Augenblick in den Abgrund, und mein Fall war um so weniger wieder gut [48] zu machen, als ich mich plötzlich wieder in derselben Tiefe befand, die ich verlassen hatte, und neue Ausschweifungen mich viel weiter bis zum untersten Boden dieses Abgrundes trugen.

Ich hatte fast schon ein Jahr in Paris zugebracht, ohne mich nach den Verhältnissen Manons zu erkundigen. Zuerst hatte mich diese Beherrschung viel Überwindung gekostet, aber infolge des stets bereiten Rats Tibergs und meiner eigenen Überlegungen gelang es mir doch, den Sieg davonzutragen. Die letzten Monate waren dann so ruhig verflossen, daß ich glaubte, ich hätte für immer dieses reizende und treulose Geschöpf vergessen.

Die Zeit kam, da ich in der theologischen Hochschule ein öffentliches Examen ablegen mußte, und ich ließ mehrere Personen von Ansehen bitten, mir dabei die Ehre ihrer Anwesenheit zu gewähren. Mein Name drang dadurch in alle Teile von Paris und kam auch zu den Ohren meiner Ungetreuen. Sie erkannte ihn wegen des Abbétitels nicht mit Sicherheit wieder, aber ein Rest von Neugierde, vielleicht auch etwas Reue über ihren Verrat (ich bin mir nie darüber klargeworden, welches von beiden Gefühlen es war), erweckten in ihr das Interesse an einem Namen, der dem meinigen so ähnlich war. So kam sie mit einigen Damen in die Sorbonne, wohnte meinem Examen bei und hatte zweifellos wenig Mühe, mich wiederzuerkennen.

[49] Ich selbst hatte nicht die geringste Kenntnis von ihrer Anwesenheit, denn es gibt ja bekanntlich an diesem Ort besondere Logen für Damen, in denen sie hinter einem Holzgitter verborgen sind. Ich kehrte also, mit Ruhm bedeckt und mit Lobsprüchen überhäuft, nach Saint-Sulpice zurück. Es war sechs Uhr abends, als man mir einen Augenblick nach meiner Rückkehr mitteilte, eine Dame wünschte mich zu sprechen. Ich ging sofort hin. Ach, ihr Götter, welch eine überraschende Erscheinung erblickte ich! Es war Manon!

Sie war es wirklich, aber schöner und strahlender, als ich sie jemals gesehen hatte. Sie befand sich jetzt in ihrem achtzehnten Lebensjahre, und ihre Reize übertrafen alles, was man nur beschreiben kann. Sie hatte ein so zartes, mildes und gewinnendes Gesicht, es war ein Bild der Liebe selbst. Ihre ganze Gestalt erschien mir wie etwas Überirdisches.

Bei ihrem Anblick blieb ich sprachlos stehen, und da ich nicht erraten konnte, was sie mit ihrem Besuch beabsichtigte, wartete ich zitternd und mit gesenktem Blick auf ihre Erklärung. Eine Zeitlang war sie ebenso verwirrt wie ich, da sie aber sah, daß ich fortfuhr, zu schweigen, hielt sie sich die Hand vor die Augen, um einige Tränen zu verbergen. Mit schüchterner Stimme gestand sie mir, daß ihre Untreue meinen Haß verdiene. Aber, wenn es wahr sei, daß ich jemals auch nur ein [50] wenig Liebe für sie empfunden habe, so sei es doch hart von mir gewesen, zwei Jahre verfließen zu lassen, ohne mir auch nur die Mühe zu geben, mich nach ihrem Schicksal zu erkundigen. Und es sei auch sehr grausam von mir, jetzt nicht einmal ein Wort an sie zu richten, da ich doch sähe, in welchen Zustand meine Gegenwart sie versetzt habe. Alle ihre Worte brachten mich in eine Verwirrung, die ich unmöglich schildern kann.

Sie setzte sich hin, während ich halb abgewandt stehenblieb und nicht wagte, sie direkt anzusehen. Ein paarmal begann ich eine Antwort, die zu vollenden ich aber nicht die Kraft hatte. Endlich nahm ich mich zusammen. »Treulose Manon!« schrie ich schmerzlich. »Oh, du Treulose, du Treulose!«

Unter heißen Tränen wiederholte sie mir, sie wollte ja gar nicht ihre Treulosigkeit rechtfertigen.

»Aber was wollen Sie denn?« schrie ich noch einmal.

»Ich will sterben,« antwortete sie, »wenn du mir nicht dein Herz wiedergibst, ohne das ich nicht leben kann.«

»Dann verlange mein Leben, du Ungetreue!« erwiderte ich und begann auch, Tränen zu vergießen, die ich vergebens zurückhielt. »Verlange mein Leben, das das einzige ist, was ich dir noch opfern kann. Mein Herz hat niemals aufgehört, dir zu gehören.«

Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, da erhob sie sich leidenschaftlich, um mich zu umarmen. Sie überhäufte [51] mich mit tausend glühenden Zärtlichkeiten. Sie nannte mich mit allen Namen, die die Liebe erfindet, um die tiefste Zärtlichkeit auszudrücken.

Ich antwortete ihr zuerst noch zurückhaltend. Welch ein Übergang war das ja auch in der Tat von dem ruhigen Dasein, in dem ich mich befunden hatte, zu den stürmischen Erregungen, die ich in mir anwachsen fühlte. Ich war von einem tiefen Schrecken ergriffen. Ich zitterte wie jemand, den die Nacht in einer verlassenen Gegend überfällt. Man fühlt sich in einer gespenstigen Welt und ist von einer unerklärlichen Angst erfüllt, die erst wieder nachläßt, nachdem man lange Zeit seine ganze Umgebung betrachtet hat.

Wir setzten uns jetzt nebeneinander, und ich nahm ihre Hände in die meinigen.

»Ach, Manon,« sagte ich zu ihr, indem ich sie mit traurigem Blick ansah, »ich hatte nicht den schändlichen Verrat erwartet, mit dem du mir meine Liebe bezahlt hast. Leicht war es dir, ein Herz zu täuschen, dessen unumschränkte Herrscherin du warst, und das sein ganzes Glück darin sah, dir zu gefallen und zu gehorchen. Sage mir jetzt, ob du je einen Menschen gefunden, der ebenso zärtlich und ebenso unterwürfig war. Nein, nein, die Natur schafft nicht noch einmal einen Menschen von meiner Art. Sage mir doch wenigstens, daß du es ein paarmal bereut hast. Womit soll ich deine plötzliche Güte [52] erklären, die dich heute hierherführte, um mich zu trösten? Ich sehe nur zu gut, daß du reizender bist als je, aber im Namen all der Qualen, die ich um deinetwillen erlitten habe, schöne Manon, sage mir, ob du mir in Zukunft treuer sein wirst.«

Sie antwortete mir mit so rührenden Ausdrücken ihrer Reue, sie versprach mir ihre Treue mit so vielen Versicherungen und Schwüren, daß sie mich in unaussprechlichem Maße rührte.

»Teure Manon,« sagte ich zu ihr mit einer unheiligen Mischung von Worten der Liebe und der Religion, »du bist zu anbetungswürdig für ein geschaffenes Wesen. Ich fühle mein Herz von einem alles überwindenden Entzücken fortgerissen. Alles, was man in Saint-Sulpice über die menschliche Freiheit sagt, ist eine Fabel. Ich werde mein Vermögen und meinen Ruf um deinetwillen verlieren, ich sehe das wohl voraus. Ich lese mein Schicksal in deinen schönen Augen. Aber gibt es wohl einen Verlust, über den mich deine Liebe nicht trösten könnte? Die Vorteile des Reichtums berühren mich nicht, der Ruhm erscheint mir wie ein Rauch. Alle meine Pläne eines geistlichen Lebens waren törichte Einbildungen. Kurz, alle Güter außer denen, die ich von dir erhoffe, sind verächtlich und wertlos, denn sie können sich in meinem Herzen nicht einen Augenblick gegen einen einzigen deiner Blicke halten.«

[53] Ich wollte nun wissen, auf welche Art sie sich von de B*** hatte verführen lassen, indem ich ihr zugleich eine vollständige Verzeihung für alles Vorgefallene zugestand.

Sie erzählte mir, daß er sie am Fenster gesehen und sich in sie verliebt habe. Er machte ihr seine Erklärung wie ein richtiger Steuerpächter, das heißt, er teilte ihr in einem Briefe mit, daß er sie entsprechend ihren Gunstbezeugungen bezahlen würde. Sie gab sich ihm auch bald hin, aber nur in der Absicht, aus ihm eine beträchtliche Summe herauszuziehen, die uns ein behagliches Leben verschaffen sollte. Er hatte sie durch so großartige Versprechungen geblendet, daß sie sich allmählich erweichen ließ. Daß sie, so sagte sie, dabei Gewissensbisse empfunden habe, könnte ich schon an dem Schmerze sehen, den sie am Abend unserer Trennung mir zeigte. Und trotz der Freigebigkeit, die er ihr erwies, sei sie bei ihm niemals glücklich gewesen, nicht nur weil sie bei ihm, wie sie sich ausdrückte, nicht das Zartgefühl meiner Empfindungen und meine Vornehmheit im Umgang gefunden habe, sondern auch, weil sie inmitten aller Vergnügungen, die er ihr unaufhörlich verschaffte, doch stets im Grunde ihres Herzens die Erinnerung an meine Liebe und die Reue über ihre Untreue fand.

Sie sprach zu mir von Tiberge und der ungeheuern Verwirrung, in die sie sein Besuch versetzte. »Ein Degenstich in mein Herz«, fügte sie hinzu, »hätte mein Blut [54] weniger erregt. Ich wandte ihm den Rücken, denn ich hätte seine Gegenwart auch nicht einen Augenblick ertragen können.«

Dann erzählte sie mir, auf welche Weise sie von meinem Aufenthalt in Paris, von meinem Wechsel des Berufs und von meiner Prüfung an der Sorbonne erfahren habe. Sie versicherte mir, sie sei während der Disputation so erregt gewesen, daß sie die größte Mühe gehabt habe, nicht nur ihre Tränen zurückzuhalten, sondern auch ihre Seufzer und Schreie, die mehr als einmal daran waren, aus ihr hervorzubrechen. Schließlich hatte sie, wie sie mir sagte, als letzte den Ort verlassen, um ihre Verwirrung zu verbergen, und war dann, einer Bewegung ihres Herzens und der Unwiderstehlichkeit ihres Verlangens folgend, ohne weiteres zum Seminar gegangen mit der Absicht, hier zu sterben, wenn sie mich nicht geneigt fand, ihr zu verzeihen.

Selbst der roheste Mensch wäre durch eine so aufrichtige und zärtliche Liebe gerührt worden. Ich aber fühlte in diesem Augenblick, daß ich für Manon alle Bistümer der Christenheit würde opfern können. Ich fragte, wie wir denn nun nach ihrer Meinung unsere gegenseitigen Beziehungen gestalten sollten. Sie sagte, ich müsse sofort das Seminar verlassen, und wir könnten uns dann an einem gesicherteren Ort eine Wohnung suchen.

Ich stimmte allen ihren Wünschen ohne Widerrede zu, [55] und sie stieg in ihren Wagen, um mich an der nächsten Straßenecke zu erwarten. Einen Augenblick später schlich ich mich hinaus, ohne daß der Türhüter etwas merkte. Ich setzte mich zu ihr, und wir fuhren zu einem Trödelhändler, wo ich Tressen und Degen anlegte. Manon bezahlte, denn ich hatte keinen Sou in der Tasche, da sie aus Furcht, irgendein Hindernis könnte sich meinem Entweichen aus Saint-Sulpice entgegenstellen, mir nicht erlaubt hatte, noch einen Augenblick in mein Zimmer zu gehen und mein Geld zu nehmen. Der Betrag wäre übrigens nicht hoch gewesen, sie aber besaß durch die Freigebigkeit des de B*** genug Geld, daß das von mir im Stich gelassene dagegen nicht zählte.

Wir besprachen gleich bei dem Trödler, was wir weiter unternehmen wollten, und um mir ihren Bruch mit de B*** von vornherein wertvoller zu machen, beschloß sie, ohne jede Rücksicht gegen ihn vorzugehen.

»Ich will ihm seine Möbel lassen«, sagte sie. »Sie gehören ihm. Aber ich behalte, wie es mein Recht ist, die Schmucksachen und etwa sechzigtausend Franken, die ich in den zwei Jahren von ihm bezogen habe. Ich habe ihm keine Rechte über mich gegeben«, fügte sie hinzu. »Wir können also ohne Furcht in Paris bleiben und ein angenehmes Haus beziehen, in dem wir glücklich leben.«

Ich hielt ihr vor, wenn sie auch keine Gefahr liefe, so wäre das doch bei mir ganz anders. Früher oder später [56] würde ich erkannt werden, und dann wäre ich demselben Unglück ausgesetzt, das ich schon einmal durchgemacht hätte. Sie gab mir zu verstehen, daß sie sich nicht gerne von Paris trennen möchte. Ich wollte sie nicht kränken und war daher gerne bereit, ihr zuliebe jeder Gefahr von der Welt zu trotzen. Schließlich aber fanden wir einen vernünftigen Mittelweg, nämlich in einem Nachbardorf von Paris ein Haus zu mieten. Von da konnten wir bequem nach der Stadt kommen, wenn uns ein Vergnügen oder eine Besorgung dazu veranlaßte. Wir wählten Chaillot, das ja nicht weit entfernt liegt. Manon fuhr sofort in ihre Wohnung, und ich ging zum kleinen Pförtchen des Tuileriengartens, um sie dort zu erwarten.

Eine Stunde später kam sie in einer Mietskutsche zurück. Sie hatte ein Mädchen bei sich, das sie bediente, und einige Koffer, in denen ihre Kleider und alles, was sie an wertvollen Dingen besaß, verschlossen waren.

Ohne zu zögern, fuhren wir nunmehr nach Chailott. Die erste Nacht verbrachten wir in einer Herberge, um uns mit Muße ein Haus oder wenigstens eine bequeme Wohnung zu suchen. Wir fanden auch am nächsten Tag eine Wohnung nach unserem Geschmack.

Mein Glück schien mir anfangs auf unerschütterlichen Grundlagen errichtet zu sein. Manon war die Sanftmut und Liebenswürdigkeit selbst. Sie erwies mir so zärtliche Aufmerksamkeiten, daß ich mich für alle ausgestandenen [57] Schmerzen völlig entschädigt glaubte. Da wir nun beide etwas Erfahrung erworben hatten, so berieten wir gemeinsam über die Dauerhaftigkeit unseres Vermögens. Sechzigtausend Franken, die die Grundlage unserer Reichtümer bildeten, waren doch keine Summe, die ein langes Leben hindurch ausreichen konnten. Auch waren wir beide nicht dazu veranlagt, unsere Ausgaben allzusehr einzuschränken. Sparsamkeit war weder Manons noch meine Haupttugend. Darum schlug ich ihr folgenden Plan vor:

»Sechzigtausend Franken«, sagte ich zu ihr, »können uns zehn Jahre erhalten. Wir kommen, wenn wir weiterhin in Chaillot leben, mit zweitausend Taler im Jahr aus. Wir führen dabei ein anständiges, aber einfaches Leben, und unsere einzige Nebenausgabe wird das Halten eines Wagens und der Besuch des Theaters sein. Alles das ordnen wir schon. Du liebst die Oper, und wir gehen zweimal in der Woche hin. Was das Spiel angeht, so beschränken wir uns darin so, daß wir nie über einen Verlust von zwei Pistolen hinausgehen. Es ist unmöglich, daß sich in einem Zeitraum von zehn Jahren keine Veränderung in einer Familie ereignen sollte. Mein Vater ist nicht mehr jung und kann sterben. Dann werde ich Vermögen besitzen, und wir brauchen uns weiter keine Besorgnisse zu machen.«

Diese Regelung wäre noch nicht die törichtste Handlung meines Lebens gewesen, wenn wir nur die Vernunft besessen [58] hätten, sie beharrlich zu befolgen. Aber unsere Beschlüsse dauerten kaum länger als einen Monat. Manon hatte einen leidenschaftlichen Hang zum Vergnügen, und ich betete sie an. Fast jeden Augenblick entstand für uns ein neuer Anlaß zu Geldausgaben, und weit entfernt, die Summen zu bedauern, die sie manchmal verschwenderisch ausstreute, ging ich sogar voran, ihr alles zu verschaffen, was mir nur geeignet schien, ihr zu gefallen. Sogar unsere Wohnung in Chaillot begann ihr lästig zu werden.

Der Winter nahte sich, alles zog in die Stadt zurück, und auf dem Lande wurde es einsam. Sie schlug mir vor, wieder ein Haus in Paris zu nehmen. Ich stimmte zwar nicht zu, aber, um ihr doch in gewissem Maße entgegenzukommen, sagte ich ihr, wir könnten uns ja ein möbliertes Zimmer mieten und dort die Nacht verbringen, wenn wir die Gesellschaft, die wir jede Woche mehrmals besuchten, zu spät verließen. Denn gerade die Unbequemlichkeit, so spät nach Chaillot zu kommen, war der Vorwand, weshalb sie von dort fortziehen wollte. Wir hielten uns also jetzt zwei Wohnungen, eine in der Stadt und eine auf dem Lande.

Dieser Wechsel aber sollte bald unsere Verhältnisse vollständig verwirren, denn durch ihn begegneten uns zwei Abenteuer, die zu unserm Untergang führten:

Manon hatte einen Bruder, der bei der Leibgarde diente, und er wohnte unglücklicherweise in Paris in derselben [59] Straße wie wir. Eines Morgens erkannte er seine Schwester, als sie an ihrem Fenster stand. Sofort lief er in unsere Wohnung. Er war ein roher Mensch, ohne Ehrgefühl. Als er in unser Zimmer trat, fluchte er abscheulich, und da er einiges von den Abenteuern seiner Schwester wußte, überhäufte er sie mit Beschimpfungen und Vorwürfen.

Ich war kurz vorher ausgegangen, was zweifellos sowohl für ihn wie für mich ein Glück war, denn ich war nicht der Mann, der eine Beleidigung ruhig hingenommen hätte. Ich kam auch erst zurück, als er schon fort war, erkannte aber sofort an der traurigen Miene Manons, daß etwas Ungewöhnliches geschehen sei. Sie erzählte mir den häßlichen Auftritt, den sie erlebt hatte, und die rohen Drohungen ihres Bruders. Ich erregte mich darüber so sehr, daß ich unverzüglich hingelaufen wäre, um Rache zu nehmen, wenn sie mich nicht mit ihren Tränen zurückgehalten hätte.

Während ich noch mit ihr über den Vorfall sprach, kehrte der Gardist, ohne sich anmelden zu lassen, wieder in das Zimmer zurück, in dem wir uns befanden. Ich hätte ihn nicht so höflich empfangen, wie ich es tat, wenn mir sein Charakter bekannt gewesen wäre. Aber, nachdem wir uns lächelnd begrüßt hatten, benutzte er die Gelegenheit, sich bei Manon wegen seiner Zornesaufwallung zu entschuldigen. Er habe geglaubt, sie befinde sich [60] in mißlichen Umständen, was seine Wut erst angefacht hätte. Jetzt aber, nachdem er einen unserer Diener befragt, habe er über mich so vorteilhafte Dinge erfahren, daß er den Wunsch hege, mit uns im besten Einvernehmen zu leben.

Obgleich diese Erkundigung bei einem meiner Diener etwas Merkwürdiges und Beleidigendes an sich hatte, nahm ich doch sein Lob mit Höflichkeit entgegen, weil ich glaubte, dadurch Manon einen Gefallen zu tun. Sie schien entzückt zu sein über seine versöhnliche Neigung, und wir behielten ihn zum Essen da.

In kurzer Zeit machte er sich so vertraulich, daß er, als wir von unserer Rückkehr nach Chaillot sprachen, uns unbedingt Gesellschaft leisten wollte. Wir mußten ihm schon einen Platz in unserem Wagen geben.

Es war einfach eine Besitzergreifung. Denn bald gewöhnte er sich daran, uns so häufig zu besuchen, daß unser Haus zu dem seinigen wurde, und daß er sich in gewisser Beziehung zum Herrn über unser ganzes Eigentum machte. Mich nannte er seinen Bruder, und unter dem Vorwand der brüderlichen Rechte erlaubte er sich, alle seine Freunde in unser Haus in Chaillot einzuführen und sie dort auf unsere Kosten zu bewirten. Er kleidete sich auf unsere Rechnung großartig ein, er veranlaßte uns sogar, alle seine Schulden zu bezahlen. Um Manon nicht zu mißfallen, übersah ich diese ganze Tyrannei so sehr, [61] daß ich sogar tat, als bemerkte ich nicht, wie er ihr von Zeit zu Zeit beträchtliche Summen abnahm. Er war ein großer Spieler und besaß allerdings noch so viel Ehrlichkeit, daß er ihr, wenn ihn das Glück begünstigte, einen Teil zurückzahlte. Aber unser Vermögen war zu mittelmäßig, um lange Zeit so riesige Ausgaben ertragen zu können.

Ich war schon im Begriff, ihm das alles einmal deutlich auseinanderzusetzen und uns von seiner Zudringlichkeit zu befreien, als ein trauriges Ereignis mir diese Mühe ersparte und etwas Schlimmeres herbeiführte, was uns rettungslos in den Abgrund stürzte.

Wir hatten eines Tages, wie das häufig geschah, in Paris übernachtet, als mich am nächsten Morgen die Dienerin, die bei solchen Gelegenheiten allein in Chaillot blieb, benachrichtigte, daß während der Nacht in meinem Hause ein Brand ausgebrochen sei, den man nur mit Mühe gelöscht habe. Ich fragte sie, ob unsere Möbel Schaden gelitten hätten, und sie antwortete mir, es habe durch die Menge von fremden Menschen, die zu Hilfe gekommen seien, eine solche Verwirrung geherrscht, daß sie für nichts gutsagen könnte. Mit Schrecken dachte ich an unser Geld, das in einer kleinen Kassette verschlossen war, und begab mich eiligst nach Chaillot. Meine Eile war nutzlos, die Kassette war schon verschwunden.

Jetzt erfuhr ich auch, daß man das Geld lieben kann, [62] ohne geizig zu sein. Der Verlust durchdrang mich mit einem so heftigen Schmerz, daß ich glaubte, darüber den Verstand zu verlieren. Ich begriff sofort, welchem neuen Unheil ich entgegenginge, und daß die Armut daran das kleinste war. Ich kannte Manon. Ich hatte es an ihr schon allzu gut erfahren, daß, wie treu und anhänglich sie mir im Glück auch sein mochte, ich doch im Unglück nicht auf sie rechnen durfte. Sie liebte zu sehr den Überfluß und das Vergnügen, um sie mir opfern zu können.

»Ich werde sie verlieren!« rief ich aus. »Ach, armer Chevalier, du wirst also von neuem alles verlieren, was du liebst!«

Dieser Gedanke versetzte mich in eine so schreckliche Bestürzung, daß ich einige Augenblicke schwankte, ob es nicht besser sei, allen meinen Übeln durch den Tod ein Ende zu machen.

Ich bewahrte jedoch noch so viel Geistesgegenwart, daß ich erst einmal prüfen wollte, ob mir denn gar keine Hilfe mehr bliebe. Der Himmel sandte mir auch einen Gedanken, der meiner Verzweiflung Halt gebot. Ich glaubte, es sei mir nicht unmöglich, unsern Verlust Manon zu verschweigen, und durch Tätigkeit und gutes Glück würde ich so viel für sie aufbringen, daß sie gar keinen Mangel verspürte.

»Ich habe darauf gerechnet,« sagte ich mir, um mich zu trösten, »daß uns die sechzigtausend Franken zehn [63] Jahre reichen würden. Nehmen wir an, die zehn Jahre seien verflossen, ohne daß die Veränderungen in meiner Familie, auf die ich gehofft habe, eingetreten seien. Welchen Entschluß würde ich dann fassen? Ich weiß es noch nicht recht, aber was hindert mich, das, was ich dann tun würde, heute schon zu tun? Wieviele Menschen leben nicht in Paris, die weder meine Bildung, noch meine natürlichen Anlagen haben, und die doch von ihren Talenten, wie sie nun einmal sind, ganz gut leben!«

Ich dachte nun über die verschiedenen Lebensverhältnisse nach. »Die Vorsehung«, so urteilte ich, »hat doch eigentlich alles sehr weise eingerichtet. Die Mehrzahl der vornehmen und reichen Leute sind Dummköpfe, das weiß jeder, der die Welt ein wenig kennt. Nun, darin liegt eine wunderbare Gerechtigkeit. Wenn sie zu ihren Reichtümern auch noch den Geist hinzufügen können, so würden sie zu glücklich, und die übrigen Menschen zu unglücklich sein. Diesen sind die körperlichen und seelischen Vorzüge gegeben worden, damit sie sich dadurch aus Elend und Not befreien können. Die einen nehmen sich ihren Teil von den Reichtümern der Großen, indem sie ihren Vergnügungen dienen und sie dabei prellen. Die andern dienen ihnen mit ihrem Wissen, sie versuchen, sie zu vornehmen Menschen zu erziehen. Es ist wahr, daß ihnen das selten gelingt, aber das ist ja auch nicht die Absicht der göttlichen Weisheit. Jedenfalls bringen ihnen ihre [64] Bemühungen immer den Vorteil, daß sie auf Kosten derjenigen leben, denen sie Unterricht erteilen, und welchen Weg man nun auch einschlägt, die Dummheit der Reichen und Großen ist eine ausgezeichnete Einnahmequelle für die Kleinen.«

Diese Erwägungen machten mich wieder etwas mutiger und ruhiger. Ich beschloß, zuerst Herrn Lescaut, den Bruder Manons, um Rat zu fragen. Er kannte Paris genau, und ich hatte nur zu oft Gelegenheit gehabt, zu bemerken, daß es weder sein Vermögen noch der Sold des Königs war, die ihm seine hauptsächlichsten Einkünfte verschafften. Ich besaß kaum noch zwanzig Pistolen, die sich zum Glück in meiner Tasche befunden hatten. Ich zeigte ihm nun meine Börse, erzählte ihm mein Unglück und meine Befürchtungen und fragte ihn, ob es für mich einen anderen Ausweg gäbe, als vor Hunger zu sterben oder mir verzweifelt eine Kugel in den Kopf zu schießen.

Er antwortete mir, sich zu erschießen, das sei der Ausweg der Dummköpfe. Was das Verhungern angehe, so wäre dem eine Menge von Leuten von Geist ausgesetzt, wenn sie nicht von ihren Talenten Gebrauch machen wollten. Ich müßte nur selbst prüfen, wozu ich befähigt sei. Jedenfalls versicherte er mich seiner Hilfe und seines Rats bei allen meinen Unternehmungen.

»Das alles ist sehr unbestimmt, Herr Lescaut«, sagte [65] ich zu ihm. »Meine Not verlangt eine unmittelbare Hilfe, denn was soll ich Manon sagen?«

»Manon macht Ihnen Sorge?« fragte er. »Haben Sie denn nicht gerade durch sie immerfort ein Mittel, wenn Sie nur wollen, sich aller Sorgen zu entledigen? Ein Mädchen wie sie könnte uns schon ernähren, Sie, sich selbst und mich.«

Er schnitt mir die Antwort, die er für diese Unverschämtheit verdient hätte, ab, indem er fortfuhr, er garantierte mir schon für denselben Abend tausend Taler, die wir unter uns teilen könnten, wenn ich seinem Rat folgen wollte. Er kenne nämlich einen Standesherrn, der im Punkte des Vergnügens so freigebig sei, daß ihm sicherlich tausend Taler nicht zu viel seien, wenn er dadurch die Gunst eines Mädchens wie Manon genießen könnte.

Ich unterbrach ihn. »Ich hatte von Ihnen eine bessere Meinung«, antwortete ich. »Ich bildete mir ein, das Gefühl, das Sie veranlaßt hat, mir Ihre Freundschaft zu gewähren, sei ganz entgegengesetzt dem, das Sie jetzt geäußert haben.«

Er gestand mir ohne Scham, daß er nie anders gedacht, und da nun seine Schwester sich einmal über die Gesetze ihres Geschlechts hinweggesetzt hätte, wenn auch zugunsten des Mannes, den sie am meisten geliebt, so hätte er sich nur in der Hoffnung mit ihr ausgesöhnt, aus ihrem schlechten Lebenswandel Nutzen zu ziehen.

[66] Ich konnte jetzt leicht sehen, wie er uns bisher zum Narren gehalten hatte. Ich unterdrückte den Unwillen, den seine Worte in mir erregt hatten, und da ich ihn nun einmal brauchte, zwang ich mich zu der lachenden Antwort, sein Rat sei eine letzte Aushilfe, die ich erst im Notfalle ergreifen würde. Ob er mir denn keinen anderen Weg wüßte.

Er schlug mir vor, meine Jugend und das vorteilhafte Aussehen, das ich von Natur hätte, zu benutzen, um mich in Verbindung mit einer alten und freigebigen Dame zu setzen. Aber auch dieses Mittel war nicht nach meinem Geschmack, denn ich wäre dadurch Manon untreu geworden.

Ich sprach zu ihm vom Spiel, das ich für das leichteste und meiner Stellung angemessenste Mittel hielt. Er antwortete mir, das Spiel sei in der Tat eine Geldquelle, aber das müßte noch näher erklärt werden. Nämlich, einfach mit den gewöhnten Chancen zu spielen, das hieße meinen Zusammenbruch noch beschleunigen. Wenn man aber allein und ohne Hilfe die kleinen Mittelchen anwendete, mit denen ein geschickter Mensch seinem Glück nachhilft, so sei das ein zu gefährliches Gewerbe. Allerdings gäbe es einen dritten Weg, den der Vereinigung mit anderen. Er fürchte aber, bei meiner Jugend würden die Teilhaber mich schwerlich für fähig halten, ihrem Bunde beizutreten. Trotzdem versprach er mir seine gute [67] Fürsprache bei ihnen und, was ich nicht von ihm erwartet hatte, bot mir sogar einiges Geld an, falls ich in dringender Verlegenheit sei. Ich bat ihn aber nur um den einzigen Gefallen, Manon von dem Verlust, den ich erlitten, und von unserem ganzen Gespräch nichts zu erzählen.

Ich verließ ihn in unzufriedenerer Stimmung, als ich bei ihm eingetreten war. Ich bereute sogar, ihm mein Geheimnis gestanden zu haben, denn er hatte nichts für mich getan, was ich nicht auch ohne seinen Rat hätte erreichen können, und mich überkam eine tödliche Angst, er möchte sein Versprechen, das er mir gemacht hatte, nämlich Manon nichts zu verraten, doch brechen. Ich hatte auch infolge seines Geständnisses über seinen Charakter allen Grund, zu befürchten, er möchte, um besseren Nutzen aus ihr zu ziehen, wie er sich ja selbst ausdrückte, sie meinen Händen entreißen, oder ihr wenigstens raten, mich zu verlassen, um sich mit einem reicheren und glücklicheren Liebhaber zu verbinden. Ich machte mir darüber tausend Gedanken, die nur dazu dienten, mich zu quälen und mich von neuem in die Verzweiflung zu stürzen, in der ich mich des Morgens befunden hatte.

Ein paarmal kam mir der Gedanke, an meinen Vater zu schreiben und eine neue Bekehrung vorzutäuschen, um dadurch eine Geldhilfe zu erlangen. Aber ich erinnerte mich sofort, daß er mich trotz seiner Güte wegen meines ersten [68] Fehltritts sechs Monate in einem engen Gefängnis gehalten hatte. Sicherlich würde er mich nach dem Aufsehen, das meine Flucht aus Saint-Sulpice verursacht haben mußte, diesmal noch viel strenger behandeln.

Schließlich kam mir inmitten meiner verwirrten Gedanken ein Einfall, der mich sofort beruhigte, und ich wunderte mich nur, daß ich ihn nicht früher gehabt hatte. Ich wollte mich an meinen Freund Tiberge wenden, bei dem ich sicher war, noch immer die alte Treue und Freundschaft zu finden. Nichts ist wunderbarer und ehrenvoller für die Tugend als das Vertrauen, mit dem man sich an Personen wendet, deren unbedingte Rechtschaffenheit man kennt. Man fühlt, daß man bei ihnen keine Gefahr läuft, und wenn sie auch nicht immer in der Lage sind, uns Hilfe zu erweisen, so ist man doch sicher, ihre Güte und ihr Mitleid zu finden. Das Herz, das sich so sorgfältig vor den übrigen Menschen verschließt, öffnet sich ohne weiteres in ihrer Gegenwart, wie eine Blume sich dem Licht der Sonne öffnet, von dem sie nur einen wohltätigen Einfluß erwartet.

Ich hielt es für eine Folge himmlischen Schutzes, daß ich mich gerade jetzt an Tiberge erinnert hatte, und beschloß, es zu ermöglichen, ihn noch am selben Tage zu sehen. Sofort kehrte ich in die Wohnung zurück, um ihm ein paar Zeilen zu schreiben und ihm einen für unsere Unterredung geeigneten Ort anzugeben. Ich bat um sein [69] Schweigen und seine Behutsamkeit, die jetzt der wichtigste Dienst seien, den er mir in meiner augenblicklichen Lage erweisen könnte.

Die Hoffnung, ihn zu sehen, hatte mir eine solche Freude eingeflößt, daß dadurch alle Zeichen des Schmerzes von meinem Gesicht vertilgt wurden, die Manon sicherlich sonst bemerkt hätte. Ich sprach zu ihr von unserem Unglück in Chaillot wie von einer Kleinigkeit, über die sie sich nicht zu beunruhigen brauchte. Und da Paris der Ort war, wo sie sich am liebsten aufhielt, war sie nicht böse, als ich ihr sagte, wir wollten eine Zeitlang hier bleiben, bis in Chaillot einige leichte Spuren des Brandes beseitigt seien.

Eine Stunde später empfing ich Tiberges Antwort, in der er mir versprach, sich an dem bezeichneten Ort einzufinden. Voller Ungeduld lief ich hin, obgleich ich mich etwas schämte, vor den Augen eines Freundes zu erscheinen, dessen bloße Gegenwart ein Vorwurf wegen meiner Ausschweifungen war. Aber mein Glaube an seine Herzensgüte und der Gedanke an Manon hielten meinen Mut aufrecht.

Ich hatte ihn gebeten, sich im Garten des Palais Royal einzufinden. Er war schon vor mir da und eilte, mich zu umarmen, sobald er mich bemerkt hatte. Lange Zeit hielt er mich in seine Arme gedrückt, und ich fühlte, wie mein Gesicht von seinen Tränen feucht wurde. Ich gestand [70] ihm, daß ich nur in äußerster Scham vor ihn hinträte und in meinem Herzen ein brennendes Gefühl meiner Undankbarkeit trüge. Vor allem aber beschwor ich ihn, mir zu sagen, ob ich ihn noch als Freund betrachten dürfte, nachdem ich doch sicherlich verdient hätte, seine Achtung und Zuneigung zu verlieren.

Er antwortete mir im zärtlichsten Ton, daß es nichts auf der Welt gäbe, was diese Freundschaft erschüttern könnte. Gerade mein Unglück und, wenn ich ihm erlaubte, das zu sagen, meine Fehler und Ausschweifungen hätten seine Zärtlichkeit für mich vermehrt. Aber diese Zärtlichkeit sei auch vermischt mit dem bittersten Schmerz, wie man ihn für einen geliebten Menschen empfindet, der seinem Untergang entgegengeht, ohne daß man ihm helfen kann.

Wir setzten uns auf eine Bank. »Ach,« sagte ich zu ihm mit einem Seufzer, der aus meinem tiefsten Herzen kam, »dein Mitgefühl muß unendlich sein, mein lieber Tiberge, wenn du mir versicherst, daß es eben so stark ist wie mein Leid! Ich schäme mich, es dir zu schildern, denn ich bekenne, daß der Grund dazu kein rühmlicher ist. Aber die Folge ist so traurig, daß du mich gar nicht so sehr zu lieben brauchtest, wie du es tust, um dadurch gerührt zu werden.«

Er bat mich, ihm als einen Freundschaftsbeweis ohne alle Umschweife alles zu erzählen, was mir seit meiner [71] Flucht aus Saint-Suplice begegnet war. Ich folgte seinem Wunsche, und weit entfernt, irgendwie von der Wahrheit abzuweichen oder meine Fehler zu verringern, um sie entschuldbarer zu machen, sprach ich zu ihm über meine Leidenschaft mit der ganzen Kraft, die sie mir einflößte.

Ich schilderte sie als einen dieser besonderen Schläge des Schicksals, die sich den Untergang eines armen Menschen vorgenommen zu haben scheinen, gegen die man sich mit keiner Tugend verteidigen, mit keiner Weisheit schützen kann. Ich entwarf ihm ein lebhaftes Bild der Aufregung, Angst und Verzweiflung, die ich noch vor zwei Stunden empfunden hatte, und in die ich sicherlich zurückfallen würde, wenn meine Freunde mich ebenso mitleidlos verließen wie das Glück. Ich rührte schließlich den guten Tiberge so sehr, daß ich ihn ebenso ergriffen von dem Gefühl des Mitleids sah, wie ich es war durch meine eigenen Schmerzen.

Er wurde nicht müde, mich zu umarmen und mich anzuflehen, Mut und Trost zu schöpfen. Aber da er immer noch annahm, daß ich mich von Manon trennen wollte, so sagte ich ihm schließlich geradeheraus, daß ich eben diese Trennung als das allergrößte Unglück für mich ansähe, und daß ich entschlossen wäre, lieber das alleräußerste Elend und den grausamsten Tod zu erleiden, als ein Heilmittel anzunehmen, das für mich viel unerträglicher sei als alle meine Übel zusammen.

[72] »Dann erkläre mir bitte,« sagte er, »auf welche Art ich dir dann helfen soll, wenn du dich gegen alle meine Vorschläge wendest.«

Ich wagte nicht, es auszusprechen, daß ich Geld von ihm haben wollte. Schließlich begriff er es aber, und nachdem er seine Vermutung geäußert hatte, verstummte er eine Zeitlang, und ich sah es ihm an, daß er unschlüssig war.

»Glaube nur nicht,« fuhr er dann fort, »daß mein Überlegen etwas mit einem Kühlerwerden meiner Ergebenheit und Freundschaft zu tun hatte. Aber du bringst mich da in eine sehr zweifelhafte Lage, da ich dir entweder die einzige Hilfe, die du annehmen willst, abschlagen oder meine Pflicht verletzen muß, indem ich sie dir gewähre. Denn heißt das nicht an deiner Ausschweifung teilnehmen, wenn ich dir die Mittel gebe, darin zu verharren?«

Einen Augenblick dachte er von neuem nach. »Aber vielleicht«, fuhr er dann fort, »ist es doch nur die große Erregung, in die dich die plötzliche Armut versetzt hat, die dir nicht genügend Freiheit läßt, das bessere Los zu wählen. Man muß in ruhiger Stimmung sein, um Vernunft und Wahrheit schätzen zu können. Ich werde es ermöglichen, dir etwas Geld zu verschaffen. Erlaube mir, lieber Chevalier,« fügte er hinzu, indem er mich umarmte, »hieran eine einzige Bedingung zu knüpfen. Du mußt [73] mir deine Wohnung mitteilen und mir gestatten, daß ich wenigstens versuche, dich zur Tugend zurückzuführen. Denn ich weiß, daß du sie liebst, und daß nur die Gewalt der Leidenschaft dich davon entfernt hat.«

Ich bewilligte ihm aufrichtig alles, was er wünschte, und bat ihn, es der Boshaftigkeit meines Schicksals zuzuschreiben, wenn ich so wenig Nutzen aus den Ratschlägen eines so tugendhaften Freundes zöge. Er führte mich sofort zu einem ihm bekannten Bankier, der mir auf seine Quittung hundert Pistolen vorstreckte, den ganzen Betrag seines Guthabens. Ich habe schon gesagt, daß er nicht reich war: seine Pfründe brachte ihm tausend Taler ein. Da er sich aber erst im ersten Jahr ihres Besitzes befand, hatte er noch keine Bezüge erhalten, und es war auf diese kommenden Einnahmen, daß er mir diesen Vorschuß gab.

Ich empfand die ganze Tiefe seines Edelmuts. Ich war dadurch so gerührt, daß ich die Verblendung einer Liebe, die mich alle Pflichten verletzen ließ, tief beklagte, und für eine kurze Zeit hatte die Tugend in mir genügende Kraft, sich in meinem Herzen gegen meine Leidenschaft aufzulehnen. Wenigstens bemerkte ich in diesem lichteren Augenblick die Schmach und Schande meiner Fesseln. Aber der Kampf war nur schwach und dauerte nicht lange. Der Anblick Manons hätte mich veranlassen können, mich selbst aus dem Himmel herabzustürzen, und als [74] ich mich wieder bei ihr befand, wunderte ich mich, daß ich meine Liebe zu einem so reizenden Geschöpf auch nur einen Augenblick für etwas Schändliches hatte halten können.

Manon war ein Geschöpf von ungewöhnlichem Charakter. Es gab wohl kein anderes Mädchen, das so wenig wie sie am Gelde hing, aber sie geriet trotzdem sofort in große Unruhe, wenn sie auch nur einen Augenblick befürchtete, in Mangel zu kommen. Vergnügen und Zeitvertreib waren ihr nun einmal Bedürfnis. Sie hätte niemals einen Sou auch nur angerührt, falls es Vergnügungen, die nichts kosteten, gegeben hätte. Wenn sie nur angenehm den Tag verbringen konnte, dann fragte sie gar nicht danach, wie unsere Geldverhältnisse standen. Da sie nun nicht leidenschaftlich dem Spiel ergeben, noch berauscht war von dem Schimmer großer Ausgaben, so war nichts leichter, als sie zufriedenzustellen, wenn man ihr nur täglich Vergnügungen nach ihrem Geschmack bot. Aber sich durch Unterhaltungen zu beschäftigen, das war für sie so notwendig, daß man sich sonst nicht auf ihre Laune und Stimmung verlassen konnte.

Obgleich sie mich zärtlich liebte, und ich, wie sie gern gestand, der einzige war, bei dem sie wirklich einen vollkommenen Genuß der Liebe empfand, so zweifelte ich doch nicht daran, daß ihre Zärtlichkeit sich nicht gegen gewisse Befürchtungen halten könnte. Selbst bei einem [75] bescheidenen Vermögen hätte sie mich der ganzen Welt vorgezogen, aber es war auch sicher, daß sie mich für einen neuen de B*** verlassen würde, wenn ich nur noch allein meine Beständigkeit und Treue anzubieten hatte.

Ich beschloß daher, meine persönlichen Ausgaben so sehr zu beschränken, daß ich den ihrigen immer genügen konnte, und mich lieber der notwendigsten Dinge zu berauben, ehe ich ihr selbst das Überflüssige versagte. Der Wagen machte mir daher am meisten Sorgen, denn es sah nicht so aus, als könnte ich Pferde und Kutscher unterhalten.

Ich schilderte Herrn Lescaut meine Besorgnis und verschwieg ihm auch nicht, daß ich von einem Freund hundert Pistolen erhalten hätte. Er sagte mir nochmals, wenn ich mein Glück mit dem Spiel versuchen wollte, so hoffe er bestimmt, daß ich auf seine Empfehlung in die Zunft der gewerbsmäßigen Spieler aufgenommen werden würde. Doch wäre es gut, wenn ich auf noble Art hundert Franken opferte, um meine neuen Genossen zu bewirten. Obgleich ich nun gegen die ganze Sache ein starkes inneres Widerstreben fühlte, gab ich schließlich, durch die harte Notwendigkeit gezwungen, nach.

Herr Lescaut stellte mich noch am selben Abend als einen seiner Verwandten vor. Er fügte hinzu, ich würde mir um so mehr Mühe geben, Erfolg zu erringen, da ich in besonderem Maße auf Geld angewiesen sei. Um [76] aber zu zeigen, daß meine Verlegenheit nicht die eines Habenichts sei, teilte er ihnen meine Absicht mit, ihnen ein Souper zu geben. Das Anerbieten wurde angenommen, und ich bewirtete sie in prächtiger Weise. Man unterhielt sich ausführlich über mein sympathisches Aussehen und meine glückverheißenden Anlagen und behauptete, ich hätte sehr günstige Aussichten, denn da in meinen Gesichtszügen etwas läge, was den ehrlichen Mann verriete, so würde mir niemand falsches Spielen zutrauen. Schließlich dankte man Herrn Lescaut, weil er der Gemeinschaft einen Novizen von solcher Begabung zugeführt habe, und beauftragte einen der Kavaliere, mir ein paar Tage lang den nötigen Unterricht zu geben.

Der hauptsächlichste Schauplatz meiner Tätigkeit sollte das Hotel de Transsylvanie sein, wo sich im Saal ein Pharotisch befand, und auf der Galerie andere Karten- und Würfelspiele gespielt wurden. Dieses Spielhaus wurde von dem Prinzen de R*** unterhalten, der damals in Clagny wohnte, und die Mehrzahl seiner Offiziere gehörte zu unserer Gesellschaft. Muß ich es zu meiner Schande gestehen? Ich machte mir in kurzer Zeit den Unterricht meines Lehrers zunutze. Vor allem erwarb ich eine große Fertigkeit, die Volte zu schlagen und Karten verschwinden zu lassen. Indem ich mich geschickt meiner langen Manschetten bediente, brachte ich sie so anmutig beiseite, daß ich selbst die Augen der erfahrensten Menschen [77] täuschte und ohne Mitleid eine Menge ehrlicher Spieler ruinierte. Diese außerordentliche Geschicklichkeit verbesserte so schnell meine Vermögensumstände, daß ich in wenigen Wochen beträchtliche Summen besaß, neben dem Geld, das ich in ehrlicher Weise mit meinen Genossen teilte.

Ich hatte jetzt keine Bedenken mehr, Manon unseren Verlust in Chaillot mitzuteilen, und um sie wegen der schlimmen Nachricht zu trösten, mietete ich ein möbliertes Haus, wo wir uns in üppiger und gesicherter Art einnisteten.

Tiberge hatte nicht verfehlt, mich während der ganzen Zeit häufig zu besuchen. Seine Moralpredigten nahmen kein Ende. Immer wieder hielt er mir das Unrecht vor, das ich an meinem Gewissen, meiner Ehre und meinem Lebensglück beginge. Ich nahm seine Lehren in aller Freundschaft auf, und obgleich ich nicht die mindeste Neigung hegte, sie zu befolgen, war ich ihm doch dankbar für seinen Eifer, dessen Ursprung ich ja kannte. Manchmal neckte ich ihn freundlich, auch in Manons Gegenwart, und beschwor ihn, doch nicht gewissenhafter zu sein als eine große Anzahl von Bischöfen und Priestern, die sich trotz ihres heiligen Amts eine Geliebte halten.

»Sieh sie doch an,« sagte ich, indem ich mit den Augen auf die meinige wies, »und sage mir, ob es Sünden gibt, die um eines so schönen Grundes willen nicht gerechtfertigt sind.«

Er verhielt sich stets geduldig und ging darin sogar sehr [78] weit. Als er aber sah, daß meine Reichtümer sich vermehrten, und daß ich ihm nicht nur seine hundert Pistolen zurückgab, sondern mir auch ein neues Haus mietete, meine Ausgaben verdoppelte und mich wilder als je in die Vergnügungen stürzte, da änderte er ganz und gar seinen Ton und sein Auftreten. Er beklagte sich über meine Verhärtung, er bedrohte mich mit den Strafen des Himmels und sagte mir einen Teil des Unglücks voraus, das mich bald darauf auch ereilen sollte.

»Es ist unmöglich,« sprach er zu mir, »daß die Reichtümer, die dir zur Fortführung deiner Ausschweifungen dienen, auf ehrliche Weise in deinen Besitz gekommen sind. Du hast sie unrechtmäßigerweise erworben, und sie werden dir auch ebenso genommen werden. Die schrecklichste Strafe Gottes wäre es allerdings, wenn er sie dich ruhig genießen ließe. Alle meine Ratschläge«, fuhr er fort, »sind zwecklos gewesen, ich sehe nur zu gut, daß sie dir in kurzer Zeit lästig wurden. Lebe wohl, undankbarer und haltloser Freund. Mögen deine verbrecherischen Vergnügungen verschwinden wie ein Schatten! Möge dein Vermögen und dein Geld unwiederbringlich verlorengehen, bis du allein und bloß dastehst und die Eitelkeit der Güter empfindest, die dich so wahnsinnig berauscht haben! Dann wirst du mich auch wieder geneigt finden, dich zu lieben und dir zu helfen, aber für jetzt breche ich jeden Verkehr mit dir ab, denn ich verachte das Leben, das du führst.«

[79] Es war in meinem Zimmer und in der Gegenwart Manons, daß er mir diese heilige Predigt hielt. Er erhob sich, um zu gehen. Ich wollte ihn zurückhalten, wurde aber daran durch Manon gehindert, die sagte, er sei ein Verrückter, den man gehen lassen müsse.

Seine Worte verfehlten nicht, einen gewissen Eindruck auf mich zu machen. Ihnen schreibe ich es zu, daß mein Herz bei verschiedenen Gelegenheiten eine Rückwendung zum Guten verspürte, und der Erinnerung an ihn verdankte ich später unter den unglückseligsten Umständen meines Lebens einen Teil meiner Kraft.

Die Liebkosungen Manons zerstreuten in einem Augenblick den Kummer, den der Auftritt mir bereitet hatte, und wir fuhren fort, ein Leben zu führen, das ganz dem Vergnügen und der Liebe gewidmet war. Das Anwachsen unserer Reichtümer verdoppelte unsere gegenseitige Zuneigung. Venus und Fortuna haben niemals glücklichere Sklaven gehabt. Bei Gott, warum nennt man nur die Welt ein Jammertal, wenn sie uns so entzückende Genüsse zu kosten gibt! Aber ach, das Schlimme an ihr ist, daß ihre Wonnen nur so kurze Zeit dauern. Wie ganz anders wäre unser Glück, wenn es niemals ein Ende nähme? Jedenfalls hatte auch unser beider Glück das allgemeine Schicksal, nämlich nur kurze Zeit zu währen und von bitterer Reue gefolgt zu werden.

Ich hatte beim Spiel so beträchtliche Gewinne gemacht, [80] daß ich daran dachte, einen Teil meines Geldes anzulegen. Meine Bedienten wußten um meine Erfolge, vor allem mein Kammerdiener und Manons Zofe, in deren Gegenwart wir uns öfters ohne Zwang unterhielten. Das Mädchen war hübsch, und mein Kammerdiener liebte sie. Sie hatten es mit einer jungen und nachsichtigen Herrschaft zu tun, so daß sie nicht daran zweifelten, uns leicht zu hintergehen. Sie faßten diesen Plan und führten ihn in einer für uns so unheilvollen Weise aus, daß sie uns in eine Lage brachten, aus der es uns nie wieder möglich war, uns zu erheben.

Herr Lescaut hatte uns eines Abends zum Essen eingeladen, und es war ungefähr Mitternacht, als wir in unsere Wohnung zurückkehrten. Ich rief nach meinem Kammerdiener, und Manon nach ihrer Zofe, aber weder der eine noch die andere erschienen. Man teilte uns mit, daß man sie seit acht Uhr nicht mehr im Hause gesehen hatte. Sie seien fortgegangen, nachdem sie angeblich nach meinem Befehl einige Kisten fortgeschafft hätten.

Ich ahnte schon die halbe Wahrheit, aber meine schlimmsten Befürchtungen wurden von dem Anblick übertroffen, der sich mir bot, als ich in mein Zimmer trat. Die Tür zu meinem Kabinett war gewaltsam erbrochen, und mein ganzes Geld mit allen meinen Kleidern war gestohlen. Während ich noch dastand und über das Unglück nachdachte, kam Manon ganz erschreckt herein und teilte [81] mir mit, daß man ihr Zimmer ebenso ausgeplündert hätte.

Dieser Schlag traf mich so hart, daß ich mich mit aller Gewalt zusammennehmen mußte, um nicht in Schreien und Weinen auszubrechen. Aus Furcht, meine Verzweiflung Manon sehen zu lassen, zwang ich mich zu einem ruhigen Gesichtsausdruck. Scherzend sagte ich zu ihr, dafür würde ich schon einen Dummkopf im Hotel de Transsylvanie hochnehmen. Unser Unglück schien aber auf sie einen solchen Eindruck gemacht zu haben, daß ihr Schmerz mich in stärkerem Maße bedrückte, als mein geheuchelter Gleichmut sie hätte aufrechthalten können.

»Wir sind verloren!« rief sie mit Tränen in den Augen.

Vergebens versuchte ich, sie durch Zärtlichkeiten zu trösten. Meine eigenen Tränen verrieten meine Verzweiflung und Bestürzung. Wir waren ja auch tatsächlich so ruiniert, daß uns nicht einmal ein Hemd blieb.

Ich entschloß mich, sofort Herrn Lescaut holen zu lassen. Er riet mir, noch zu dieser Stunde zum Herrn Polizeidirektor und zum Herrn Gerichtsverwalter von Paris zu gehen. Ich ging auch hin, aber nur zu meinem größten Unheil. Denn abgesehen davon, daß dieser Schritt und alles, was diese beiden Beamten auf meine Veranlassung unternahmen, zu nichts führte, gab ich Lescaut Zeit, sich mit seiner Schwester zu unterhalten und ihr in meiner Anwesenheit einen abscheulichen Rat einzuflößen.

[82] Er sprach zu ihr über Herrn de G*** M***, einen alten Wüstling, der für seine Vergnügungen enorm bezahlte, und wußte ihr die Vorteile, die sie durch ein Verhältnis mit ihm haben würde, so eindringlich zu schildern, daß sie, noch ganz verwirrt von unserem Unglück, auf alles einging, was er ihr vorredete. Dieser schöne Handel wurde, bevor ich zurückkam, abgeschlossen und die Ausführung auf den nächsten Tag verschoben, indem Lescaut inzwischen Herrn de G*** M*** benachrichtigen wollte.

Er wartete noch in meiner Wohnung auf mich, als ich ankam. Manon aber hatte sich in ihrem Zimmer zu Bett gelegt und ließ mir durch ihren Diener sagen, daß sie etwas Ruhe brauchte und mich bäte, sie während der Nacht allein zu lassen. Lescaut verließ mich, nachdem er mir einige Pistolen angeboten hatte, die ich auch annahm.

Es war fast vier Uhr, als ich mich zu Bett begab, und nachdem ich noch lange Zeit darüber nachgedacht hatte, durch welche Mittel ich mein Vermögen wiederherstellen könnte, schlief ich so spät ein, daß ich erst gegen elf oder zwölf wieder erwachte. Ich erhob mich sofort, um mich nach Manons Befinden zu erkundigen, und erfuhr, daß sie vor einer Stunde mit ihrem Bruder ausgegangen sei, der sie in einer Mietskutsche abgeholt habe.

Obgleich nun dieses Fortgehen mit Lescaut mir verdächtig erschien, zwang ich mich mit Gewalt, meine Befürchtungen zu unterdrücken. Ich ließ einige Stunden, die ich [83] mit Lesen verbrachte, vorübergehen. Dann aber konnte ich meine Unruhe nicht mehr bemeistern und schritt mit schnellen Schritten durch unsere Gemächer. Im Zimmer Manons sah ich plötzlich einen versiegelten Brief, der auf ihrem Tische lag. Er war an mich gerichtet, und ich erkannte ihre Handschrift. Mit einem eisigen Schrecken öffnete ich ihn, er hatte folgenden Inhalt:

»Ich schwöre Dir, mein lieber Chevalier, daß Du der Abgott meines Herzens bist, und daß es niemand auf der Welt gibt, den ich so lieben könnte wie Dich. Aber siehst Du nicht, Du liebe, gute Seele, daß in dem Zustand, in den wir hinabgesunken sind, die Treue eine törichte Tugend wäre? Glaubst Du, man könnte sich zärtlich lieben, wenn es am Nötigsten fehlt? Der Hunger könnte mich zu einem fatalen Irrtum verleiten, indem ich eines Tages meinen letzten Seufzer ausstieße in dem Glauben, es sei ein Liebesseufzer. Ich bete Dich an, rechne darauf, aber laß mir einige Zeit, um unser Vermögen wieder herzustellen! Wehe dem, der in meine Netze fällt! Ich arbeite nur daran, meinen Chevalier reich und glücklich zu machen. Mein Bruder wird Dir Nachrichten von Deiner Manon bringen, er wird Dir erzählen, daß sie geweint hat über die Notwendigkeit, Dich zu verlassen.«

Ich blieb, als ich den Brief gelesen hatte, in einem Zustand, den ich schwer beschreiben kann, denn ich weiß heute noch nicht, welche Art von Gefühl mich erregte. Ich [84] befand mich in einer jener einzigartigen Lagen, die man mit nichts anderem vergleichen kann. Man kann sie keinem Außenstehenden schildern, weil der sich auch nicht einmal eine Vorstellung davon machen könnte. Ja, man hat Mühe, sie sich selber klarzumachen, da sie durch ihren ganz besonderen Charakter sich mit nichts im Gedächtnis verknüpfen und mit keinem bekannten Gefühl verglichen werden können. Aber welcher Natur nun auch meine Empfindungen waren, jedenfalls wurden sie von Schmerz, Verachtung, Eifersucht und Scham getränkt. Ich hätte es als Glück empfunden, wenn darin keine Liebe mehr gewesen wäre.

»Sie liebt mich,« rief ich aus, »ich will es glauben. Aber müßte sie denn nicht ein Untier sein, wenn sie mich haßte? Welches Anrecht auf ein Herz kann es denn überhaupt geben, das ich nicht auf das ihrige habe? Was soll ich denn überhaupt noch für sie tun nach allem, was ich ihr geopfert habe? Und doch verläßt sie mich! Und die Undankbare glaubt sich gegen alle meine Vorwürfe geschützt zu haben, indem sie mir sagt, sie habe nicht aufgehört, mich zu lieben! Sie fürchtet sich vor dem Hunger! O heilige Liebe, was für rohe Gefühle sind das, und wie wenig entsprechen sie meinem Zartgefühl! Ich habe mich nicht davor gefürchtet, ich, der ich mich gern dem Hunger aussetzte, indem ich ihretwegen auf mein Vermögen und auf die Annehmlichkeiten meines Vaterhauses verzichtete.[85] Ich, der ich auf die notwendigsten Dinge verzichtet habe, um ihre geringsten Launen und Wünsche zu befriedigen! Sie betet mich an, sagte sie. Wenn du mich anbetetest, du Undankbare – ach, ich weiß wohl, welchen Ratschlägen du gefolgt bist –, dann hättest du mich nicht verlassen, wenigstens hättest du es nicht getan, ohne mir Lebewohl zu sagen. Ich und nicht du könnte über die grausamen Schmerzen reden, die man bei der Trennung von einem angebeteten Wesen empfindet. Und man müßte den Verstand verloren haben, wenn man sich dem freiwillig aussetzte.«

Meine Klagen wurden durch einen Besuch unterbrochen, den ich nicht erwartet hatte. Lescaut trat ins Zimmer.

»Du Henker!« schrie ich, indem ich meinen Degen zog. »Wo ist Manon? Was hast du mit ihr getan?«

Meine Bewegung erschreckte ihn. Er antwortete mir, wenn ich ihn so empfinge, nachdem er mir den größten Dienst erwiesen habe, den er überhaupt für mich tun könnte, dann würde er sich zurückziehen und nie wieder einen Fuß über meine Schwelle setzen.

Ich aber lief nach der Tür und verschloß sie sorgfältig. »Bilde dir nicht ein,« sagte ich, indem ich mich zu ihm wandte, »daß du mich noch einmal zum Narren halten kannst, indem du mir Märchen erzählst. Du mußt um dein Leben kämpfen oder mir Manon wiedergeben.«

»Nein, wie aufgeregt Sie nur sind!« antwortete er.[86] »Ich komme doch eben deshalb her. Ich will Ihnen ein Glück ankündigen, an das Sie gar nicht gedacht haben, und vielleicht werden Sie dann auch anerkennen, daß Sie mir zum Dank verpflichtet sind.«

Ich verlangte sofortige Aufklärung.

Er erzählte mir, daß Manon, die die Angst vor der Armut und überhaupt den Gedanken, zu einer Einschränkung unserer Lebenshaltung gezwungen zu sein, nicht ertragen konnte, ihn gebeten habe, ihr die Bekanntschaft mit Herrn de G*** M*** zu verschaffen, der als sehr freigebig gälte. Er scheute sich auch nicht, mir zu sagen, daß der Rat eigentlich von ihm komme, und daß er ihr den Weg geebnet habe, bevor er sie zu ihm hinführte.

»Ich habe sie heute früh dorthin gebracht,« fuhr er fort, »und dieser wackere Mann war so entzückt von ihren Vorzügen, daß er sie zunächst eingeladen hat, ihm auf seinem Landgut Gesellschaft zu leisten, wohin er für einige Tage gegangen ist. Ich, der ich sofort begriff, welchen Vorteil das für Sie haben könnte, habe ihm geradeheraus erzählt, daß Manon beträchtliche Verluste erlitten hätte. Ich habe seine Großmut so angestachelt, daß er ihr gleich zu Anfang ein Geschenk von zweihundert Pistolen machte. Dann sagte ich ihm, daß das zunächst ja ganz anständig wäre, daß aber meine Schwester in der Zukunft große Ausgaben haben würde. Sie habe noch für einen jüngeren Bruder zu sorgen, der nach dem [87] Tode unserer Eltern in unserer Obhut verblieben sei, und wenn er sie seiner Achtung für würdig hielte, dann dürfe er sie nicht wegen dieses armen Kindes leiden lassen, das ein Teil ihres eigenen Wesens sei. Meine Erzählung verfehlte nicht, ihn zu rühren. Er versprach, für Sie und Manon eine nette Wohnung zu mieten, denn Sie sind natürlich selbst dieser arme, kleine, verwaiste Bruder. Er hat mir zugesagt, alles nett einzurichten und Ihnen jeden Monat vierhundert bare Franken zu zahlen, was, wenn ich recht zähle, im Jahr viertausendachthundert Franken sind. Er hat, bevor er aufs Land abreiste, seinen Hausmeister beauftragt, eine Wohnung zu suchen und sie zu seiner Rückkehr bereitzuhalten. Sie werden dann also Manon wiedersehen, die Ihnen tausend Küsse schickt und Ihnen durch mich sagen läßt, daß sie Sie mehr als jemals liebt.«

Ich setzte mich hin und dachte über die seltsame Veränderung meines Schicksals nach. Ich befand mich in einem solchen Zwiespalt der Gefühle und daher auch in einer so schwer zu überwindenden Ungewißheit, daß ich lange Zeit stumm dasaß, ohne auf die vielen Fragen zu antworten, die Lescaut nach und nach an mich richtete. In diesem Augenblick veranlaßten mich Ehre und Tugend noch einmal zu den quälendsten Gewissensbissen, und seufzend richtete ich meinen inneren Blick nach Amiens, nach dem Hause meines Vaters, nach Saint-Sulpice und nach allen Orten, wo ich in Unschuld gelebt hatte.

[88] Welche ungeheure Zeitspanne trennte mich jetzt von diesem glücklichen Zustand! Ich sah ihn nur noch in weiter Ferne wie einen Schatten, der wohl noch meine Reue und Sehnsucht hervorrief, aber doch zu verblaßt war, um mich zum Handeln anzutreiben.

»Welches Verhängnis«, sagte ich zu mir, »hat mich so verbrecherhaft gemacht? Die Liebe ist doch eine unschuldige Leidenschaft, wie konnte sie bei mir zu einer Quelle von Elend und Ausschweifungen werden? Was hindert mich denn, mit Manon ruhig und tugendhaft zu leben? Warum habe ich sie nicht geheiratet, um nichts zu besitzen als ihre Liebe? Mein Vater, der mich so zärtlich liebt, würde er nicht schließlich zugestimmt haben, wenn ich ihm mit einer legitimen Verbindung entgegengetreten wäre? Ach, mein Vater hätte sie selbst geliebt als eine reizende Tochter, die nur zu würdig war, die Frau seines Sohnes zu sein. Wie glücklich würde ich sein mit der Liebe Manons, der Zuneigung meines Vaters, der Achtung aller anständigen Leute, mit den Gaben des Reichtums und dem Frieden der Tugend! Wie anders ist nun alles geworden! Welche schändliche Rolle wird mir vorgeschlagen! Was, ich soll von diesem Geld nehmen? ... Aber bleibt mir denn überhaupt noch eine Wahl, wenn Manon es so bestimmt hat, und ich sie ohne diese Nachgiebigkeit verliere?«

Ich schloß einen Augenblick die Augen, wie um diese [89] schmerzlichen Erwägungen zu verscheuchen. »Herr Lescaut,« rief ich dann aus, »wenn Sie diese Absicht gehabt haben, mir einen Dienst zu erweisen, so bin ich Ihnen dafür dankbar. Sie hätten nur einen ehrenhafteren Weg wählen sollen. Aber, nicht wahr, die Sache ist erledigt? Denken wir also nur daran, aus Ihren Bemühungen Nutzen zu ziehen und Ihren Plan zu verwirklichen.«

Lescaut, dem mein Zorn und das darauf folgende lange Stillschweigen viel Unbehagen verursacht hatten, war entzückt, als ich einen ganz anderen Entschluß faßte, als er ihn zweifellos befürchtet hatte. Er war nichts weniger als mutig, wovon ich in der Folge mehrere Beweise erfuhr.

»Ja, ja,« beeilte er sich, mir zu antworten, »es ist ein sehr guter Dienst, den ich Ihnen erwiesen habe, und Sie werden sehen, wir werden daraus noch größere Vorteile ziehen, als Sie vielleicht erwartet haben.«

Wir berieten nun, wie wir am besten dem Mißtrauen begegnen würden, das Herr de G*** M*** gegen unsere Geschwisterschaft fassen könnte, wenn er sah, daß ich doch etwas älter war, als er gedacht hatte. Wir fanden schließlich kein anderes Mittel, als vor ihm ein schlichtes und provinziales Wesen anzunehmen und ihn in den Glauben zu versetzen, ich wollte mich dem geistlichen Stande widmen und ginge deshalb täglich ins Gymnasium. Wir beschlossen auch, daß ich mich das erstemal, wenn ich [90] zur Ehre zugelassen würde, ihn zu begrüßen, sehr einfach kleiden sollte.

Drei oder vier Tage später kam er zur Stadt zurück. Er selbst brachte Manon in die Wohnung, die sein Hausmeister hatte einrichten lassen. Sie benachrichtigte sofort Lescaut von ihrer Rückkehr, und nachdem dieser es mir auch mitgeteilt hatte, begaben wir uns beide zu ihr hin. Der alte Liebhaber war schon fortgegangen.

Trotz der Ergebung, mit der ich mich ihrem Willen unterworfen hatte, konnte ich doch bei ihrem Anblick nicht das Widerstreben meines Herzens überwinden. Ich erschien ihr traurig und niedergeschlagen. Die Freude des Wiedersehens konnte doch nicht ganz bei mir den Schmerz über ihre Untreue verwischen. Sie dagegen schien ganz entzückt zu sein von dem Vergnügen, mich wieder zu sehen. Sie machte mir Vorwürfe über meine Kälte. Ich konnte mich nicht enthalten die Worte Verrat und Untreue auszustoßen, die ich mit tiefen Seufzern begleitete.

Anfangs scherzte sie über meine Einfalt, als sie aber meine immer auf sie gerichteten traurigen Blicke sah und die Mühe bemerkte, die ich hatte, um eine meinen Gefühlen und Wünschen so widerstrebende Veränderung zu ertragen, ging sie schnell in ihr Kabinett. Ich folgte ihr einen Augenblick später und fand sie hier ganz in Tränen. Ich fragte sie, warum sie weine.

»Es wird dir nicht schwer sein, das zu sehen«, sagte sie.

[91] »Welchen Wert soll das Leben für mich haben, wenn du bei meinem Anblick ein so finsteres und betrübtes Gesicht machst? In der ganzen Stunde, seit du hier bist, hast du mir nicht einen Kuß gegeben, und die meinigen hast du mit der Majestät eines Großsultans im Serail angenommen.«

»Höre mich an, Manon«, antwortete ich, indem ich sie umarmte. »Ich kann dir nicht verhehlen, daß mein Herz tödlich verletzt ist. Ich spreche jetzt nicht von der Bestürzung, in die deine unvermutete Flucht mich versetzt hat, noch von der Grausamkeit, mit der du mich ohne ein Wort der Tröstung verlassen, nachdem du die Nacht in einem andern Bett als dem meinen verbracht hattest – der Zauber deiner Gegenwart würde mich das alles bald vergessen machen. Aber glaubst du, ich könnte ohne Seufzer und sogar ohne Tränen zu vergießen,« – hierbei rannen mir wirklich Tränen aus den Augen – »an das traurige und unglückliche Leben denken, das ich hier in diesem Hause führen soll? Lassen wir meine Herkunft und meine Ehre beiseite! Solche Gründe kommen nicht in Betracht, wenn es sich um eine Liebe wie die meinige handelt. Aber diese Liebe selbst – kannst du dir nicht vorstellen, wie sie leidet, wenn sie sich so übel belohnt oder vielmehr so grausam behandelt sieht durch eine undankbare und gefühllose Herrin? ...«

Sie unterbrach mich. »Halt ein, mein Chevalier«, rief [92] sie. »Es ist zwecklos, mich mit solchen Vorwürfen zu quälen, die mein Herz durchbohren, da sie von dir kommen. Ich sehe, was dich verletzt. Ich hatte gehofft, du würdest einem Plane zustimmen, den ich gefaßt hatte, um unsere Vermögenslage etwas zu verbessern, und nur um dein Zartgefühl zu schonen, hatte ich ohne deine Zustimmung mit der Ausführung begonnen. Aber ich will auf ihn verzichten, da du ihn nicht billigst.«

Sie fügte hinzu, daß sie mich nur um etwas Nachsicht für den Rest des Tages bäte. Sie hätte schon zweihundert Pistolen von ihrem alten Liebhaber erhalten, und nun habe er ihr versprochen, ihr zum Abend ein schönes Perlenhalsband mit anderen Schmucksachen zu bringen, ferner noch dazu die Hälfte der zugesagten Jahrespension.

»Lasse mir nur so viel Zeit,« sagte sie, »diese Geschenke anzunehmen. Ich schwöre dir, daß er sich keiner Gunstbezeugung rühmen kann, die ich ihm erwiesen hätte, denn ich habe ihn bisher auf die Stadt vertröstet. Es ist wahr, daß er mir unzählige Male die Hände geküßt hat, und natürlich muß er für dieses Vergnügen bezahlen. Jedenfalls werden da fünf- oder sechstausend Franken nicht zuviel sein, wenn man diesen Preis mit seinem Reichtum und seinem Alter vergleicht.«

Ihr Entschluß war mir unendlich angenehmer als die Hoffnung auf die fünftausend Franken. Ich erkannte jetzt, daß mein Herz noch nicht alles Ehrgefühl verloren hatte, [93] da es eine solche Befriedigung fühlte, der Schande entgangen zu sein. Aber mein Geschick hatte mich für kurze Freuden und lange Leiden bestimmt, und das Glück errettete mich nur aus einem Abgrund, um mich in einen anderen fallen zu lassen. Als ich durch tausend Zärtlichkeiten Manon gezeigt hatte, wie glücklich ich mich über ihre Willensänderung fühlte, sagte ich ihr, wir müßten nun aber Herrn Lescaut davon in Kenntnis setzen, um uns über unsere weiteren Schritte zu beraten.

Er machte anfangs Einwendungen, aber als er von den vier- oder fünftausend Franken bares Geld hörte, ging er freudig auf unseren Plan ein. Wir beschlossen also, uns alle zum Souper mit Herrn de G*** M*** einzufinden, und zwar aus zwei Gründen. Erstens wollten wir das Vergnügen des hübschen Schauspiels genießen, das ich durch meine Rolle als Schüler und Bruder der Manon bot, dann aber hinderten wir dadurch den alten Wüstling, sich mit meiner Geliebten infolge des Anrechts, das er durch seine freigebige Vorauszahlung zu haben glaubte, allzu intim abzugeben. Wir beide, Lescaut und ich, wollten aufbrechen, sobald er in das Zimmer hinaufging, in welchem er die Nacht zu verbringen gedachte. Dann aber sollte Manon, statt ihm zu folgen, auch hinausgehen und darauf mit mir zusammen sein. Lescaut versprach, dafür zu sorgen, daß rechtzeitig ein Wagen an der Türe stand.

Die Stunde des Soupers kam heran, und Herr de G*** [94] M*** ließ nicht lange auf sich warten. Herr Lescaut befand sich mit seiner Schwester im Speisezimmer. Als erste Artigkeit bot der Alte seiner Schönen eine Halskette, Armbänder und Perlenohrringe an, die mindestens tausend Taler wert waren. Dann zählte er ihr in schönen Goldlouis die Summe von zweitausendvierhundert Franken auf, die die Hälfte ihres Jahresgeldes waren. Er begleitete sein Geschenk mit zahlreichen Liebenswürdigkeiten im alten höfischen Stil. Manon konnte nicht umhin, ihm einige Küsse zu gestatten, wofür sie ja auch ein Anrecht auf das Geld erwarb, das er ihr übergeben hatte. Ich befand mich noch an der Tür und lauschte, denn ich sollte warten, bis Lescaut mich aufforderte, hereinzutreten.

Endlich, als Manon das Geld und die Schmucksachen beiseitegebracht hatte, kam er heraus und nahm mich bei der Hand. Er führte mich zu Herrn de G*** M*** und forderte mich auf, ihm meine Aufwartung zu machen. Ich verneigte mich zwei- oder dreimal aufs tiefste vor ihm.

»Entschuldigen Sie, mein Herr«, sagte nun Herr Lescaut zu ihm. »Er ist noch ein richtiges Kind und, wie Sie sehen, weit davon entfernt, die Pariser Lebensart zu besitzen. Aber wir hoffen, daß er sich mit der Zeit abschleifen wird.« Dann wandte er sich zu mir. »Du wirst hier oft die Ehre haben, den Herrn zu sehen. Sieh zu, daß du Vorteil von einem solchen Vorbild hast.«

Dem alten Liebhaber schien meine Erscheinung Vergnügen [95] zu machen. Er tätschelte mich zwei- oder dreimal leicht auf die Wange und sagte, ich wäre ein hübscher Junge, aber ich müßte in Paris sehr auf der Hut sein, weil hier die jungen Leute so leicht zu Ausschweifungen verführt würden. Lescaut versicherte, ich sei von Natur so tugendhaft, daß ich nur davon spräche, Priester zu werden, und ich unterhielte mich am liebsten damit, kleine Kapellen zu bauen.

»Ich finde, daß er Manon gleicht«, fuhr der Alte fort, indem er mit der Hand mein Kinn erhob.

Ich antwortete mit einer einfältigen Miene: »Mein Herr, das kommt daher, weil wir ja fast ein Fleisch sind. Auch liebe ich meine Schwester wie mein zweites Ich.«

»Hören Sie, was er sagt?« fragte er Lescaut. »Er ist nicht dumm. Schade, daß dieses Kind nicht etwas mehr Menschenkenntnis besitzt.«

»Oh, mein Herr,« erwiderte ich, »ich habe in meiner Heimat viele Menschen in den Kirchen gesehen, und ich glaube, daß ich in Paris dümmere finden werde, als ich selbst es bin.«

»Sehen Sie,« fügte der Alte hinzu, »für ein Kind aus der Provinz ist das wundervoll gesagt.«

Unsere Unterhaltung verlief während des Essens fast ganz in dieser Weise. Die mutwillige Manon war ein paarmal nahe daran, in lautes Lachen auszubrechen. Ich fand im Verlauf des Soupers Gelegenheit, dem Alten [96] seine eigene Geschichte und das üble Schicksal, das ihn erwartete, als Anekdote zu erzählen. Lescaut und Manon zitterten während meiner Erzählung, besonders, als ich sein Aussehen ganz natürlich schilderte. Aber seine Eigenliebe hinderte ihn, sich selbst zu erkennen, und ich kam mit meiner Geschichte so geschickt zu Ende, daß er der erste war, der sie sehr komisch fand. Wie Sie sehen werden, hat es seine Gründe, warum ich diese lächerliche Szene so ausführlich wiedergebe.

Endlich, als die Schlafenszeit herangekommen war, sprach er von der Liebe und seiner Ungeduld. Lescaut und ich zogen uns zurück. Man führte ihn auf sein Zimmer, und Manon, die unter irgendeinem Vorwand einmal hinausgegangen war, traf uns an der Türe. Der Wagen, der drei oder vier Häuser weiter auf uns wartete, fuhr heran, damit wir einsteigen konnten, und in wenigen Augenblicken waren wir aus dem Viertel verschwunden.

Obgleich diese ganze Handlung in meinen eigenen Augen eine richtige Betrügerei war, so schien sie mir noch nicht die schlimmste zu sein, die ich mir vorwerfen mußte. Ich machte mir größere Gewissensbisse wegen des Geldes, das ich beim Spiel erworben hatte. Indessen sollte uns weder das eine, noch das andere lange zugute kommen, und der Himmel wollte es, daß die geringste von diesen beiden Ungerechtigkeiten am schärfsten bestraft wurde.

[97] Herr de G*** M*** brauchte natürlich keine lange Zeit, um zu bemerken, daß er betrogen war. Ich weiß nicht, ob er noch an demselben Abend Schritte unternahm, um uns aufzuspüren. Jedenfalls standen ihm genügend Mittel zu einem schnellen Erfolg zur Verfügung, während wir so töricht waren, uns auf die Größe von Paris und die Entfernung unserer Wohnung von der seinigen zu verlassen. Er erfuhr nicht nur unsere Wohnung und unsere augenblickliche Lage, sondern auch meinen Namen, und was für ein Leben ich in Paris geführt hatte. Ferner entdeckte er die früheren Beziehungen Manons zu B*** und den Betrug, den sie an ihm verübt hatte, kurz alle schändlichen Einzelheiten unserer Geschichte. Er faßte deshalb den Entschluß, uns festnehmen zu lassen und uns weniger als einfache Verbrecher, sondern als ausgefeimtes Gesindel zu behandeln.

Wir befanden uns noch im Bett, als ein Polizeioffizier mit einem halben Dutzend Beamten in unser Zimmer trat. Sie beschlagnahmten zunächst unser Geld oder vielmehr das des Herrn de G*** M***, und nachdem sie uns barsch zum Aufstehen gezwungen hatten, führten sie uns nach der Tür. Draußen standen zwei Wagen, von denen der eine ohne Erklärung die arme Manon davonführte, und der andere mich nach Saint-Lazare brachte.

Man muß solche Schicksalsschläge selbst durchgemacht haben, um die Verzweiflung zu ermessen, in die sie uns [98] versetzen können. Unsere Wächter waren hart genug, mir weder zu gestatten, Manon zu umarmen, noch ein Wort zu ihr zu sprechen. Ich erfuhr lange Zeit nicht, was aus ihr geworden war, und es war das auch sicherlich nur ein Glück für mich, daß ich es damals nicht wußte, denn ein so entsetzliches Unglück hätte mich um meinen Verstand, vielleicht sogar um mein Leben gebracht.

Meine arme Geliebte wurde also vor meinen Augen davongeschleppt und an einen Ort, den ich nur mit Schaudern nennen könnte. Welch ein Schicksal für ein unendlich bezauberndes Geschöpf, das, wenn alle Menschen meine Augen und mein Herz gehabt hätten, den höchsten Thron in der Welt einnehmen würde! Sie wurde dort zwar nicht grausam behandelt, aber sie befand sich in einem engen Gelaß, ohne jede Gesellschaft und verurteilt, jeden Tag eine gewisse Arbeit zu verrichten als unumgängliche Bedienung für das bißchen widerliche Nahrung, das man ihr reichte. Ich erfuhr diese traurige Geschichte erst lange nachher, als ich ebenfalls schon mehrere Monate eine strenge und eintönige Strafe erlitten hatte.

Da meine Wächter mir auch nichts über den Ort mitteilten, wohin sie mich bringen sollten, so erkannte ich mein Schicksal erst, als ich das Tor von Saint-Lazare sah. In diesem Augenblick hätte ich den Tod dem Zustand vorgezogen, der mir bevorzustehen schien, denn ich hatte schreckliche Vorstellungen von diesem Hause. Meine [99] Angst vermehrte sich noch, als beim Eintritt meine Wächter noch einmal meine Taschen untersuchten, um sicher zu sein, daß ich keine Waffen noch sonstige Hilfsmittel mehr hätte.

Der Prior erschien sofort, er war schon von meinem Kommen benachrichtigt. Er grüßte mich mit großer Freundlichkeit.

»Mein Vater,« sagte ich zu ihm, »keine unwürdige Behandlung! Ich werde tausendmal lieber sterben, als mich einer solchen unterwerfen.«

»Haben Sie keine Besorgnis«, antwortete er. »Wenn Sie sich gut aufführen, werden wir miteinander zufrieden sein.«

Er forderte mich auf, in ein hochgelegenes Zimmer zu gehen, und ich folgte ihm ohne Widerstreben. Die Wächter folgten uns bis zur Türe, worauf der Prior, indem er hineintrat, ihnen ein Zeichen gab, sich zurückzuziehen.

»Ich bin also Ihr Gefangener«, sagte ich zu ihm. »Nun gut, mein Vater, was beabsichtigen Sie mit mir zu tun?«

Er antwortete mir, daß er sich freue, mich so vernünftig zu sehen. Seine Pflicht sei, daran zu arbeiten, mir die Neigung für Tugend und Religion einzuflößen, und die meinige sei es, aus seinen Ermahnungen und Ratschlägen Nutzen zu ziehen. Und wenn ich nur ein wenig die gute Absicht, die er mir entgegenbrächte, würdigen wollte, dann würde mir meine Einsamkeit nur Freude bereiten.

[100] »Ach, Freude!« unterbrach ich ihn. »Sie kennen nicht, mein Vater, den einzigen Gegenstand, der mir eine solche geben könnte.«

»Ich weiß alles«, erwiderte er. »Aber ich hoffe, daß Ihre Neigung sich ändern wird.«

Aus seiner Antwort ersah ich, daß er über meine Erlebnisse und vielleicht auch über meinen Namen unterrichtet war. Ich bat ihn, mich darüber aufzuklären, und er sagte mir ohne Umschweife, daß man ihm alles mitgeteilt habe.

Diese Erkenntnis war die härteste meiner Strafen. Mit allen Anzeichen einer schrecklichen Verzweiflung begann ich einen Strom von Tränen zu vergießen. Ich konnte mich gar nicht über meine Demütigung trösten, denn ich mußte ja jetzt ein Gegenstand des Geredes für alle meine Bekannten und eine Schande für meine Familie werden. Acht Tage verbrachte ich so in der tiefsten Niedergedrücktheit und war weder fähig, etwas zu hören, noch mich mit etwas anderem als mit meiner Schmach zu beschäftigen. Selbst die Erinnerung an Manon konnte meinen Schmerz nicht verschärfen. Sie war nur ein Gefühl, das meiner neuen Qual vorangegangen war, und in meiner Seele herrschten jetzt ausschließlich und mit leidenschaftlicher Gewalt Scham und Bestürzung.

Es gibt nur wenige Leute, die die ganze Stärke dieser besonderen Gefühlserregungen kennen. Die Mehrzahl der Menschen ist nur für fünf oder sechs Arten von Leidenschaften [101] empfänglich, in deren Kreis sich ihr Leben mit allen Erschütterungen abspielt. Man nehme ihnen Liebe und Haß, Freude und Schmerz, Hoffnung und Furcht, und es wird ihnen überhaupt kein Gefühl mehr übrigbleiben. Aber Menschen von edlerem Charakter können auf tausenderlei Art erschüttert werden. Es scheint, als ob sie mehr als fünf Sinne haben, und als ob sie Gedanken und Empfindungen erleben können, die über die gewöhnlichen Grenzen der Natur hinausgehen. Und da sie ein Gefühl dieser Größe haben, das sie über die gewöhnliche Menge hinaushebt, so sind sie gerade darin besonders empfindlich. Das ist dann auch der Grund, warum ihnen Verachtung und Hohn einen so unerträglichen Schmerz verursacht, und warum die Scham eine ihrer heftigsten Gemütserregungen ist.

Einen traurigen Vorteil hatte ich aber dadurch in Saint-Lazare. Dem Prior erschien mein Schmerz so außerordentlich stark, daß er dadurch üble Folgen für mich befürchtete und deshalb glaubte, mich mit möglichst viel Güte und Nachsicht behandeln zu müssen. Er besuchte mich täglich zwei- oder dreimal, nahm mich öfters mit sich zu einem Spaziergang durch den Garten und erschöpfte sich voll Eifer in Ermahnungen und heilsamen Ratschlägen. Ich nahm alles sanftmütig auf und zeigte ihm sogar Dankbarkeit, so daß er daraus Hoffnung auf meine Bekehrung schöpfte.

[102] »Sie besitzen eine so sanfte und liebenswürdige Natur,« sagte er eines Tages zu mir, »daß ich die Vergehen, deren man Sie beschuldigt, gar nicht begreifen kann. Vor allem setzen mich zwei Dinge in Erstaunen: einmal, wie Sie trotz Ihrer guten Veranlagung sich einer solchen ausgelassenen Zügellosigkeit ergeben konnten; dann aber, worüber ich mich noch mehr wundere, wie Sie so bereitwillig meine Ratschläge und Unterweisungen annehmen, nachdem Sie mehrere Jahre in der Gewohnheit der Zügellosigkeit gelebt haben. Wenn dieses Reue ist, dann sind Sie ein ausgesprochenes Beispiel der himmlischen Barmherzigkeit; wenn es gute Veranlagung ist, dann haben Sie wenigstens eine ausgezeichnete Charaktergrundlage, die mich hoffen läßt, daß wir Sie hier nicht lange Zeit zurückzuhalten brauchen, ehe wir Sie zu einem ehrenhaften und geordneten Leben zurückführen.«

Ich war entzückt, bei ihm diese gute Meinung über mich zu sehen, und beschloß, sie durch ein Betragen, das ihn gänzlich zufriedenstellen mußte, zu vermehren, denn ich war überzeugt, daß ich auf diese Weise am sichersten meine Haft abkürzen würde. Ich bat ihn um Bücher. Er überließ es meiner Wahl, was ich lesen wollte, und war erstaunt, als ich mich für einige ganz ernsthafte Schriftsteller entschloß. Ich tat so, als ob ich mich dem Studium mit der äußersten Hingabe widmete, und gab ihm so auf alle Arten neue Beweise der von ihm gewünschten Sinnesänderung.

[103] In Wirklichkeit war das aber alles nur äußerlich, und ich muß zu meiner Schande gestehen, ich spielte in Saint-Lazare die Rolle eines Heuchlers. Anstatt zu studieren, wenn ich allein war, beschäftigte ich mich dann nur damit, über mein Schicksal zu jammern. Ich verfluchte mein Schicksal und die Gewalt, die mich darin zurückhielt. Nachdem nämlich die niedergeschlagene Stimmung, in die mich der Zusammenbruch versetzt hatte, etwas verflogen war, begann mich meine Liebe aufs neue zu quälen. Die Abwesenheit Manons, die Ungewißheit meines Schicksals und die Furcht, sie niemals wiederzusehen, waren der einzige Gegenstand meiner Betrachtungen. Ich glaubte, sie befände sich in den Armen des G*** M***, denn das war der Gedanke, den ich sogleich gefaßt hatte; und, weit davon entfernt, zu vermuten, man habe sie ebenso behandelt wie mich, war ich überzeugt, er hätte mich nur aus dem Wege geschafft, um sie ruhig besitzen zu können.

Auf diese Weise verbrachte ich meine Tage und Nächte, deren Länge mir wie eine Ewigkeit erschien. Meine einzige Hoffnung war ein Erfolg meiner Heuchelei. Ich beobachtete sorgfältig das Gesicht und die Reden des Priors, um darüber klar zu werden, wie er über mich dachte, und ich machte mir eine Aufgabe daraus, ihm als dem Schiedsrichter meines Schicksals zu gefallen. Mit Leichtigkeit erkannte ich, daß ich seine völlige Gunst besaß, und ich [104] zweifelte nicht, daß er bereit sei, mir einen Dienst zu erweisen.

Eines Tages nahm ich mir die Kühnheit, ihn zu fragen, ob von ihm meine Freilassung abhinge. Er sagte mir, daß er darüber nicht Herr sei. Aber hoffentlich werde seine Fürsprache Herrn de G*** M***, auf dessen Ansuchen mich der Herr Polizeipräfekt hatte festnehmen lassen, bewegen, mir die Freiheit zurückzugeben.

»Kann ich mir schmeicheln,« antwortete ich in sanftem Ton, »daß die zwei Monate Gefängnis, die ich jetzt durchgemacht habe, ihm als genügende Strafe erscheinen?«

Er versprach mir, wenn ich es wünschte, mit ihm zu reden, und ich bat ihn dringend, mir diesen Dienst zu erweisen.

Zwei Tage später teilte er mir mit, daß Herr de G*** M*** von dem guten Bericht, den er über mich erhalten hatte, so gerührt war, daß er nicht nur die Absicht hegte, mir die Freiheit zu schenken, sondern auch eine große Lust geäußert hatte, mich genauer kennenzulernen, und daher vorhabe, mich in meinem Gefängnis zu besuchen. Obgleich mir nun seine Gegenwart nicht angenehm sein konnte, betrachtete ich sie doch als einen baldigen Weg zu meiner Freiheit.

Er kam auch wirklich nach Saint-Lazare. Ich fand, daß er ein würdigeres und weniger dummes Gesicht hatte, als es mir in Manons Hause vorgekommen war. Er sprach [105] zu mir einige sehr vernünftige Worte über meine schlechte Aufführung und fügte hinzu, offenbar um seine eigenen Ausschweifungen zu rechtfertigen, daß es der Schwäche der Menschen erlaubt sei, sich gewisse Vergnügungen zu verschaffen, die die Natur verlange, daß aber Betrug und schmachvolle Ränke ihre Strafe verdienten.

Ich hörte ihn mit einer unterwürfigen Miene an, die ihn offenbar befriedigte. Ich ärgerte mich sogar nicht einmal, als er mich etwas über meine Verbrüderung mit Lescaut und Manon verspottete, und auch über die kleinen Kapellchen, deren ich, wie er meinte, sicherlich in Saint-Lazare eine ganze Menge angefertigt haben müßte, da ich ja an dieser frommen Beschäftigung ein solches Vergnügen empfände. Aber zum Unglück für ihn und mich entschlüpfte ihm die Bemerkung, daß Manon im Arbeitshaus sicherlich wohl ebenso hübsche angefertigt hätte. Trotzdem ich bei dem Wort Arbeitshaus innerlich erbebte, hatte ich noch die Kraft, ihn mit sanfter Stimme zu bitten, sich genauer zu erklären.

»Nun ja,« fuhr er fort, »seit zwei Monaten lernt sie im Allgemeinen Arbeitshaus, tugendsam zu sein, und ich hoffe, daß sie ebenso großen Vorteil daraus gezogen hat wie Sie in Saint-Lazare.«

Wenn mir jetzt lebenslängliches Gefängnis oder der Tod selbst vor Augen gestanden hätten, ich hätte meine Wut bei dieser entsetzlichen Nachricht nicht beherrschen [106] können. Ich warf mich mit einer solchen schrecklichen Erregung auf ihn, daß ich dadurch fast meine halbe Kraft verlor. Es blieb mir aber davon noch genügend, ihn zur Erde zu werfen und bei der Kehle zu fassen. Ich würgte ihn, doch wurden durch das Geräusch seines Falles und einige laute Schreie, die er noch mit Mühe hatte ausstoßen können, der Prior und mehrere Brüder in mein Zimmer gerufen. Sie entrissen ihn meinen Händen.

Ich hatte selbst fast alle meine Kräfte und den Atem verloren. »Oh, mein Gott«, schrie ich, indem ich tausend Seufzer ausstieß. »Gerechter Himmel, muß ich denn eine solche Schändlichkeit auch nur einen Augenblick überleben?«

Ich wollte mich von neuem auf den Menschen stürzen, der mich so tödlich verletzt hatte. Man hielt mich zurück. Meine Verzweiflung, meine Schreie und Tränen waren unbeschreiblich. Ich beging so erstaunliche Dinge, daß alle Dabeistehenden, die den Grund dazu nicht wußten, sich mit ebensoviel Schrecken wie Verwunderung ansahen.

Herr de G*** M*** brachte inzwischen seine Perücke und seine Halsbinde in Ordnung, und aus Wut über das, was ihm geschehen war, befahl er dem Prior, mich strenger abzuschließen als je und mich mit allen Züchtigungen zu bestrafen, die, wie man weiß, in Saint-Lazare in Gebrauch sind.

[107] »Nein, mein Herr,« sagte der Prior, »bei Personen von der Herkunft des Herrn Chevalier wenden wir so etwas nicht an. Er ist übrigens so sanft und so anständig, daß ich kaum begreife, wie er ohne starke Gründe sich zu einer solchen Ausschreitung hat hinreißen lassen.«

Diese Antwort brachte Herrn de G*** M*** erst recht aus der Fassung. Er ging davon, indem er sagte, er würde schon sowohl den Prior, wie mich und alle, die ihm Widerstand zu leisten wagten, zu beugen wissen.

Der Prior gab den Brüdern Befehl, ihn hinauszuführen, und blieb mit mir allein. Er beschwor mich, ihm sogleich mitzuteilen, wodurch der Streit entstanden sei.

»Oh, mein Vater!« sagte ich, indem ich fortfuhr zu weinen. »Stellen Sie sich die entsetzlichste Grausamkeit vor, denken Sie sich die verächtlichste aller Unmenschlichkeiten, das ist das, was dieser gemeine und feige G*** M*** begangen hat. Oh, er hat mir das innerste Herz getroffen, ich werde mich nie wieder davon erholen. Ich will Ihnen alles erzählen«, fuhr ich unter strömenden Tränen fort. »Sie sind gut, Sie werden Mitleid mit mir haben.«

Ich gab ihm nun einen kurzen Bericht über die unerschütterliche und unüberwindliche Liebe, die ich für Manon hegte, über die günstige Vermögenslage, in der wir uns befanden, bevor wir von unseren eigenen Bedienten bestohlen wurden, über das Anerbieten, das G*** M*** meiner Geliebten gemacht, den Handel, den sie miteinander [108] abgeschlossen hatten, und die Art, wie er getäuscht wurde. Ich schilderte ihm, um die Wahrheit zu sagen, die Dinge in einer für uns möglichst günstigen Weise.

»Das also«, fuhr ich fort, »ist der Grund, warum sich Herr de G*** M*** mit solchem Eifer für meine Bekehrung interessiert. In Wirklichkeit ließ er mich einzig und allein hier einsperren, um seiner Rache freien Lauf zu lassen. Ich verzeihe es ihm. Aber, mein Vater, das ist nicht alles. Er ließ auch in grausamer Weise diejenige entführen, die die bessere Hälfte meines eigenen Ichs ist. Er hat sie in schändlicher Weise in das Arbeitshaus bringen lassen, er besaß die Unverschämtheit, es mir heute aus eigenem Munde zu verkünden. In das Arbeitshaus, mein Vater! Du lieber Himmel, meine reizende Geliebte, meine süße Königin in das Arbeitshaus, als wenn sie das gemeinste aller Geschöpfe gewesen wäre! Wo finde ich genügend Kraft, um nicht vor Schmerz und Scham zu sterben?«

Der gute Prior versuchte, als er mich in einem solchen Übermaß der Niedergeschlagenheit sah, mich zu trösten. Er sagte mir, er habe meine Erlebnisse nie in der Art begriffen, wie ich sie ihm jetzt geschildert hätte. Allerdings habe er der Wahrheit gemäß gewußt, daß ich in unordentlichen Verhältnissen gelebt, doch habe er dabei geglaubt, Herr de G*** M*** interessiere sich für mich aus Achtung und Freundschaft gegen meine Familie. Er habe [109] ihm das selbst so vorgestellt. Aber nach dem, was ich ihm heute gestanden, erscheine alles in einem ganz anderen Licht, und da er beabsichtige, hierüber einen genauen Bericht an den Herrn Polizeipräfekten zu senden, so zweifle er nicht, daß das zu meiner Befreiung beitragen werde.

Er fragte mich dann, warum ich noch nicht daran gedacht habe, meiner Familie, die doch nichts mit meiner Gefangensetzung zu tun habe, Nachricht zu geben. Ich erwiderte ihm auf seinen Einwand, daß der Schmerz, den ich meinem Vater zu bereiten fürchtete, und die Scham, die ich selbst empfunden, mich daran gehindert hätten. Schließlich versprach er mir, sofort zum Polizeipräfekten zu gehen.

»Sei es auch nur,« sagte er, »um einer schlimmen Handlung von seiten des Herrn de G*** M*** zuvorzukommen. Denn er ist in sehr schlechter Stimmung von hier fortgegangen und hat Einfluß genug, um seinen Willen durchzusetzen.«

Ich erwartete die Rückkehr des Priors mit der ganzen Aufregung eines Angeklagten, der vor dem Augenblick der Urteilsfällung steht. Es war für mich eine unerträgliche Qual, mir Manon im Arbeitshaus vorzustellen. Abgesehen von der Schmach eines solchen Aufenthalts, wußte ich auch gar nicht, wie sie dort behandelt wurde, und die Erinnerung an einzelne Dinge, die ich über diesen entsetzlichen [110] Ort gehört hatte, erneuerte immerfort meine Befürchtungen. Ich war so sehr entschlossen, ihr um jeden Preis und mit jedem Mittel zu helfen, daß ich Saint-Lazare in Brand gesteckt hätte, wenn es mir anders nicht möglich gewesen wäre, hinauszukommen.

Ich überlegte also, welche Schritte ich ergreifen müßte, falls der Polizeipräfekt fortführe, mich hier gegen meinen Willen festzuhalten. Ich strengte meinen Verstand aufs äußerste an und bedachte alle Möglichkeiten. Ich fand keinen unbedingt sicheren Weg zur Flucht und fürchtete, noch strenger eingeschlossen zu werden, wenn mir ein Versuch mißglückte. Ich dachte an einige Freunde, von denen ich Hilfe erhoffen konnte, aber auf welche Weise sollte ich ihnen meine Lage schildern? Endlich glaubte ich einen passenden Plan gefunden zu haben, der auch gelingen konnte, und verschob es bis nach der Rückkehr des Priors, ihn noch genauer auszuarbeiten, falls die Vergeblichkeit seiner Bemühungen mich dazu zwingen sollte.

Er kam auch bald zurück, und vergebens spähte ich auf seinem Gesicht nach Anzeichen der Freude, die eine frohe Nachricht begleitet hätten.

»Ich habe«, sagte er zu mir, »mit dem Herrn Polizeipräfekten gesprochen, aber ich habe zu spät mit ihm gesprochen. Herr de G*** M*** hat ihn sofort nach seinem Fortgehen von hier aufgesucht und so stark gegen Sie eingenommen, daß er im Begriff war, mir neue Befehle [111] zu senden, um Sie noch strenger einzuschließen. Als ich ihm aber erzählte, was es im Grunde mit Ihrer Angelegenheit auf sich hätte, schien er sich sehr zu beruhigen. Er lachte etwas über die Ausschweifungen des alten Herrn de G*** M*** und sagte mir, ich sollte Sie sechs Monate hier behalten, um ihn zufriedenzustellen. Er fügte noch hinzu, daß dieser Aufenthalt ja nicht ohne Nutzen für Sie sein werde, und empfahl mir, Sie rücksichtsvoll zu behandeln. Jedenfalls verspreche ich Ihnen, daß Sie sich nicht über mein Benehmen beklagen sollen.«

Die ganze Erklärung des guten Priors dauerte lange genug, um mir Zeit zu einem ruhigen Nachdenken zu geben. Ich begriff, daß es nur meinen Plänen schaden würde, wenn ich ein zu starkes Verlangen nach meiner Freiheit äußerte. Daher bezeugte ich ihm im Gegenteil, daß es infolge der Notwendigkeit, hier zu bleiben, für mich eine süße Tröstung sei, ein wenig seine Achtung zu genießen. Ich bat ihn darauf in ungezwungener Weise, mir eine Gunst zu gewähren, die für jeden anderen ganz harmlos sei, mir aber viel zu meiner Beruhigung dienen würde. Nämlich, er möchte doch einen Freund von mir, einen heiligmäßigen Geistlichen, der in Saint-Sulpice wohnte, benachrichtigen, daß ich hier in Saint-Lazare wäre, und mir erlauben, dann und wann seinen Besuch zu empfangen. Diese Gunst wurde mir ohne Bedenken gewährt.

[112] Es war natürlich mein Freund Tiberge, von dem ich gesprochen hatte. Nicht daß ich hoffte, durch ihn die nötigen Mittel zu meiner Befreiung zu erlangen, aber ich wollte mich seiner als eines indirekten Mittels bedienen, ohne daß er selbst es wußte. Mein Plan war nämlich der, an Lescaut zu schreiben und ihn sowie unsere gemeinsamen Freunde damit zu beauftragen, für meine Befreiung zu sorgen. Meine erste Schwierigkeit bestand darin, ihm meinen Brief zuzustellen, und das hoffte ich durch Tiberge fertigzubringen. Da er ihn aber als Bruder meiner Geliebten kannte, fürchtete ich, daß es ihm widerstreben würde, diese Besorgung zu übernehmen. Mein Plan war nun, meinen Brief an Lescaut in einen anderen Brief zu stecken, den ich an einen ehrenwerten Mann meiner Bekanntschaft richtete, wobei ich diesen bat, den eingeschlossenen Brief doch sofort an seine Adresse zu befördern. Und da ich unbedingt persönlich mit Lescaut sprechen mußte, um mich mit ihm über unsere Maßnahmen zu einigen, wollte ich ihm sagen, er sollte nach Saint-Lazare kommen und unter dem Namen meines älteren Bruders, der eigens nach Paris gekommen sei, um sich über meine Lage zu unterrichten, mich zu sprechen verlangen. Wir konnten uns dann zusammen über die Mittel einigen, die uns als die tauglichsten und sichersten erschienen.

Der Pater Prior ließ Tiberge von meinem Wunsch[113] unterrichten, mich mit ihm auszusprechen. Mein treuer Freund hatte mich immer etwas im Auge behalten. Er wußte auch von meinem Abenteuer und daß ich in Saint-Lazare war. Vielleicht war er sogar nicht einmal betrübt über dieses Unglück, weil er es für geeignet hielt, mich zur Pflicht zurückzuführen. Jedenfalls eilte er sofort zu mir.

Unsere Unterredung verlief in aller Freundschaft. Er fragte mich nach meinen Plänen, und ich öffnete ihm rückhaltlos mein Herz, nur daß ich nichts von meinem Fluchtplan erwähnte.

»Ich will nicht, lieber Freund,« sagte ich zu ihm, »vor deinen Augen anders erscheinen, als ich bin. Wenn du geglaubt hast, hier einen frommen und von seinen Leidenschaften befreiten Freund zu finden, einen durch die Strafe des Himmels bekehrten Sünder, mit einem Wort, ein Herz, das sich von der Liebe und von Manons Zauber frei gemacht hat, dann hast du zu günstig über mich geurteilt. Du findest mich noch ebenso, wie du mich vor vier Monaten verlassen hast, noch immer verliebt und noch immer unglücklich infolge dieser unheilvollen Verliebtheit, in der ich nicht ablasse, mein Glück zu suchen.«

Er antwortete mir, daß das Geständnis, das ich ihm gemacht hätte, mich unentschuldbar mache. »Man sieht wohl Sünder,« sagte er, »die sich an dem trügerischen Glück des Lasters so berauschen, daß sie es offen dem [114] wahren Glück der Tugend vorziehen. Aber diese ketten sich wenigstens an Scheinbilder des Glücks und werden durch deren trügerischen Glanz geblendet. Aber so wie du anerkennen, daß der Gegenstand deiner Neigung dich nur in Schuld und Unglück verstricken kann, und sich trotzdem freiwillig in das Unglück und die Schuld hineinstürzen, das zeigt einen Widerspruch zwischen Denken und Tun, der deinem Verstande nicht zur Ehre gereicht.«

»Tiberge,« erwiderte ich, »du magst leicht recht behalten, wenn man deinen Worten nicht widerspricht. Aber laß mich auch einmal meine Ansichten entwickeln. Kannst du behaupten, daß das, was du das Glück der Tugend nennst, frei von Schmerzen, Widerwärtigkeiten und Beunruhigungen ist? Welchen Namen gibst du dem Gefängnis, der Kreuzigung, Hinrichtung und Folter durch die Tyrannen? Willst du, wie die Mystiker, sagen, daß das, was den Körper quält, ein Glück für die Seele ist? Du wagst gar nicht, das zu behaupten, denn das wäre ein unhaltbarer Widerspruch. Dieses Glück, das du so hoch erhebst, ist also mit tausend Schmerzen verbunden, oder, um mich noch genauer auszudrücken, es ist nur ein Dickicht von Unglücksfällen, durch das man nach dem Glück strebt. Wenn also die Einbildungskraft in diesen Übeln selbst noch ein Glück sieht, weil sie zu einem erhofften glücklichen Ende führen können, warum bezeichnest du ein ganz ähnliches Handeln in meinem Leben als [115] widerspruchsvoll und unvernünftig? Ich liebe Manon, ich strebe inmitten von tausend Schmerzen danach, an ihrer Seite glücklich und ruhig zu leben. Der Weg, den ich dabei gehe, ist unheilvoll, aber die Hoffnung, ihn zu beendigen, versüßt ihn mir immer, und ich glaube mich durch jeden Augenblick, den ich mit ihr verbringe, reichlich für allen Kummer bezahlt, den ich durchmachen muß, um ihn zu erlangen. Es scheinen mir daher die Dinge auf meiner und auf deiner Seite ganz gleich zu stehen, oder, wenn es einen Unterschied gibt, dann spricht er noch zu meinem Vorteil. Denn das Glück, auf das ich hoffe, ist nahe, das andere aber ist fern. Das meine ist von der Art, wie die Schmerzen sind, das heißt, es ist fühlbar, das andere aber ist von einer unbekannten Art, und seine Gewißheit beruht nur auf dem Glauben.«

Tiberge schien ganz erschrocken zu sein über meine Schlußfolgerung. Er wich zwei Schritte zurück und sagte mir mit dem ernstesten Gesicht, daß das, was ich gesagt hätte, nicht nur der gesunden Vernunft widerspräche, sondern auch ein trauriger Trugschluß von Bosheit und Gottlosigkeit sei.

»Denn«, fügte er hinzu, »dieser Vergleich zwischen dem Ende deiner Schmerzen und dem Ende, das uns die Religion verspricht, ist eine der zügellosesten und abscheulichsten Ideen.«

»Ich gebe zu,« erwiderte ich, »daß er nicht richtig ist. [116] Aber beachte wohl, daß ich auch gar nicht meinen Gedankengang darauf aufbaue. Ich wollte dir nur das erklären, was du für unsinnig in dem Festhalten an einer unglücklichen Liebe hältst, und ich glaube wohl bewiesen zu haben, wenn darin etwas Unsinniges liegt, daß du dem ebensowenig entgehen kannst wie ich. Lediglich um dieses klarzulegen habe ich die Dinge miteinander verglichen, und ich wiederhole, daß sie auch gleich liegen. Willst du mir nun antworten, daß das Ziel der Tugend ein unendlich höheres ist als das der Liebe? Wer weigert sich, das zuzugeben? Aber steht denn das überhaupt in Frage? Handelt es sich nicht lediglich um die Kraft, die beide haben, um uns die Schmerzen ertragen zu machen? Beurteilen wir die Frage nach dem Ergebnis: Wie oft findet man Menschen, die der strengen Tugend untreu werden, und wie selten welche, die der Liebe den Rücken wenden! Du wirst nun wiederum antworten, daß, wenn auch ein tugendhaftes Leben Schmerzen bringen kann, dies nicht immer und notwendigerweise der Fall zu sein braucht; daß es heute weder Tyrannen noch Kreuzigungen mehr gibt, und man eine große Menge tugendhafter Menschen ein glückliches und ruhiges Leben führen sieht. Dann werde ich dir aber auch sagen, daß es friedliche und glückliche Liebesverhältnisse gibt, und, was noch einen sehr zu meinen Gunsten sprechenden Vorteil ausmacht, ich werde hinzufügen, daß die Liebe, obgleich sie uns oft [117] täuscht, trotzdem Befriedigung und Freude gewährt, während die Religion verlangt, daß man sich mit einem langweiligen und asketischen Leben zufrieden gibt.«

Ich sah, daß er im Begriff war, mich in zornigem Eifer zu unterbrechen. Aber ich wollte meine Ausführungen erst beenden. »Errege dich nicht,« fuhr ich deshalb fort, »das einzige, was ich hier noch beweisen möchte, ist, daß es keinen schlechteren Weg gibt, einem Herzen die Liebe zu verleiden, als ihm deren Süßigkeiten abzustreiten und ein größeres Glück in der Ausübung der Tugend zu versprechen. Wir sind nun einmal so geschaffen, daß unser Glück im Genuß besteht, und ich bestreite jede andere Erklärung. Und das Herz braucht nicht lange zu überlegen, um zu fühlen, daß von allen Genüssen die süßesten die der Liebe sind. Es bemerkt bald, daß man es betrügt, wenn man ihm anderswo angenehmere verspricht, und dieses Betrügen bringt es dahin, daß es den schönsten Versprechungen mißtraut. Darum, ihr Prediger, die ihr mich zur Tugend zurückführen wollt, ich will euch gern glauben, daß diese Tugend unumgänglich notwendig ist, aber verhüllt es mir auch nicht, daß sie streng und mühsam ist. Zeigt, daß die Vergnügungen der Liebe flüchtig, daß sie sündhaft sind und zu ewigen Qualen führen, ja, was vielleicht noch stärkeren Eindruck auf mich machen würde, daß, je süßer und reizender sie sein mögen, um so größer auch die Belohnung des Himmels sein wird, [118] wenn man auf sie verzichtet. Aber gesteht, daß sie, wie unsere Herzen nun einmal veranlagt sind, hienieden unser vollkommenstes Glück ausmachen.«

Dieser Schluß meiner Ausführungen gab Tiberge seine gute Laune wieder. Er gab zu, daß etwas Vernünftiges in meinem Gedankengange läge, und machte nur den einzigen Einwurf, warum ich denn nicht meinen eigenen Grundsätzen folgte und meine Liebe der Hoffnung auf diese Belohnung opferte, von der ich ja eine so hohe Vorstellung hätte.

»Oh, mein lieber Freund,« antwortete ich ihm, »hieran erkenne ich mein Elend und meine Schwäche. Ach ja, es wäre meine Pflicht, nach meiner Erkenntnis zu handeln, aber bin ich denn Herr über mein Tun? Welche Hilfe brauchte ich nicht, um die Reize Manons zu vergessen?«

»Gott verzeihe mir,« fiel hier Tiberge ein, »aber du hast Ansichten, als wärest du ein Jansenist.«

»Ich weiß nicht, was ich bin,« antwortete ich, »aber wenn die Jansenisten sagen, daß der Mensch von vornherein zu einem bestimmten Schicksal bestimmt ist, dann sehe ich nur zu gut an mir, daß sie recht haben.«

Diese Unterredung diente wenigstens dazu, das Mitleid meines Freundes neu zu erregen. Er begriff, daß mich mehr meine Schwäche als meine Bosheit zur Liederlichkeit verführt hätte. Deshalb war auch seine Freundschaft späterhin um so mehr geneigt, mir seine Hilfe zu [119] geben, ohne die ich zweifellos in mei nem Unglück zugrunde gegangen wäre. Trotzdem verriet ich ihm nicht das geringste von meiner Absicht, aus Saint-Lazare zu entfliehen. Ich bat ihn nur, mir meinen Brief zu besorgen. Ich hatte ihn schon fertiggemacht, ehe er kam, und ich unterließ nicht, einen Vorwand auszumalen, um die Notwendigkeit meines Schreibens zu zeigen. Er war auch so freundlich, den Brief zu besorgen, und Lescaut erhielt noch vor Schluß des Tages das für ihn bestimmte Schreiben.

Den nächsten Tag kam Manons Bruder mich besuchen und erlangte auch glücklich unter dem Namen meines Bruders Zugang zu mir. Meine Freude war unendlich, als ich ihn in meinem Zimmer sah. Sorgfältig schloß ich die Tür hinter ihm zu.

»Verlieren wir keinen Augenblick«, sagte ich zu ihm. »Sagen Sie mir zunächst, was Sie von Manon wissen, und geben Sie mir dann einen guten Rat, wie ich meine Fesseln brechen kann.«

Er versicherte mir, daß er seit dem Tage, der meiner Festnahme vorangegangen war, seine Schwester nicht mehr gesehen habe; daß er mein und ihr Schicksal erst nach mühsamen Erkundigungen erfahren und sich zwei- oder dreimal im Arbeitshaus gemeldet habe, ohne daß man ihm die Erlaubnis gab, sie zu sehen.

»Elender G*** M***,« rief ich aus, »das wirst du mir teuer bezahlen.«

[120] »Was nun Ihre Befreiung angeht,« fuhr Lescaut fort, »so ist das ein schwierigeres Unternehmen, als Sie vielleicht denken. Zwei meiner Freunde und ich haben gestern den Abend damit verbracht, alle äußeren Teile dieses Hauses zu beobachten, und wir sind zu dem Urteil gekommen, daß, da Ihre Fenster, wie Sie schon schrieben, auf einen Hof hinausgehen, der ganz mit Gebäuden umgeben ist, es gar nicht so leicht wäre, Sie herauszubringen. Sie befinden sich übrigens im dritten Stockwerk, und wir können weder Stricke noch Leitern hierherbringen. Ich sehe daher keine Möglichkeit einer Hilfe von außen. Es muß hier im Hause selbst ein Mittel gefunden werden.«

»Nein,« erwiderte ich, »ich habe alles untersucht, besonders seitdem infolge der Nachsicht des Priors meine Abschließung weniger streng ist. Meine Zimmertüre ist nicht mehr verschlossen, ich darf mich nach Belieben in den Wandelgängen der Mönche aufhalten. Aber alle Treppen sind durch dicke Türen verrammelt, die man sorgfältig sowohl am Tage wie bei der Nacht verschlossen hält, so daß es unmöglich ist, mich durch bloße List zu retten.«

Eine Weile schwieg ich und dachte nach, bis mir eine ausgezeichnete Idee kam. »Warten Sie,« rief ich aus, »könnten Sie mir eine Pistole bringen?«

»Mit Leichtigkeit«, antwortete Lescaut. »Aber Sie wollen doch nicht jemand töten?«

[121] Ich antwortete ihm, ich hätte so wenig die Absicht, jemand zu töten, daß es nicht einmal nötig sei, die Pistole zu laden.

»Bringen Sie sie mir morgen,« fügte ich hinzu, »und verfehlen Sie nicht, sich abends um elf Uhr mit zwei oder drei Freunden gegenüber diesem Tore einzufinden. Ich hoffe, daß ich dann zu Ihnen stoßen kann.«

Vergebens drängte er mich, ihm Näheres zu sagen. Ich antwortete ihm, daß ein Unternehmen, wie ich es vorhätte, erst dann vernünftig erschiene, wenn es gelungen sei. Ich bat ihn, seinen Besuch abzukürzen, um mich desto sicherer am nächsten Tag wieder besuchen zu können. Er wurde auch ebenso leicht wieder zugelassen wie am Tage vorher. Er machte ein ernstes Gesicht, und es wäre niemand auf den Gedanken gekommen, ihn für etwas anderes als einen Mann von Ehre zu halten.

Als ich mich im Besitz des Werkzeuges zu meiner Befreiung befand, zweifelte ich nicht mehr an dem Erfolg meines Vorhabens. Es war seltsam und gewagt, aber zu was wäre ich bei den Gründen, die mich antrieben, nicht fähig gewesen? Ich hatte, seit ich mein Zimmer verlassen und mich in den Wandelgängen aufhalten durfte, beobachtet, daß der Pförtner jeden Abend die Schlüssel zu allen Toren zum Prior heraufbrachte, und daß dann eine tiefe Stille im Hause herrschte, die anzeigte, daß alles zu Bett gegangen sei. Ohne Hindernis konnte ich [122] durch eine Verbindungsgalerie von meinem Zimmer zu dem des Priors gehen. Mein Entschluß war, ihm die Schlüssel abzunehmen, indem ich ihm, falls er Schwierigkeiten machen sollte, mit meiner Pistole einschüchterte, und mit Hilfe dieser Schlüssel auf die Straße zu gelangen.

Mit Ungeduld erwartete ich die Zeit. Der Pförtner kam zur gewohnten Stunde, das heißt etwas nach neun. Ich ließ dann noch eine Stunde vorübergehn, um sicher zu sein, daß alle Mönche und Diener eingeschlafen seien. Endlich ging ich mit meiner Waffe und einer angezündeten Kerze hinüber. Ich klopfte zunächst leise an die Tür, um ihn ohne Lärm aufzuwecken. Er hörte erst beim zweiten Klopfen, und da er offenbar in dem Glauben war, es sei ein Mönch, der sich krank fühlte und seiner Hilfe bedürftig sei, erhob er sich, um mir zu öffnen. Trotzdem war er so vorsichtig, mich durch die Tür zu fragen, wer da sei, und was man von ihm wollte. Ich war gezwungen, meinen Namen zu nennen, aber nahm dabei einen klagenden Ton an, um ihm anzudeuten, daß ich mich nicht wohl befände.

»Ach, das sind Sie, mein lieber Sohn?« fragte er, indem er die Tür öffnete. »Was führt Sie denn so spät zu mir?«

Ich trat in sein Zimmer, und nachdem ich ihn an das der Tür entgegengesetzte Ende gezogen hatte, erklärte ich ihm, es sei mir unmöglich, länger in Saint-Lazare zu [123] bleiben. Die Nacht sei eine geeignete Zeit, um unbemerkt hinauszuschlüpfen, und ich erwartete von seiner Freundschaft, daß er mir die Türe öffnen oder mir die Schlüssel leihen würde, um sie mir selbst aufzuschließen.

Meine höfliche Anrede verblüffte ihn. Eine Zeitlang verharrte er, ohne zu antworten. Da ich keine Zeit mehr zu verlieren hatte, ergriff ich von neuem das Wort und sagte ihm, ich sei sehr berührt von allen seinen Guttaten, aber die Freiheit stehe höher als alle Güter, besonders für mich, dem man sie so ungerechtfertigt vorenthalte, so daß ich entschlossen sei, sie mir diese Nacht um jeden Preis zu verschaffen. Und aus Furcht, er möchte Lust bekommen, mit lauter Stimme um Hilfe zu rufen, zeigte ich ihm einen triftigen Grund zum Schweigen, den ich bisher unter meinem Rock verborgen hatte.

»Eine Pistole!« rief er aus. »Wie, mein Sohn, Sie wollen mir das Leben nehmen zum Dank für die Rücksichtnahme, die ich Ihnen erwiesen habe?«

»Das möge Gott verhüten!« antwortete ich ihm. »Sie sind zu klug und zu vernünftig, mich in diese Notwendigkeit zu versetzen. Aber ich will frei sein und bin dazu so entschlossen, daß, wenn mir mein Plan durch Ihre Schuld mißlingt, es um Sie geschehen ist.«

»Aber, mein lieber Sohn«, erwiderte er mit bleichem und erschrecktem Gesicht. »Was habe ich Ihnen denn getan? Welchen Grund haben Sie, meinen Tod zu begehren?«

[124] »Aber nein«, antwortete ich ungeduldig. »Ich habe keine Absicht, Sie zu töten. Wenn Sie am Leben bleiben wollen, dann öffnen Sie mir das Tor, und ich bin der beste Ihrer Freunde.«

Ich bemerkte die Schlüssel, die auf dem Tische lagen. Ich nahm sie und bat ihn, mir zu folgen. Er möchte aber dabei so wenig Geräusch machen, wie ihm nur möglich sei.

Er war gezwungen, sich mir zu fügen. Je weiter wir kamen, und jedesmal, wenn er eine Tür aufschloß, wiederholte er mit einem Seufzer: »Ach, mein Sohn, ach, wer das doch je geglaubt hätte!«

»Kein Geräusch, mein Vater!« wiederholte ich dagegen in jedem Augenblick.

Endlich gelangten wir an eine Art Schutzgatter, das sich vor dem großen Straßentor befand. Ich glaubte schon frei zu sein und stand hinter dem Prior, in der einen Hand die Kerze, in der anderen meine Pistole.

Während er sich bemühte, zu öffnen, hörte ein Bedienter, der in der Nähe in einer kleinen Kammer schlief, das Geräusch der Riegel, erhob sich und steckte den Kopf aus der Tür. Der gute Vater hielt ihn offenbar für fähig, mich festzuhalten. Er befahl ihm höchst unklugerweise, ihm zu Hilfe zu kommen. Er war ein kräftiger Bursche, der sich, ohne zu überlegen, auf mich stürzte. Ich zauderte auch nicht lange, sondern schoß ihn mitten in die Brust.

[125] »Nun sehen Sie, was Sie verschuldet haben, mein Vater«, sagte ich zu meinem Führer in barschem Ton. »Das soll Sie aber nicht hindern, das Angefangene zu beenden«, fügte ich hinzu, indem ich gegen das letzte Tor stieß.

Er wagte es nicht, sich zu weigern, mir aufzuschließen. Ich gelangte glücklich hinaus und fand vier Schritte entfernt Lescaut, der mich seinem Versprechen gemäß mit zwei Freunden erwartete.

Wir machten, daß wir fortkamen, und Lescaut fragte mich, ob es richtig sei, daß er einen Pistolenschuß gehört habe.

»Das war Ihre Schuld«, sagte ich zu ihm. »Warum haben Sie sie mir geladen gebracht?«

Trotzdem dankte ich ihm für seine Vorsicht, ohne die ich zweifellos noch lange Zeit in Saint-Lazare verblieben wäre. Wir gingen zu einem Speisewirt, bei dem wir die Nacht verbrachten, und ich mich etwas von der mageren Kost erholte, die ich seit fast drei Monaten genossen hatte. Trotzdem war es mir nicht möglich, vergnügt zu sein, ich litt zu furchtbar bei dem Gedanken an Manon.

»Wir müssen sie befreien«, sagte ich zu meinen Freunden. »Ich habe mir die Freiheit gewünscht, um dies auszuführen, und bitte Sie, mir mit Ihrem Rat zur Seite zu stehn. Ich selbst werde mein Leben daran wagen.«

Lescaut, dem es nicht an Verstand und Vorsicht fehlte, [126] hielt mir vor, daß wir sehr vorsichtig zu Wege gehen müßten. Meine Flucht aus Saint-Lazare und das Unglück, das mir dabei im letzten Augenblick passiert sei, würden zweifellos Aufsehen erregen. Der Polizeipräfekt würde nach mir suchen lassen, und er hätte einen langen Arm. Wenn ich mich also nicht einem Schicksal aussetzen wollte, das schlimmer als Saint-Lazare sei, dann hielte er es für angebracht, mich einige Tage versteckt und eingeschlossen zu halten, bis die erste Wut meiner Feinde etwas verraucht sei.

Sein Rat war klug, nur hätte ich auch so klug sein müssen, ihn zu befolgen. Aber soviel Vorsicht und Langsamkeit paßte nicht zu meinem leidenschaftlichen Charakter, und ich gab ihm nur so weit nach, daß ich versprach, den folgenden Tag mit Schlafen zu verbringen. Er schloß mich in seinem Zimmer ein, wo ich dann bis zum Abend verblieb.

Einen Teil dieser Zeit verbrachte ich damit, Pläne und Mittel auszudenken, um Manon zu helfen. Ich war fest davon überzeugt, daß ihr Gefängnis noch unzugänglicher war, als es das meinige gewesen. Von gewaltsamem Vorgehen konnte da keine Rede sein, es mußte List angewandt werden, aber selbst die Göttin der Findigkeit wäre hier um einen Anfang verlegen gewesen. Die Sache erschien mir so dunkel, daß ich beschloß, mich erst dann näher damit zu beschäftigen, wenn ich einige Erkundigungen [127] über die inneren Einrichtungen des Arbeitshauses eingezogen hatte.

Als mir der Abend die Freiheit wiedergab, bat ich Lescaut, mich zu begleiten. Wir knüpften mit einem der Pförtner, der mir ein vernünftiger Mann zu sein schien, ein Gespräch an. Ich gab an, ein Fremder zu sein, der mit Bewunderung von dem Allgemeinen Arbeitshaus und der Ordnung, die darin herrsche, habe sprechen hören. Ich befragte ihn über die kleinsten Einzelheiten, und so kamen wir von einem Gegenstand zum anderen und dann auch auf die Verwaltungsbeamten, nach deren Namen und Eigenschaften ich mich erkundigte.

Die Antworten, die er mir über die Beamten gab, erweckten in mir einen Gedanken, zu dem ich mir sofort Glück wünschte, und den ich auch nicht zögerte, ins Werk zu setzen. Ich fragte ihn, da das in wesentlicher Weise zu meinem Plan gehörte, ob diese Herren auch Kinder hätten. Er sagte mir, daß er mir darüber keine ganz sichere Auskunft geben könnte, aber was den Herrn de T*** anginge, der einer der Leiter sei, so kenne er von ihm einen Sohn im heiratsfähigen Alter, der mehrmals mit seinem Vater zum Arbeitshaus gekommen sei. Diese Mitteilung genügte mir.

Ich brach unsere Unterhaltung gleich darauf ab und ging wieder zu Lescaut zurück, indem ich ihm den Plan, den ich gefaßt hatte, mitteilte.

[128] »Ich glaube,« sagte ich zu ihm, »dieser jüngere Herr de T***, der reich und von guter Herkunft ist, wird, wie die meisten jungen Leute in seinem Alter, einen gewissen Hang zum Vergnügen haben. Jedenfalls dürfte er wohl kein Feind der Frauen sein und sich deshalb auch nicht weigern, in einer Liebesangelegenheit seine Hilfe zu leisten. Ich habe die Absicht, ihn für die Befreiung Manons zu interessieren. Wenn er ein vornehmer Charakter und ein Mann von Mitgefühl ist, wird er uns schon aus Großmut helfen. Sollte er einer solchen Empfindung nicht fähig sein, so wird er doch etwas für ein hübsches Mädchen tun, und wenn auch nur in der Hoffnung, ihre Gunst mitgenießen zu können. Ich werde ihn bereits morgen besuchen, ich fühle mich durch meinen Plan so getröstet, daß ich das als ein günstiges Vorzeichen ansehe.«

Lescaut gab ebenfalls zu, daß etwas Aussichtsvolles in meinen Ideen läge, und daß wir einige Hoffnung auf diesen Plan setzen könnten. Ich verbrachte deshalb die Nacht in einer trostreicheren Stimmung.

Am Morgen zog ich mich so sorgfältig an, wie es mir in der dürftigen Lage, in der ich mich befand, nur möglich war, und ließ mich in einem Wagen zur Wohnung des Herrn de T*** fahren. Er war erstaunt, als er den Besuch eines ihm Unbekannten empfing. Ich versprach mir sofort Gutes von seinem Gesichtsausdruck und seinem [129] höflichen Wesen und erzählte ihm unbefangen, was mir am Herzen lag. Um vor allem sein natürliches Mitgefühl zu erwecken, sprach ich zu ihm von meiner Leidenschaft und von den Vorzügen meiner Geliebten wie von Dingen, die mit nichts anderem verglichen werden könnten. Er sagte mir, er hätte zwar Manon nie gesehen, aber doch von ihr reden hören, vorausgesetzt, daß es sich um die ehemalige Geliebte des alten G*** M*** handelte. Natürlich war ich mir nicht im Zweifel, daß er über meinen Anteil an der ganzen Geschichte unterrichtet sei, und um ihn erst recht für mich einzunehmen, indem ich ihm zeigte, welches Vertrauen ich in ihn setzte, erzählte ich ihm ausführlich alles, was zwischen Manon und mir vorgegangen war.

»Sie sehen, mein Herr,« fuhr ich fort, »daß ich das Schicksal meines Lebens und meiner Liebe in Ihre Hände lege. Das eine gilt mir nicht mehr als das andere. Ich habe Ihnen nichts verheimlicht, weil man mir von Ihrem Edelmut erzählt hat, und weil unsere Gleichaltrigkeit mich hoffen läßt, daß auch unsere Neigungen übereinstimmen.«

Meine ausgesprochene Offenheit und Treuherzigkeit machten auf ihn einen starken Eindruck. Er antwortete mir wie ein Mann von Welt, der zugleich auch Gefühl hat, was man sonst in der großen Welt nicht immer findet, weil Gefühl sehr leicht verlorengeht. Er sagte mir, daß er meinen Besuch zu den guten Ereignissen seines [130] Lebens rechne, daß er meine Freundschaft als eine seiner glücklichsten Erwerbungen betrachten und sich bemühen werde, sie durch rührige Anteilnahme zu verdienen. Er versprach nicht, mir Manon zurückzugeben, weil er, wie er mir sagte, nur einen geringen und unsicheren Einfluß habe. Aber er bot mir an, mir das Vergnügen zu verschaffen, sie zu sprechen, und wollte überhaupt alles tun, was in seiner Macht lag, um sie in meine Arme zurückzuführen.

Ich war mehr befriedigt von dem Zugeständnis der Unsicherheit seiner Hilfe, als ich es von einer vollen Versicherung der Erfüllung aller meiner Wünsche gewesen wäre. Ich fand gerade in der Mäßigung seiner Angebote ein mich entzückendes Zeichen von Freimütigkeit. Mit einem Wort, ich versprach mir alles von seiner ehrlichen Gefälligkeit. Das einzige Versprechen, mich mit Manon zusammenzubringen, hätte mich bewogen, alles für ihn zu tun. Ich äußerte diese meine Empfindung in einer Art, die auch ihn überzeugte, daß ich keine undankbare Natur sei. Wir umarmten uns zärtlich und wurden Freunde durch nichts anderes als die Güte unserer Herzen und jene Veranlagung, die einen zärtlichen und edelmütigen Menschen dazu treibt, ein ihm ähnliches Wesen zu lieben.

Er ging in den Beweisen seiner Zuneigung noch viel weiter, denn nachdem er meine Erlebnisse erfahren hatte, [131] begriff er, daß ich mich nach meiner Flucht aus Saint-Lazare nicht gerade in den besten Verhältnissen befinden müßte, und bot mir aufs dringendste seine Börse an. Aber ich schlug sie aus.

»Das ist zuviel, mein lieber Herr«, sagte ich zu ihm. »Wenn Sie durch Ihre große Güte und Freundschaft es mir ermöglichen, meine teure Manon wiederzusehen, dann bin ich Ihnen für mein ganzes Leben verbunden. Und wenn Sie mir ganz und gar dieses liebe Geschöpf zurückgeben, dann glaube ich nicht, es Ihnen vergolten zu haben, auch wenn ich für Sie all mein Blut vergösse.«

Wir trennten uns nicht, ohne Zeit und Ort zu verabreden, wo wir uns wiedersehen wollten. Er war so gefällig, dieses Wiedersehen auf keinen ferneren Zeitpunkt als den Nachmittag desselben Tages zu verschieben.

Ich erwartete ihn in einem Kaffeehaus, in dem er mich gegen vier Uhr traf, und wir fuhren zusammen zum Arbeitshaus. Meine Knie zitterten, als ich die Höfe durchschritt.

»O heilige Liebe,« sagte ich, »ich werde also den Abgott meines Herzens, den Gegenstand so vieler Träume und Beängstigungen wiedersehen! Himmel, bewahre mir so viel Leben, um bis zu ihr hinzugehen, und verfüge dann über mein Glück und meine Tage. Ich habe keine andere Gnade zu erbitten.«

Herr de T*** sprach mit einigen Schließern des Hauses, [132] die sich beeilten, alles, was von ihnen abhing, zu seiner Zufriedenheit zu besorgen. Er ließ sich nach dem Teil des Gebäudes bringen, in dem Manon ihr Zimmer hatte, und man führte uns dahin mit einem Schlüssel von schrecklicher Größe, der dazu diente, ihre Tür zu öffnen. Ich fragte den Knecht, der uns leitete, und der auch ihre Beaufsichtigung unter sich hatte, auf welche Art sie die Zeit ihres Aufenthalts an diesem Ort verbracht habe.

Er sagte uns, sie sei von einer engelhaften Güte und habe ihm nie ein rohes Wort gesagt. Während der ersten sechs Wochen nach ihrer Ankunft habe sie unaufhörlich Tränen vergossen, aber seit einiger Zeit schiene sie ihr Schicksal gleichmütiger aufzunehmen und widme sich vom Morgen bis zum Abend dem Nähen, mit Ausnahme einiger Stunden, die sie mit Lesen verbrächte.

Ich fragte ihn noch, ob sie anständig behandelt worden sei. Er antwortete mir, daß es ihr wenigstens an den nötigsten Dingen niemals gefehlt hätte.

Wir näherten uns ihrer Tür, mein Herz schlug heftig. »Treten Sie allein hinein,« sagte ich zu Herrn de T***, »und bereiten Sie sie auf meinen Besuch vor, denn ich fürchte, es wird sie zu sehr erregen, wenn sie mich plötzlich erblickt.«

Die Tür wurde uns geöffnet, ich blieb auf dem Flur. Trotzdem konnte ich ihr Gespräch verstehen. Er sagte ihr, er sei gekommen, um ihr etwas Trost zu bringen. Er sei [133] ein Freund von mir und nähme großen Anteil an unserem Glück. Sie fragte ihn in lebhaftester Erregung, ob sie nicht von ihm erfahren könnte, was aus mir geworden sei. Er versprach ihr, mich zu ihren Füßen zu führen, ebenso zärtlich und ebenso treu, wie sie mich nur wünschen könnte.

»Wann?« fragte sie.

»Noch heute«, antwortete er. »Dieser glückliche Augenblick ist nicht fern, und wenn Sie es wünschen, wird er sogleich erscheinen.«

Sie begriff, daß ich an der Türe stand, und ich kam hinein, als sie eilends auf mich zustürzen wollte. Wir umarmten uns mit jener überströmenden Zärtlichkeit, die für vollkommene Liebende nach einer Trennung von drei Monaten so köstlich ist. Unsere Seufzer, unsere immerwährenden Ausrufe, die tausend schmachtenden Liebesnamen, die zwischen uns hin und her flogen, bildeten eine Viertelstunde lang ein Schauspiel, das Herrn de T*** sehr ergriff.

»Ich beneide Sie«, sagte er zu mir und veranlaßte uns, uns hinzusetzen. »Es gibt keine Höhe eines ruhmreichen Schicksals, dem ich nicht eine so schöne und so gefühlvolle Geliebte vorziehen würde.«

»Auch ich würde alle Kaiserreiche der Welt verschmähen,« antwortete ich ihm, »um mich des Glücks zu versichern, von ihr geliebt zu werden.«

[134] Natürlich verlief auch der übrige Teil einer so sehr ersehnten Unterredung unendlich zärtlich. Die arme Manon erzählte mir ihre Erlebnisse und ich ihr die meinigen. Wir vergossen bittere Tränen, als wir uns von dem Zustand unterhielten, in dem sie sich befand, und dem, den ich soeben verlassen hatte. Herr de T*** tröstete uns durch neue Versprechungen, sich mit vollem Eifer für die Beendigung unseres Elends einzusetzen. Er riet uns, diese erste Zusammenkunft nicht zu lange auszudehnen, um es ihm zu erleichtern, uns eine neue zu verschaffen. Er hatte aber große Mühe, uns seinem Rat geneigt zu machen. Vor allem konnte sich Manon nicht entschließen, mich gehen zu lassen, und sie zog mich hundertmal wieder auf meinen Stuhl zurück. Sie hielt mich an den Kleidern und an den Händen fest.

»Ach, an welchem Ort läßt du mich hier zurück!« sagte sie. »Wer gibt mir Sicherheit, daß ich dich wiedersehe?«

Herr de T*** versprach ihr, oft mit mir zu Besuch zu kommen. »Was diesen Ort angeht,« fügte er liebenswürdig hinzu, »so braucht man ihn nicht länger ein Arbeitshaus zu nennen. Es ist ein Versailles, seit eine Dame, die die Herrschaft über alle Herzen verdient, hier eingeschlossen ist.«

Beim Fortgehen erwies ich dem Knecht, der sie unter seiner Obhut hatte, einige Freigebigkeiten, um ihn zu verpflichten, [135] für sie mit Eifer zu sorgen. Der Bursche hatte eine weniger gewöhnliche und harte Seele als seine Kameraden. Er war Zeuge unseres Zusammenseins gewesen, und dieses zärtliche Schauspiel hatte ihn gerührt. Ein Louisdor, den ich ihm gab, fesselte ihn erst recht an mich, und als wir zum Hof hinabstiegen, nahm er mich beiseite.

»Mein Herr,« sagte er zu mir, »wenn Sie mich in Ihren Dienst nehmen oder mir eine anständige Entschädigung geben wollen für die Stelle, die ich hier verliere, so glaube ich, daß es mir leicht sein wird, Fräulein Manon zu befreien.«

Ich nahm diesen Vorschlag bereitwillig auf, und obgleich ich von allem entblößt war, machte ich ihm Versprechungen, die weit über seine Wünsche hinausgingen. Ich rechnete darauf, daß es mir immer leicht sein würde, einen Mann von dieser Art zu entschädigen.

»Sei überzeugt, mein Freund,« sagte ich zu ihm, »daß es nichts gibt, was ich nicht für dich täte, und daß dein Glück ebenso gesichert ist wie das meinige.«

Ich fragte ihn, welche Mittel er anzuwenden beabsichtigte.

»Nichts anderes,« sagte er mir, »als ihr des Abends die Türe ihres Zimmers zu öffnen und sie zu der Straßenpforte zu führen, wo Sie bereit sein müssen, sie zu empfangen.«

[136] Ich fragte ihn, ob denn nicht zu befürchten sei, daß sie beim Durchschreiten der Gänge und Höfe erkannt werde. Er gestand, daß eine gewisse Gefahr vorhanden wäre, aber er sagte mir, daß man schon etwas wagen müßte.

Obgleich ich entzückt war, ihn so entschlossen zu sehen, wandte ich mich doch an Herrn de T***, um ihm den Plan und das einzige Bedenken, das ihn zweifelhaft machen konnte, mitzuteilen. Er fand die Sache noch bedenklicher als ich, obgleich er zugab, daß sie auf diese Art entkommen könnte.

»Aber, wenn sie erkannt wird«, fuhr er fort, »und auf der Flucht ergriffen wird, dann ist es vielleicht um sie für immer getan. Im übrigen müssen Sie beide Paris sofort verlassen, denn Sie können sich gar nicht genügend vor den Nachforschungen verstecken. Infolge der Berichte über Sie und Ihre Geliebte wird man diese Nachforschungen verdoppeln. Ein Mann, der allein ist, kann ihnen leicht entgehen, aber es ist unmöglich, mit einer hübschen Frau unbekannt zu bleiben.«

So vernünftig mir auch sein Einwand erschien, er konnte doch nicht eine so unmittelbare Hoffnung, Manon zu befreien, in mir besiegen. Ich sagte das Herrn de T*** und bat ihn, meiner Liebe etwas Unbesonnenheit und Tollkühnheit zu verzeihen. Ich fügte hinzu, es sei allerdings meine Absicht, Paris zu verlassen und mich, wie [137] ich es schon getan hätte, in einem nahegelegenen Dorf aufzuhalten.

Wir kamen also mit dem Gefängnisdiener überein, unser Unternehmen schon am nächsten Abend zu wagen, und um ihm die größtmöglichste Sicherheit zu geben, beschlossen wir, Männerkleider herbeizuschaffen, die das Hinausgelangen erleichtern sollten. Es war nicht so einfach, sie hinauszuschmuggeln, aber ich fand doch schließlich ein Mittel, es zu ermöglichen. Ich bat nur Herrn de T***, am nächsten Tag zwei leichte Röcke übereinander anzuziehen, für das andere würde ich sorgen.

Den nächsten Morgen gingen wir wieder in das Arbeitshaus. Ich hatte für Manon Wäsche, Strümpfe und dergleichen bei mir und trug über meinem Wams einen Überrock, der die etwas ausgestopften Taschen verbarg. Wir blieben nur einen Augenblick in ihrem Zimmer. Herr de T*** überließ ihr einen seiner Röcke, ich gab ihr mein Wams, da mir der Überrock zum Hinauskommen genügte. So fehlte nichts an ihrer Kleidung mit Ausnahme der Hose, die ich unglücklicherweise vergessen hatte.

Das Vergessen dieses notwendigen Kleidungsstückes hätte uns sicherlich Stoff zum Lachen gegeben, wenn die Verlegenheit, in der wir uns befanden, nicht zu ernst gewesen wäre. Ich befand mich in Verzweiflung, weil uns eine solche Kleinigkeit aufhalten sollte. Schließlich faßte ich den Entschluß, selbst ohne Hose fortzugehen. [138] Ich überließ die meinigen Manon. Mein Überrock war lang, und mit Hilfe von einigen Stecknadeln setzte ich mich in den Stand, ohne aufzufallen zur Tür hinauszukommen.

Der Rest des Tages dehnte sich mir zu einer unerträglichen Länge aus. Endlich, als die Nacht gekommen war, begaben wir uns in einem Wagen bis in die Nähe vom Tor des Arbeitshauses. Wir waren noch nicht lange da, als wir Manon mit ihrem Begleiter erscheinen sahen. Unsere Wagentüre stand offen, und sie stiegen schnell hinein. Ich nahm meine Geliebte in die Arme, sie zitterte wie ein Blatt.

Der Kutscher fragte mich, wohin er fahren sollte. »Fahr zum Ende der Welt,« sagte ich, »und führe mich irgendwohin, wo ich niemals mehr von Manon getrennt werden kann.«

Diese Überschwenglichkeit, derer ich nicht Herr war, hätte mich beinahe in eine böse Verlegenheit gebracht. Der Kutscher dachte über meine Worte nach, und als ich ihm dann die Straße nannte, wohin wir gefahren werden wollten, antwortete er, er fürchte, daß er sich in eine schlimme Geschichte eingelassen habe. Er sehe wohl, daß dieser schöne junge Mann, der sich Manon nenne, ein Mädchen sei, das ich aus dem Arbeitshaus entführt hätte, und er habe keine Lust, sich mir zuliebe ins Unglück zu stürzen.

[139] Das zarte Gewissen dieses Halunken entsprang natürlich nur den Wunsch, sich von mir mehr bezahlen zu lassen. Wir befanden uns noch zu nahe beim Arbeitshaus, um uns anders als sehr still davonzumachen.

»Schweige,« rief ich ihm daher zu, »du sollst einen Louisdor haben!«

Für diese Summe hätte er mir geholfen, das Arbeitshaus in Brand zu stecken.

Wir erreichten das Haus, in dem Lescaut wohnte. Da es schon spät war, hatte Herr de T*** uns unterwegs verlassen mit dem Versprechen, uns am nächsten Tag wiederzusehen. Der Gefängnisdiener blieb allein bei uns.

Ich hielt Manon so fest in meinen Armen umschlungen, daß wir nur einen Platz im Wagen einnahmen. Sie weinte vor Freude, und ich fühlte, wie ihre Tränen mein Gesicht überströmten.

Als ich aussteigen mußte, um zu Lescaut hineinzugehen, bekam ich mit dem Kutscher einen neuen Streit, der sehr verhängnisvolle Folgen hatte. Ich bereute es, ihm einen Louis versprochen zu haben, und zwar nicht nur, weil das Anerbieten so übertrieben hoch war, sondern auch aus einem anderen, viel stärkeren Grunde, nämlich weil ich ihn nicht bezahlen konnte. Ich ließ daher Lescaut rufen. Er kam aus seinem Zimmer herab, um die Haustüre zu öffnen, und ich flüsterte ihm ins Ohr, in welcher Verlegenheit ich mich befände. Da er aber schlecht gelaunt [140] und auch nicht gewohnt war, auf einen Kutscher große Rücksicht zu nehmen, so antwortete er mir, ich scherze wohl.

»Einen Louisdor?« fügte er hinzu. »Zwanzig Stockhiebe kann dieser Halunke haben!«

Ich versuchte, ihm leise vorzustellen, daß er uns ins Verderben stürzen werde, aber er entriß mir meinen Spazierstock und machte Miene, den Kutscher zu verprügeln. Dieser war wohl schon einmal einem Gardisten oder Musketier in die Hände gefallen, denn er entfloh mit seinem Wagen, wobei er aber schrie, ich hätte ihn betrogen und würde noch von ihm zu hören bekommen. Vergebens rief ich ihm ein paarmal nach, er solle doch halten.

Seine Flucht versetzte mich in die äußerste Unruhe, denn ich zweifelte nicht, daß er die Polizei benachrichtigen würde.

»Sie stürzen mich ins Unglück«, sagte ich zu Lescaut. »Ich befinde mich bei Ihnen nicht in Sicherheit und muß mich sofort von hier entfernen.«

Damit reichte ich Manon den Arm, und wir gingen schnell aus dieser gefährlichen Straße fort. Lescaut schloß sich uns an.

Der Chevalier des Grieux hatte mehr als eine Stunde mit diesem Bericht verbracht, und ich bat ihn jetzt, sich [141] etwas Ruhe zu gönnen und uns beim Essen Gesellschaft zu leisten. Er ersah aus unserer Aufmerksamkeit, daß wir ihm voller Teilnahme zugehört hatten. Er versicherte uns, wir würden im weiteren Verlauf seiner Geschichte noch interessantere Dinge hören, und, als wir mit dem Essen fertig waren, fuhr er folgendermaßen fort.

Zweiter Teil
[142] Zweiter Teil.

Es ist etwas Wunderbares in der Art, wie die Vorsehung unsere Schicksale aneinanderkettet. Kaum waren wir fünf oder sechs Schritte gegangen, als ein Mann, dessen Gesicht ich nicht einmal sehen konnte, Lescaut erkannte. Offenbar lauerte er schon in der Nähe seiner Wohnung herum in der traurigen Absicht, die er jetzt auch ausführte.

»Das ist Lescaut«, sagte er, indem er eine Pistole auf ihn abfeuerte. »Heute kann er mit den Engeln zu Abend speisen.«

Er entfloh sofort, und Lescaut fiel ohne das mindeste Lebenszeichen zu Boden. Ich drängte Manon, zu fliehen, denn unsere Hilfe wäre bei einer Leiche unnütz gewesen, und ich fürchtete, von der Wache, die bald erscheinen mußte, verhaftet zu werden. Ich machte mich mit ihr und dem Diener durch die erste kleine Seitenstraße davon.

Sie war fast von Sinnen, und ich hatte Mühe, sie zu [143] stützen. Endlich bemerkte ich am Ende der Straße eine Droschke, in die wir einstiegen. Als mich aber der Kutscher fragte, wohin er uns fahren sollte, wußte ich keine Antwort. Ich hatte keinen sicheren Zufluchtsort, keinen vertrauten Freund, an den ich mich wenden durfte. Der Schrecken und die Müdigkeit hatten Manon derart überwältigt, daß sie halb ohnmächtig neben mir saß. Außerdem war mein Denken ganz von der Ermordung Lescauts erfüllt, und ich fürchtete auch noch immer die Wache. Welchen Entschluß sollte ich nur fassen?

Zum Glück erinnerte ich mich an den Gasthof in Chaillot, in dem ich einige Tage mit Manon verbracht hatte, als wir in dieses Dorf gegangen waren, um dort zu wohnen. Ich hoffte hier nicht nur in Sicherheit zu sein, sondern auch einige Zeit wohnen zu können, ohne zum Zahlen gedrängt zu werden.

»Bringe uns nach Chaillot«, sagte ich zum Kutscher.

Er weigerte sich, für weniger als eine Pistole so spät dahin zu fahren, was mich aufs neue in Verlegenheit setzte. Endlich einigten wir uns auf sechs Franken, es war das ganze Geld, das ich in der Tasche hatte.

Ich tröstete unterwegs Manon, aber in Wirklichkeit war ich innerlich selbst verzweifelt. Ich hätte mir auch tausendmal den Tod gegeben, wenn ich nicht das einzige, was mich am Leben festhielt, in meinen Armen gehalten hätte. Nur der Gedanke an sie hielt mich aufrecht.

[144] »Ich habe wenigstens sie«, sagte ich mir. »Sie liebt mich, sie gehört mir an. Tiberge hat gut sagen, daß das nur ein Scheinbild des Glückes sei. Ich könnte ruhig zusehen, wie die ganze Welt unterginge. Warum? Weil mir alles außer ihr gleichgültig ist.«

Mein Gefühl war wirklich so. Trotzdem aber war es mir in demselben Augenblick, da ich mir so wenig aus allen Gütern der Erde machte, doch klar, daß ich wenigstens einen kleinen Teil von diesen Gütern besitzen müßte, um den ganzen Rest um so stolzer zu verachten. Die Liebe ist stärker als der Überfluß, stärker als alle Schätze und Reichtümer, aber sie braucht doch ihre Hilfe, und nichts kann einen zartfühlenden Liebhaber so in Verzweiflung setzen, als wenn er sich dadurch wider Willen zu der Roheit der gewöhnlichsten Menschen herabgezogen sieht.

Es war elf Uhr, als wir in Chaillot ankamen. Wir wurden in dem Gasthof als alte Bekannte aufgenommen. Man war gar nicht erstaunt, Manon in Männerkleidung zu sehen, denn in Paris und in seiner Umgebung ist man daran gewöhnt, daß die Frauen sich auf alle mögliche Weise kostümieren. Ich ließ so reichlich auftischen, als befände ich mich in den besten Vermögensverhältnissen. Sie wußte nicht, daß es mir an Geld mangelte, und ich hütete mich auch wohl, ihr etwas davon zu sagen, denn ich war entschlossen, am nächsten Tag allein nach [145] Paris zurückzukehren, um ein Heilmittel gegen diese abscheuliche Art von Krankheit zu suchen.

Beim Essen sah ich, daß sie bleich und abgemagert war. Ich hatte davon im Arbeitshaus nichts bemerkt, denn das Zimmer, in dem ich sie gesehen, war nicht zum besten beleuchtet. Ich fragte sie, ob das nicht noch eine Folge des Schreckens sei, den sie beim Anblick der Ermordung ihres Bruders empfunden habe. Sie versicherte mir, so sehr sie auch durch dieses Ereignis ergriffen sei, ihre Blässe käme nur von dem, was sie in den drei Monaten meiner Abwesenheit ausgestanden hätte.

»Du liebst mich denn also sehr?« fragte ich.

»Tausendmal mehr, als ich es dir sagen kann«, antwortete sie.

»Und du würdest mich auch nie wieder verlassen?« fügte ich hinzu.

»Nein, niemals«, erwiderte sie.

Diese Versicherung wurde durch so viele Küsse und Beteuerungen bekräftigt, daß es mir wirklich unmöglich erschien, sie könnte sie jemals vergessen. Ich bin immer überzeugt gewesen, daß sie dabei ganz aufrichtig war. Welchen Grund sollte sie auch gehabt haben, sich in einem solchen Maße zu verstellen? Und doch war sie viel flatterhafter, als ich es je gedacht, oder vielmehr sie wurde ganz willenlos und kannte sich selbst nicht mehr, sobald sie, während sie sich selbst in Armut und Not befand, [146] andere Frauen in Überfluß sah. Ich sollte dafür bald einen letzten Beweis erhalten, der alle früheren übertraf und das seltsamste Abenteuer herbeiführte, das jemals einem Manne von meiner Herkunft und meinem Vermögen widerfahren ist.

Da ich diese ihre Gemütsanlage kannte, beeilte ich mich, den nächsten Tag nach Paris zu gehen. Der Tod ihres Bruders und die Notwendigkeit, Wäsche und Kleider für sie und mich zu besorgen, waren so gute Gründe, daß ich nicht erst einen besonderen Vorwand zu suchen brauchte. Ich verließ, wie ich Manon und dem Wirt sagte, den Gasthof in der Absicht, einen Mietswagen zu suchen. Aber das war nur Prahlerei, denn die Not zwang mich, zu Fuß zu gehen. Ich marschierte sehr schnell bis nach Cours-la-Reine, wo ich mich ausruhen wollte. Ich brauchte auch wirklich einen Augenblick der Einsamkeit und Stille, um mir alles zu überlegen, was ich in Paris tun wollte.

Ich setzte mich in das Gras und überließ mich einem Meer von Gedanken und Erwägungen, die sich aber allmählich auf drei Hauptpunkte zusammenzogen. Ich brauchte sofort Geld für eine große Anzahl dringender Bedürfnisse; ich mußte eine Möglichkeit finden, die mir wenigstens Hoffnung für die Zukunft gab; und, was nicht von der geringsten Wichtigkeit war, ich mußte Erkundigungen einziehen und Maßnahmen ergreifen, die zu Manons und meiner Sicherheit dienten. Als ich mich [147] in Plänen und Möglichkeiten über diese drei Punkte erschöpft hatte, hielt ich es für das beste, die beiden letzten noch zurückzustellen. In einem Zimmer in Chaillot waren wir ja auch nicht schlecht versteckt, und was die späteren Bedürfnisse anging, so hatte ich wohl noch Zeit, daran zu denken, wenn erst einmal die augenblicklichen befriedigt waren.

Es handelte sich also um die Frage, sofort meine Börse zu füllen. Herr de T*** hatte mir in edelmütiger Weise die seine angeboten, aber es widerstrebte mir aufs stärkste, ihn selbst noch einmal daran zu erinnern. Welche klägliche Rolle spielt man doch, wenn man einem Fremden seine Armut schildern und ihn bitten muß, uns Geld zu geben! Nur eine schamlose Seele, die zu niedrig ist, um diese Entwürdigung zu empfinden, ist dazu fähig; oder auch eine demütig christliche Seele, die aus einem Übermaß von Tugend eine solche Schande auf sich nimmt. Aber ich war weder schamlos noch ein guter Christ, und ich hätte die Hälfte meines Blutes hingegeben, um diese Erniedrigung zu vermeiden.

»Tiberge,« sagte ich mir, »der gute Tiberge – wird er sich wohl weigern, mir nach seinen Kräften zu helfen? Nein, mein Elend wird ihn rühren, aber er wird mich mit seinen Moralpredigten umbringen. Ich müßte seine Vorwürfe, seine Beschwörungen und Drohungen aushalten. Er würde mich für seine Hilfe so teuer bezahlen [148] lassen, daß ich lieber noch einmal einen Teil meines Blutes dahingäbe, um mich nicht länger diesen unerträglichen Auftritten auszusetzen, die mir nur Verwirrung und Gewissensbisse hinterlassen konnten. Gut!« fuhr ich fort, »ich muß dann auf jede Hoffnung verzichten, denn es bleibt mir kein anderer Weg, und diese beiden will ich ja so wenig einschlagen, daß ich lieber die Hälfte meines Blutes vergösse, ehe ich einen davon wählte, das heißt, lieber mein ganzes Blut, ehe ich sie beide wählte. Ja, all mein Blut,« fügte ich nach kurzem Nachdenken hinzu, »das gäbe ich lieber hin, als daß ich mich auf erniedrigendes Betteln einlasse.«

»Aber gerade um mein Blut handelt es sich ja hier! Es handelt sich um Manons Leben und Unterhalt, es handelt sich um meine Liebe und ihre Treue. Was habe ich dagegen in die Wagschale zu werfen? Bis jetzt nichts, und sie ist für mich Ehre, Glück und Reichtum. Sicherlich gibt es Dinge, die zu erlangen oder zu vermeiden ich mein Leben opfern würde, aber wenn es eine Sache gibt, die ich höher schätze als mein Leben, dann schätze ich sie doch noch nicht so hoch wie Manon selbst.«

Ich brauchte nicht lange, um nach dieser Überlegung zu einem Entschluß zu kommen. Ich machte mich wieder auf den Weg und nahm mir vor, zuerst zu Tiberge und dann zu Herrn de T*** zu gehen.

Als ich in Paris ankam, nahm ich eine Droschke, obgleich [149] ich kein Geld hatte, sie zu bezahlen. Ich rechnete eben auf die Hilfe, die ich mir erbitten wollte. Ich ließ mich zum Luxembourg fahren und schickte jemand zu Tiberge mit der Nachricht, daß ich ihn dort erwartete. Er befriedigte meine Ungeduld durch sein schnelles Erscheinen, und ich teilte ihm ohne Umschweife mit, in welcher äußersten Not ich mich befände. Er fragte mich, ob die hundert Pistolen, die ich ihm zurückgegeben hatte, mir genügen würden, und, ohne mir auch nur ein Wort des Bedenkens entgegenzusetzen, holte er sie mir sofort mit jenem offenen Gesicht und der Freude des Gebens, wie man sie nur in der Liebe und in der wahren Freundschaft kennt.

Obgleich ich nun nicht im geringsten an dem Erfolg meiner Bitte gezweifelt hatte, war ich erstaunt, sie so leichten Kaufs, das heißt ohne Vorwürfe wegen meiner Unbußfertigkeit erhalten zu haben. Aber ich täuschte mich, als ich glaubte, ganz ohne Vorwürfe davonzukommen. Denn als er mir sein Geld aufgezählt hatte, und ich mich anschickte, ihn zu verlassen, bat er mich, mit ihm einen Gang durch die Anlagen zu machen. Ich hatte ihm noch nichts von Manon gesagt, und er wußte nicht, daß sie sich in der Freiheit befand. Darum richtete sich seine Strafpredigt auch nur gegen meine waghalsige Flucht, und er gab seiner Furcht Ausdruck, daß ich, statt die empfangenen Ermahnungen zur Tugend zu beherzigen, von neuem mein zügelloses Leben beginnen würde.

[150] Er erzählte mir, daß er am Tage nach meiner Entweichung mich in Saint-Lazare hatte besuchen wollen und dort zu seiner unbeschreiblichen Bestürzung erfuhr, in welcher Weise ich hinausgelangt sei. Er habe dann über die Angelegenheit mit dem Prior eine Besprechung gehabt, und dieser gute Vater sei, trotzdem er sich noch nicht von seinem Schrecken erholt hatte, so edelmütig gewesen, dem Polizeipräsidenten die näheren Umstände meines Entweichens nicht zu verraten. Er habe überhaupt verhindert, daß etwas über den Tod des Pförtners nach außen gedrungen sei, so daß ich mich also in dieser Hinsicht nicht zu beunruhigen brauchte. Wenn ich aber noch das geringste Gefühl von Gottesfurcht besäße, dann müßte ich jetzt die glückliche Wendung, die der Himmel meinem Schicksal gegeben habe, benutzen. Vor allem müßte ich nunmehr an meinen Vater schreiben und mich mit ihm aussöhnen, und, wenn ich nur einmal seinem Rate folgen wollte, dann sollte ich auch Paris verlassen und in den Schoß meiner Familie zurückkehren.

Ich hörte seine Worte bis zum Ende an, es waren viele Dinge darin, die mich beruhigten. Vor allem war ich entzückt, nichts von Saint-Lazare aus befürchten zu brauchen, denn nun konnte ich mich wieder frei in den Straßen von Paris bewegen. Zum zweiten wünschte ich mir Glück, daß Tiberge nicht die geringste Ahnung von Manons Befreiung und ihrer Rückkehr zu mir hatte. Mir fiel sogar [151] auf, daß er es vermied, mit mir über sie zu sprechen, offenbar in der Meinung, mein Herz hinge nicht mehr so stark an ihr, da ich so ruhig wegen ihres Schicksals zu sein schien.

Ich beschloß, wenn auch nicht zu meiner Familie zurückzukehren, so doch, wie er es mir riet, meinem Vater zu schreiben und ihm meine Bereitwilligkeit mitzuteilen, zur Pflicht zurückzukehren und seinen Befehlen zu gehorchen. Meine Hoffnung war, ihn unter dem Vorwande, ich wollte an der Ritterakademie studieren, zu veranlassen, mir Geld zu schicken, denn ich hätte ihn schwerlich überzeugen können, daß ich geneigt sei, zum geistlichen Stande zurückzukehren. Im Grunde war ich auch gar nicht so abgeneigt, das auszuführen, was ich ihm versprechen wollte. Im Gegenteil, es wäre mir sehr lieb gewesen, etwas Ehrenhaftes und Vernünftiges zu beginnen, vorausgesetzt, daß dieser Plan meiner Liebe kein Hindernis entgegenstellte. Ich rechnete darauf, weiter mit meiner Geliebten zusammenzuleben und zu gleicher Zeit meine Studien zu betreiben. Dieses ließ sich gut miteinander vereinigen.

Ich war so befriedigt von diesem Gedanken, daß ich Tiberge versprach, noch am selben Tag einen Brief an meinen Vater abzusenden. Sobald ich ihn verlassen hatte, ging ich in eine Schreibstube und schrieb in einer so zärtlichen und unterwürfigen Art, daß, als ich den [152] Brief noch einmal durchlas, ich mir schmeichelte, ich würde schon etwas von der Güte meines Vaters erlangen.

Obgleich ich jetzt durchaus in der Lage war, einen Wagen zu nehmen und ihn zu bezahlen, machte ich mir ein Vergnügen daraus, den Weg zum Herrn de T*** stolz zu Fuß zurückzulegen. Es erfüllte mich mit Freude, von meiner Freiheit Gebrauch zu machen, für die ich nach der Versicherung meines Freundes nichts mehr zu befürchten hatte. Aber plötzlich fiel es mir ein, daß diese Zusicherung sich ja nur auf Saint-Lazare bezog, und daß ich außerdem noch die Sache mit dem Arbeitshaus auf dem Kerbholz hatte, ganz abgesehen von der Ermordung Lescauts, in die ich zum wenigsten als Zeuge verwickelt war.

Diese Erinnerung versetzte mich in einen solchen Schrecken, daß ich mich in den nächsten Hausflur begab und eine Droschke dorthin kommen ließ. Ich fuhr nun sofort zu Herrn de T***, der mich wegen meiner Angst auslachte. Sie erschien mir selber lächerlich, als er mir mitgeteilt hatte, daß ich weder wegen des Arbeitshauses noch wegen Lescaut etwas zu befürchten hätte. Er sagte mir, er sei schon am Morgen zum Arbeitshaus gegangen in dem Gedanken, man könnte vielleicht vermuten, daß er etwas mit der Entführung Manons zu tun gehabt hätte. Er habe getan, als wüßte er noch nichts von dem Geschehenen, und gefragt, ob er sie sprechen könne. Aber weit entfernt, ihn oder mich zu beschuldigen, habe man[153] sich im Gegenteil beeilt, ihm dieses Abenteuer als eine kaum begreifliche Geschichte zu erzählen, und sich gewundert, daß ein so hübsches Mädchen wie Manon mit einem Knecht davongelaufen sei. Er habe darauf kühl erwidert, daß es ihn eigentlich nicht wundere, denn man täte schließlich alles für die Freiheit.

Herr de T*** erzählte mir nun weiter, wie er von da zu Lescaut gegangen sei in der Hoffnung, mich dort mit meiner reizenden Geliebten zu treffen. Der Hauswirt, ein Wagenbauer, habe ihm versichert, daß er weder sie noch mich gesehen hätte. Aber es sei auch kein Wunder, wenn wir nicht bei ihm angelangt seien, denn, als wir zu Lescaut gewollt hätten, hätten wir sicherlich erfahren, daß er fast um dieselbe Zeit getötet worden wäre. Darauf teilte er mir auch mit, was er über die Ursache und die näheren Umstände dieses Todes wußte.

Ungefähr zwei Stunden vorher war ein mit Lescaut befreundeter Gardist zu ihm gekommen und hatte ihn zum Spiel aufgefordert. Lescaut hatte so schnell gewonnen, daß der andere in weniger als einer Stunde sein ganzes Geld, nämlich hundert Taler verloren hatte. Der Unglückliche, der sich nun ohne einen Sou sah, bat Lescaut, ihm die Hälfte der verlorenen Summe zu leihen, und darüber kamen sie zu einer Auseinandersetzung, die in einen äußerst heftigen Streit auslief. Lescaut weigerte sich, herauszukommen und die Sache mit dem Degen [154] auszutragen, worauf der andere fortging und schwur, ihm den Schädel zu zerschmettern, was er dann auch noch an demselben Abend tat.

Herr de T*** fügte noch in liebenswürdiger Weise hinzu, daß er infolge dieses Berichts sich sehr über uns beunruhigt habe, und bot mir noch einmal seine Dienste an. Ich hatte kein Bedenken, ihm unsern Zufluchtsort zu nennen, und er bat mich, ihm zu gestatten, das Souper mit uns einzunehmen.

Da mir nur noch übrigblieb, die Wäsche und die Kleider für Manon zu kaufen, so sagte ich ihm, wir könnten sogleich hinfahren, wenn er so gütig sein wollte, einen Augenblick mit mir an einigen Geschäften zu halten. Ich weiß nicht, ob er in meinem Vorschlag eine Absicht sah, seine Großmut zu erregen, oder ob es nur eine einfache Regung seiner edlen Seele war, jedenfalls stimmte er mir sofort zu und fuhr mit mir zu Geschäften hin, die auch für seine Familie lieferten. Er veranlaßte mich, mehrere Stoffe zu einem viel höheren Preis, als ich es mir vorgenommen hatte, auszusuchen, und als ich mich anschickte, sie zu bezahlen, verbot er den Händlern unbedingt, von mir auch nur einen Sou anzunehmen. Diese Zuvorkommenheit brachte er in einer so artigen Weise an, daß ich sie, ohne mich schämen zu müssen, glaubte annehmen zu dürfen. Wir schlugen dann gemeinsam den Weg nach Chaillot ein, wo ich mit weniger Unruhe ankam, als ich beim Fortgehen empfunden hatte.

[155] Meine Gegenwart und die Liebenswürdigkeiten des Herrn de T*** zerstreuten bei Manon allen Kummer, den sie vielleicht noch gehegt haben mochte.

»Vergessen wir, meine liebe Seele,« sagte ich ihr, als ich kam, »die Schrecken der Vergangenheit, und beginnen wir wieder glücklicher als jemals zu leben. Schließlich ist doch die Liebe ein guter Lehrmeister, und das Schicksal könnte uns nicht so viele Schmerzen bereiten, wie es uns Freuden zu kosten gibt.«

Unser Souper war ein wahres Schauspiel der Freude. Mit Manon und meinen hundert Pistolen war ich stolzer und zufriedener als der reichste Pariser Finanzpächter mit allen seinen aufgehäuften Schätzen. Man muß die Reichtümer danach abschätzen, wie weit man damit seine Wünsche befriedigen kann. Mir blieb jetzt gar nichts mehr zu wünschen übrig, selbst die Zukunft machte mir wenig Sorgen. Ich war fast sicher, daß mein Vater mir ohne Widerstreben so viel geben würde, um davon anständig in Paris leben zu können, denn ich befand mich in meinem zwanzigsten Jahr, und die Zeit nahte heran, wo ich das Recht hatte, den mir gehörigen Anteil meines mütterlichen Erbes zu verlangen. Ich verschwieg Manon nicht, daß mein ganzes Geld nicht mehr als hundert Pistolen betrug. Das war aber genug, um ruhig auf besseres Glück zu warten, das mir auf keinem Fall ausbleiben konnte, sei es infolge meiner natürlichen Rechte, sei es durch das Spiel.

[156] So dachte ich also während der ersten Wochen an nichts, als ruhig mein Leben zu genießen, und mein Ehrgefühl sowie die Furcht vor der Polizei veranlaßten mich, die Erneuerung meiner Bekanntschaft mit den Genossen aus dem Hotel de Transsylvanie von Tag zu Tag hinauszuschieben. Ich begnügte mich, in einigen weniger verrufenen Gesellschaften zu spielen, und die Gunst des Glücks ersparte mir die Erniedrigung, nach dem Falschspiel greifen zu müssen. Einen Teil des Nachmittags verbrachte ich so in der Stadt, und wenn ich zum Souper nach Chaillot zurückkam, brachte ich oft Herrn de T*** mit, dessen Freundschaft für uns von Tag zu Tag wuchs.

Auch Manon fand Mittel gegen die Langeweile. Sie schloß sich in der Nachbarschaft einigen jungen Damen an, die der Frühling dort versammelt hatte. Spaziergänge und leichte weibliche Arbeiten bildeten abwechselnd ihre Beschäftigung. Eine Spielpartie mit beschränkten Höchstsätzen bestritt die Kosten eines Fuhrwerks. Sie fuhren, um die Luft zu genießen, zum Boulogner Wäldchen, und wenn ich des Abends zurückkam, dann fand ich Manon hübscher, zufriedener und verliebter als je.

Zwar erhoben sich dann und wann einige Wölkchen, die den Himmel meines Glücks zu trüben drohten, aber sie wurden schnell wieder zerstreut, und die fröhliche Laune Manons machte die Lösung so komisch, daß ich ihre Süßigkeit noch in einer Erinnerung finde, die die ganze [157] Zärtlichkeit und Liebenswürdigkeit ihres Charakters zeigten.

Der einzige Diener, den wir hatten, nahm mich eines Tages beiseite und sagte mir sehr verwirrt, er habe mir ein wichtiges Geheimnis mitzuteilen. Ich forderte ihn auf, sich offen auszusprechen. Nach einigen Umschweifen gab er mir zu verstehen, daß ein fremder, vornehmer Herr sich heftig in Fräulein Manon verliebt habe.

Ich fühlte, wie mir mein Blut wild durch alle Adern schoß. »Liebt sie ihn auch?« unterbrach ich ihn heftiger, als es vielleicht klug war, wenn ich weitere Aufschlüsse erhalten wollte.

Meine Aufregung erschreckte ihn. Er antwortete mit unruhiger Miene, soweit könne er die Sache nicht beurteilen. Er habe aber bemerkt, daß dieser Fremde seit mehreren Tagen beharrlich in das Boulogner Wäldchen komme, daß er dort aus seinem Wagen steige, und da er allein durch die Nebenwege streife, so scheine er eine Gelegenheit zu suchen, das Fräulein zu sehen oder zu sprechen. Ihm sei nun der Gedanke gekommen, sich mit dem Diener des Fremden bekannt zu machen, um so dessen Namen zu erfahren. Sie hielten ihn für einen italienischen Fürsten und schrieben ihm selbst allerlei galante Abenteuer zu. Weitere Aufschlüsse habe er aber nicht erlangen können, denn eben jetzt sei der Fürst aus dem Wäldchen herausgetreten und vertraulich auf ihn zugegangen, [158] wobei er ihn nach seinem Namen gefragt hätte. Dann, als ob er erraten hätte, in welchem Dienste er stand, habe er ihm Glück gewünscht, der reizendsten Dame der Welt anzugehören.

Ungeduldig wartete ich auf die Fortsetzung seines Berichts. Er beendigte ihn mit ängstlichen Entschuldigungsworten, die ich als Folgen meiner unklugen Erregtheit ansah. Vergebens drängte ich ihn, ohne Bedenken fortzufahren. Er beteuerte mir, er wüßte weiter nichts, denn das eben erzählte Erlebnis sei erst gestern vorgefallen, und seitdem habe er die Leute des Fürsten nicht mehr gesehen. Ich beruhigte ihn nicht nur durch Lobsprüche, sondern auch durch eine anständige Belohnung, und ohne ihm das geringste Mißtrauen gegen Manon zu zeigen, gebot ich ihm in einem ruhigeren Ton, alle Schritte dieses Fremden zu überwachen.

Im Grunde hinterließ seine Furcht in mir quälende Zweifel, denn sie konnte ihn veranlaßt haben, einen Teil der Wahrheit zu unterdrücken. Nach einigem Nachdenken verlor sich aber doch meine Unruhe, und ich bedauerte, mich so erregt gezeigt zu haben. Schließlich konnte ich es doch Manon nicht zu einem Verbrechen anrechnen, wenn sie von jemand geliebt wurde. Die Wahrscheinlichkeit sprach in hohem Maße dafür, daß sie von ihrer Eroberung gar nichts wußte, und was sollte das auch für mich für ein Leben werden, wenn ich die Eifersucht so leicht in mein Herz hereinließ?

[159] Am nächsten Tage fuhr ich wieder nach Paris, ohne eine andere Absicht, als durch höheres Spielen das Anwachsen meines Vermögens zu beschleunigen. Denn ich wollte mich in den Stand setzen, Chaillot beim ersten Anlaß zur Besorgtheit verlassen zu können. Des Abends erfuhr ich nichts, was mich hätte beunruhigen können. Der Fremde war wieder im Boulogner Wäldchen erschienen und hatte sich auf Grund des am Tage vorher Geschehenen von neuem meinem Vertrauten genähert. Er hatte zu ihm von seiner Liebe gesprochen, aber in Ausdrücken, die auf kein Einvernehmen mit Manon schließen ließen. Er hatte ihn nach tausend Einzelheiten gefragt und endlich durch große Versprechungen versucht, ihn für seine Interessen zu gewinnen, indem er einen bereitgehaltenen Brief hervorzog und ihm vergebens einige Louisdore anbot, wenn er ihn seiner Herrin übermitteln würde.

Zwei Tage verflossen ohne Zwischenfall, der dritte aber wurde stürmisch. Ich erfuhr, als ich ziemlich spät aus der Stadt zurückkam, daß sich Manon während des Spazierganges einen Augenblick von ihren Gefährtinnen getrennt hatte, worauf der Fremde, der ihr in einiger Entfernung gefolgt war, sich ihr auf ein Zeichen von ihr genähert und von ihr einen Brief erhalten hatte, den er mit überschwenglicher Freude in die Hand nahm. Er konnte aber nur in verliebter Weise die Schriftzeichen küssen, denn sie hatte sich sofort wieder entfernt. Sie befand sich übrigens [160] während des ganzen Tages in ungewöhnlich froher Stimmung, und auch nach ihrer Rückkehr in die Wohnung hatte diese Fröhlichkeit sie nicht verlassen.

Ich muß bei jedem Wort, das mein Diener sagte, gezittert haben. »Bist du sicher,« sagte ich traurig zu ihm, »daß dich deine Augen nicht getäuscht haben?« Worauf er den Himmel als Zeugen seiner Aufrichtigkeit anrief.

Ich weiß nicht, wohin mich die Folterqualen meines Herzens noch gebracht hätten, wenn nicht Manon, die mich hatte ankommen hören, mit ungeduldiger Miene und Vorwürfen wegen meines langen Ausbleibens vor mir erschienen wäre. Sie wartete erst gar nicht meine Antwort ab, sondern überschüttete mich mit Zärtlichkeiten, und als sie sich allein mit mir sah, machte sie mir sehr lebhafte Vorwürfe wegen meiner Gewohnheit, jetzt immer so spät zurückzukommen. Da ich schwieg, konnte sie ruhig weiterreden, und sie sagte mir, daß ich schon seit drei Wochen ihr auch nicht einen einzigen Tag völlig geopfert hätte. Sie könnte aber dieses lange Fortsein nicht ertragen und wollte wenigstens dann und wann einmal einen ganzen Tag haben. Jedenfalls bat sie mich, den nächsten Tag vom Morgen bis zum Abend in ihrer Gesellschaft zu verbringen.

»Ich werde schon hierbleiben, sei unbesorgt«, antwortete ich in einem ziemlich barschen Ton. Sie achtete wenig auf meine Verdrossenheit, und in dem Überschwang ihrer [161] Freude, die mir tatsächlich auffallend lebhaft zu sein schien, plauderte sie in gefälliger Weise über die Art, wie sie den Tag verbracht hatte.

»Seltsames Mädchen!« sagte ich im stillen. »Wohin wird dieses Vorspiel führen?« Das Ereignis unserer ersten Trennung trat vor meine Erinnerung. Trotzdem glaubte ich hinter ihrer Freude und Zärtlichkeit etwas Aufrichtiges zu sehen, das mit dem äußeren Anschein in Einklang stand.

Es war mir nicht schwierig, die Traurigkeit, gegen die ich vergebens während unseres Essens ankämpfte, auf einen Spielverlust zu schieben, den ich angeblich am Nachmittag gehabt hätte. Es erschien mir schon als ein großer Vorteil, daß sie selbst den Vorschlag gemacht hatte, Chaillot am nächsten Tag nicht zu verlassen. Hierdurch gewann ich Zeit zum Nachdenken, und meine Anwesenheit beseitigte für den morgigen Tag alle Arten von Befürchtungen. Ich war sogar entschlossen, wenn ich nichts bemerkte, was mich zwang, meine Entdeckungen laut werden zu lassen, den nächstfolgenden Tag nach der Stadt zu übersiedeln, und zwar in ein Viertel, wo ich nichts von italienischen Fürsten zu befürchten hatte. Infolge dieses Planes verbrachte ich die Nacht in ruhigerer Stimmung, aber der Schmerz, vor einer neuen Treulosigkeit zittern zu müssen, blieb doch zurück.

Als ich erwachte, erklärte mir Manon, wenn ich auch [162] den Tag in unserer Wohnung verbrächte, so wolle sie doch nicht, daß ich deshalb nachlässiger aussehe. Und sie schlug mir vor, mir mit eigenen Händen die Haare zu machen. Ich besaß sehr schönes Haar, und sie hatte sich schon öfter dieses Vergnügen gemacht. An diesem Tage aber schien sie ganz besondere Sorgfalt darauf zu verwenden. Um sie zufriedenzustellen, mußte ich mich vor ihren Toilettentisch setzen und alle die kleinen Mittel versuchen, die sie sich ausdachte, um mich schön zu machen. Im Verlauf ihrer Arbeit veranlaßte sie mich öfters, mein Gesicht ihr zuzuwenden, und, indem sie sich mit beiden Händen auf meine Schultern stützte, betrachtete sie mich mit verlangender Neugierde. Wenn sie dann durch einen oder zwei Küsse ihrer Befriedigung Ausdruck gegeben hatte, mußte ich mich wieder hinsetzen, damit sie ihr Werk fortsetzen konnte.

Mit dieser Tändelei verbrachten wir die Zeit bis zum Diner. Die Lust, die ihr diese Beschäftigung gewährte, erschien mir so natürlich, und in ihrer Fröhlichkeit lag so wenig Verstellung, daß ich solche Anzeichen der Zuneigung in keiner Weise mit der Absicht eines schwarzen Verrats in Übereinstimmung bringen konnte und ein paarmal geneigt war, ihr mein Herz auszuschütten, um mich der Bürde zu entlasten, die mir allmählich zu schwer wurde. Aber ich hoffte immerzu, sie würde mir selbst alles erzählen, und genoß das im voraus wie einen köstlichen Triumph.

[163] Wir kehrten in ihr Kabinett zurück. Sie begann sich wieder mit meinen Haaren zu beschäftigen, und ich fügte mich bereitwillig allen ihren Wünschen, als man ihr meldete, daß der Fürst de *** sie zu sprechen wünschte. Dieser Name erhitzte mich zu einer wahnsinnigen Wut.

»Was soll das heißen?« schrie ich, indem ich sie zurückstieß. »Wer? Was für ein Fürst?«

Sie antwortete mir nicht auf meine Fragen. »Führen Sie ihn herauf!« sagte sie kühl zu dem Diener. Dann wandte sie sich zu mir. »Teurer Geliebter,« flehte sie in bezauberndem Ton, »ich bete dich an, ich bitte dich nur für einen Augenblick um einen Gefallen. Nur für einen einzigen Augenblick! Dafür werde ich dich tausendmal mehr lieben und dir mein ganzes Leben dankbar sein.«

Unwille und Überraschung banden mir die Zunge. Sie wiederholte ihre Bitten, und ich suchte nach Ausdrücken, um sie mit Verachtung zurückzuweisen. Da sie aber hörte, wie die Tür zum Vorzimmer geöffnet wurde, ergriff sie mit einer Hand meine Haare, die über meine Schultern flossen, und nahm in die andere ihren Toilettenspiegel. Sie wandte alle ihre Kraft an, mich in diesem Zustand bis zur Tür des Kabinetts zu ziehen, und, indem sie sie mit dem Knie aufstieß, bot sie dem Fremden, den das Geräusch mitten im Zimmer festgehalten hatte, ein Schauspiel, das ihm sicherlich etwas erstaunlich vorkommen [164] mußte. Ich erblickte einen sehr gut gekleideten, aber ziemlich häßlichen Mann.

Trotz der Verwirrung, in die ihn die Szene versetzte, unterließ er es nicht, eine tiefe Verbeugung zu machen. Manon gab ihm nicht die Zeit, seinen Mund zu öffnen, sie hielt ihm ihren Spiegel vor.

»Sehen Sie, mein Herr,« sagte sie zu ihm, »betrachten Sie sich gut, und antworten Sie mir ehrlich. Sie bitten mich um meine Liebe. Hier aber ist der Mann, den ich liebe, und dem ich Liebe für mein ganzes Leben geschworen habe. Machen Sie selbst den Vergleich. Wenn Sie glauben, ihm mein Herz abspenstig machen zu können, dann sagen Sie mir, auf welcher Grundlage das geschehen soll, denn ich erkläre Ihnen, daß in den Augen Ihrer sehr ergebenen Dienerin alle Fürsten aus Italien nicht so viel gelten als eins dieser Haare, die ich in der Hand halte.«

Während dieser tollen Rede, die sie sich offenbar vorher überlegt hatte, bemühte ich mich vergebens, mich frei zu machen, und da ich mit diesem vornehmen Mann Mitleid empfand, fühlte ich mich veranlaßt, ihre Beleidigung durch meine Höflichkeit gutzumachen. Aber er hatte sich schnell gefaßt, und seine Antwort, die ich ein wenig grob fand, veranlaßte mich, meine Absicht aufzugeben.

»Mein liebes Fräulein,« sagte er mit gezwungenem[165] Lächeln, »ich mache in der Tat meine Augen auf und finde, daß Sie weniger unerfahren sind, als ich gedacht habe.«

Ohne noch einen Blick auf sie zu werfen, zog er sich sofort zurück, indem er mit halber Stimme hinzufügte, daß die französischen Frauen nicht mehr taugten als die italienischen. Es veranlaßte mich nichts bei dieser Gelegenheit, ihm eine bessere Meinung über das schöne Geschlecht beizubringen.

Manon, die jetzt meine Haare losließ, warf sich in einen Sessel, und das ganze Zimmer hallte von ihrem lustigen Lachen wider. Ich kann nicht verhehlen, daß mich ihr Opfer, das ich nur ihrer Liebe zuschreiben konnte, bis ins innerste Herz gerührt hatte. Trotzdem erschien mir ihr Scherz etwas zu weit getrieben, und ich machte ihr deswegen Vorhaltungen.

Sie erzählte mir nun, daß mein Rivale, nachdem er sie mehrere Tage lang im Boulogner Wäldchen verfolgt und ihr durch Gesichterschneiden seine Gefühle gezeigt hatte, den Entschluß gefaßt habe, sich in einem Briefe mit seinem Namen und allen seinen Titeln offen zu erklären. Den Brief ließ er ihr durch den Kutscher des Wagens, in dem sie mit ihren Gefährtinnen saß, überreichen, und er versprach ihr darin jenseits der Alpen glänzende Reichtümer und seine ewige Anbetung. Anfangs war sie mit der Absicht nach Chaillot zurückgekehrt, [166] mir das Abenteuer zu erzählen, dann aber fiel ihr ein, wir könnten uns einen Spaß daraus machen, und sie konnte diesem Gedanken nicht mehr widerstehen. Sie erteilte daher dem italienischen Fürsten in einer sehr liebenswürdigen Antwort die Erlaubnis, sie in ihrer Wohnung zu besuchen, und machte sich zugleich ein zweites Vergnügen daraus, mich in ihren Plan hineinzuziehen, ohne daß ich das mindeste davon ahnte. Ich sagte ihr natürlich von den Mitteilungen, die ich auf anderem Wege über die Sache erhalten hatte, kein Wort, und im Rausch meiner triumphierenden Liebe war ich mit allem einverstanden.

Ich habe immer in meinem Leben bemerkt, daß der Himmel jedesmal, wenn er mich mit seinen schwersten Züchtigungen treffen wollte, gerade die Zeit wählte, in der mein Glück am meisten gesichert erschien. Ich hielt mich in der Freundschaft des Herrn de T*** und der Liebe Manons für so glücklich, daß mich niemand davon hätte überzeugen können, ich brauchte irgendein neues Unglück zu befürchten. Und doch bereitete sich schon ein ganz unheimliches vor. Es brachte mich in den Zustand, in dem Sie mich in Passy sahen, und dann allmählich in so entsetzliche Nöte, daß Sie nur mit Mühe meinem wahrheitsgemäßen Bericht werden Glauben schenken.

Eines Abends hatten wir Herrn de T*** zu Gast, als wir das Geräusch eines Wagens hörten, der am Tor [167] unseres Gasthofes anhielt. Aus Neugierde erkundigten wir uns, wer wohl noch zu dieser Stunde ankommen mochte, und erfuhren dann, es sei der junge G*** M***, das heißt der Sohn meines grausamsten Feindes, dieses alten Wüstlings, der mich in Saint-Lazare und Manon ins Arbeitshaus hatte einsperren lassen. Bei der Erwähnung seines Namens stieg mir das Blut ins Gesicht.

»Der Himmel hat ihn hierhergeführt,« sagte ich zu Herrn de T***, »um an ihm die Gemeinheiten seines Vaters zu bestrafen. Er wird mir nicht entgehen, ohne daß wir die Degen miteinander gekreuzt haben.«

Herr de T***, der ihn kannte und sogar einer seiner besten Freunde war, bemühte sich, mir andere Gefühle gegen ihn einzuflößen. Er versicherte mir, er sei ein junger, sehr liebenswürdiger Mensch und so wenig imstande, an dem Handeln seines Vaters teilzunehmen, daß ich ihn nur einen Augenblick zu sehen brauchte, um ihm meine Achtung zu erweisen und die seinige für mich zu wünschen. Nachdem er noch tausend Dinge zu seinen Gunsten hinzugefügt hatte, bat er mich, ihn einladen zu dürfen, zu uns zu kommen und den Rest des Soupers mit uns zu genießen.

Auf meinen Einwand, daß wir doch Manon einer Gefahr aussetzen würden, wenn wir dem Sohn unseres Feindes ihren Aufenthalt verrieten, beteuerte er auf seine Ehre und seine Seligkeit, daß wir, sobald der junge Mann [168] uns erst kennte, keinen glühenderen Verteidiger haben würden. Natürlich erhob ich nach solchen Versicherungen keine Schwierigkeiten mehr.

Herr de T*** brachte ihn nicht zu uns herein, ohne ihm gesagt zu haben, wer wir seien. Als er unser Zimmer betrat, zeigte er eine Miene, die uns sofort für ihn einnahm. Er umarmte mich, und wir setzten uns hin. Er bewunderte Manon, mich und alles, was uns gehörte. Auch aß er mit einem Appetit, der unserem Souper Ehre erwies.

Nachdem dann abgedeckt war, lenkte sich unsere Unterhaltung in ernsthaftere Bahnen ein. Er schlug die Augen nieder und sprach von der Untat, die sein Vater gegen uns begangen hatte. Dabei äußerte er seine demütigsten Entschuldigungen.

»Ich will mich nicht länger dabei aufhalten,« sagte er zu uns, »um nicht eine Erinnerung wieder aufzufrischen, die mich mit zu großer Scham erfüllt.«

Wenn seine Worte schon von Beginn an aufrichtig waren, so wurden sie es im Verlauf des Abends noch viel mehr, denn er hatte sich noch keine halbe Stunde mit uns unterhalten, als ich schon bemerkte, welchen starken Eindruck die Reize Manons auf ihn machten. Seine Blicke und sein ganzes Benehmen wurden immer gerührter. Zwar ließ er sich nichts davon in seiner Unterhaltung entschlüpfen, aber ich besaß, ohne daß mich die Eifersucht [169] dazu führte, schon zu viel Erfahrung in der Liebe, um nicht alles zu bemerken, was aus dieser Quelle entsprang.

Er leistete uns noch bis zu später Stunde Gesellschaft und verließ uns erst, nachdem er sich wegen unserer Bekanntschaft Glück gewünscht hatte. Auch bat er um die Erlaubnis, dann und wann uns mit seinem Besuch und seinen guten Diensten aufwarten zu dürfen. Des Morgens fuhr er mit Herrn de T***, den er mit in seinen Wagen nahm, wieder ab.

Wie ich schon sagte, hegte ich nicht die geringste Eifersucht, besonders da ich mehr als je den Schwüren Manons Glauben schenkte. Dieses wundervolle Geschöpf war so vollständig Herrin meiner Seele, daß ich für sie nichts anderes als Achtung und Liebe empfinden konnte. Weit entfernt also, ihr daraus ein Verbrechen zu machen, daß sie dem jungen G*** M*** gefallen hatte, war ich entzückt von der Macht ihrer Reize und beglückwünschte mich, von einem Mädchen geliebt zu werden, das alle Menschen liebenswürdig fanden.

Ich hielt es deshalb auch gar nicht für angebracht, ihr meine Vermutungen mitzuteilen. Wir waren ein paar Tage lang damit beschäftigt, neue Kleider für sie herrichten zu lassen und uns zu überlegen, ob wir wohl ins Theater gehen dürften, ohne befürchten zu müssen, daß uns jemand erkennen würde. Herr de T*** besuchte uns gegen Ende der Woche, und wir berieten uns mit ihm [170] darüber. Er erklärte sofort, daß wir es Manon zu Gefallen wagen müßten, und wir beschlossen, noch am gleichen Abend mit ihm hinzugehen.

Aber dieser Entschluß konnte nicht ausgeführt werden, denn er zog mich beiseite, um mir eine Mitteilung zu machen. »Ich befinde mich«, sagte er, »seit meinem letzten Besuch bei Ihnen in der größten Verlegenheit, und auch mein heutiges Kommen ist eine Folge davon. G*** M*** liebt Ihre Geliebte, er hat es mir gestanden. Ich bin sein vertrauter Freund und stehe ihm in allem zur Verfügung, aber ich bin nicht minder auch der Ihrige. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß seine Absichten ein Unrecht sind, und mißbillige sie. Ich würde nun sein Geheimnis nicht verraten haben, wenn er die Absicht hätte, die gewöhnlichen Wege einzuschlagen, um ihre Neigung zu erringen. Aber er ist sehr gut über den Charakter Manons unterrichtet. Er hat, ich weiß nicht auf welche Weise, in Erfahrung gebracht, daß sie sehr den Überfluß und die Vergnügungen liebt, und da er sich schon im Besitz eines beträchtlichen Vermögens befindet, erklärte er mir, er wolle zuerst einen Versuch mit einem sehr wertvollen Geschenk und dem Anerbieten von zehntausend Franken Rente machen. Wenn Ihre beiderseitige Lage die gleiche wäre, so hätte es mich vielleicht eine größere Überwindung gekostet, ihn zu verraten. Aber neben meiner Freundschaft sprach auch mein [171] Rechtsgefühl zu Ihren Gunsten, um so mehr, da ich ja eigentlich dadurch, daß ich ihn hier eingeführt habe, die unfreiwillige Ursache seiner Leidenschaft bin. Ich halte mich deshalb für verpflichtet, die Folgen des von mir herbeigeführten Übels zu verhindern.«

Ich dankte Herrn de T*** für seinen so wichtigen Dienst und gestand ihm in aufrichtiger Erwiderung seines Vertrauens, daß der Charakter Manons wirklich so sei, wie ihn G*** M*** sich vorstellte, das heißt, daß sie die Vorstellung der Armut nicht ertragen könnte.

»Da es sich aber«, fuhr ich dann fort, »nur um die Frage von etwas mehr oder weniger Reichtum handelt, so glaube ich nicht, daß sie mich um eines anderen willen verlassen könnte. Ich bin imstande, es ihr an nichts fehlen zu lassen, und rechne damit, daß sich mein Vermögen von Tag zu Tag vermehrt. Ich fürchte nur eins,« fügte ich hinzu, »daß G*** M*** seine Kenntnis unseres Aufenthalts benutzt, um uns einen bösen Streich zu spielen.«

Herr de T*** versicherte mir, daß ich in dieser Hinsicht keine Befürchtungen zu hegen brauchte, daß G*** M*** zwar einer verliebten Torheit, aber keiner Schurkerei fähig sei. Wenn er aber wirklich die Niedrigkeit besäße, eine solche zu begehen, so würde er, de T***, der erste sein, ihn deshalb zur Rechenschaft zu ziehen und so das Unglück, das er ermöglicht habe, wieder gutzumachen.

[172] »Ich bin Ihnen sehr für Ihre Gesinnung verbunden«, sagte ich. »Aber wenn das Unglück einmal geschehen sei, dann würde die Wiedergutmachung sehr ungewiß sein. Darum ist es das klügste, dem zuvor zu kommen, indem ich Chaillot verlasse und eine andere Wohnung suche.«

»Nun ja,« erwiderte Herr de T***, »aber Sie würden das kaum so schnell tun können, wie es nötig wäre, denn G*** M*** wird wohl gegen Mittag hier sein. Er hat es mir gestern gesagt, und um Ihnen diese seine Absicht mitzuteilen, bin ich ja gerade so früh schon zu Ihnen hergekommen. Er kann jeden Augenblick eintreffen.«

Ein so dringender Rat machte doch, daß ich die ganze Sache viel ernsthafter nahm. Da es mir unmöglich erschien, den Besuch des G*** M*** zu verhindern, und zweifellos auch ebenso unmöglich, ihn von einer Aussprache mit Manon abzuhalten, beschloß ich, sie selbst von der Absicht dieses neuen Nebenbuhlers zu benachrichtigen. Ich dachte mir, wenn sie über die Anerbietungen, die er ihr machen wollte, unterrichtet sei und sie mit meinen Augen sähe, daß sie dann genügend Kraft haben würde, sie zurückzuweisen. Ich teilte Herrn de T*** meinen Gedanken mit, worauf er mir antwortete, daß das eine sehr heikle Sache sei.

»Ich gebe das zu«, sagte ich. »Aber, wenn es irgendwelche Gründe gibt, einer Geliebten sicher zu sein, so habe ich sie, um auf die Zuneigung der meinigen zu rechnen. [173] Es könnte sie hier nichts als die Größe des Anerbietens verblenden, und ich sagte Ihnen doch schon, daß sie gar nicht nach Geld begierig ist. Sie liebt ein bequemes Leben, aber sie liebt auch mich, und so wie meine Verhältnisse jetzt liegen, möchte ich nicht glauben, daß sie mir den Sohn eines Mannes, der sie ins Arbeitshaus gebracht hat, vorzieht.«

Kurz gesagt, ich blieb bei meiner Absicht, und indem ich Manon zur Seite nahm, setzte ich ihr offen alles, was ich erfahren hatte, auseinander.

Sie dankte mir wegen der guten Meinung, die ich von ihr hätte, und versprach mir, die Anerbietungen des G*** M*** in einer Weise aufzunehmen, die ihm die Lust vertreiben würde, sie noch einmal zu wiederholen.

»Nein,« sagte ich zu ihr, »du darfst ihn nicht durch ein Schroffes Benehmen vor den Kopf stoßen, er kann uns schaden. Aber du weißt ja sehr gut, du Schelm,« fügte ich lachend hinzu, »wie man sich einen unangenehmen oder unbequemen Liebhaber vom Halse hält.«

»Mir kommt da ein wundervoller Einfall«, sagte sie, nachdem sie etwas nachgedacht hatte. »G*** M*** ist der Sohn unseres grausamsten Feindes. Wir wollen uns an dem Vater rächen, aber nicht, indem wir den Sohn, sondern indem wir seine Börse treffen. Ich will ihn anhören, seine Geschenke annehmen und mich über ihn lustig machen.«

[174] »Der Plan ist hübsch«, antwortete ich. »Aber du bedenkst nicht, mein armes Kind, daß das der Weg ist, der uns schon einmal ins Gefängnis geführt hat.«

Ich mochte ihr nun die Gefahren des Unternehmens noch so klar auseinandersetzen, sie sagte mir, es handele sich nur darum, unsere Maßnahmen geschickt zu treffen, und sie fand auf alle meine Einwürfe eine Antwort. Bringen Sie mir einen Liebhaber, der nicht blind auf alle Launen einer angebeteten Geliebten eingeht, dann will ich gestehen, daß es unrecht von mir war, so leicht nachzugeben. Der Entschluß wurde also gefaßt, de G*** M*** zum Narren zu halten, und durch eine tolle Laune des Schicksals geschah es, daß er mich zum Narren hielt.

Gegen elf Uhr sahen wir seinen Wagen ankommen. Er machte uns die liebenswürdigsten Entschuldigungen, weil er sich die Freiheit nehme, sich bei uns zum Diner einzuladen. Er war gar nicht erstaunt, Herrn de T*** anwesend zu finden, denn dieser hatte ihm den Abend vorher versprochen, ebenfalls hinzukommen, und Geschäfte vorgeschützt, um sich davon frei zu machen, denselben Wagen benützen zu müssen. Obgleich sich nun nicht einer unter uns befand, der nicht im Herzen Verrat hegte, setzten wir uns mit vertrauten und freundlichen Gesichtern zu Tisch. G*** M*** fand leicht Gelegenheit, Manon seine Gefühle zu gestehen. Ich konnte ihm kaum störend erscheinen, denn ich entfernte mich absichtlich einige Minuten.

[175] Bei meiner Rückkehr bemerkte ich, daß sie ihn nicht durch ein Übermaß von Kälte zur Verzweiflung gebracht hatte. Er befand sich in der allerbesten Laune, und ich bemühte mich, ebenso zu erscheinen. Innerlich lachte er über meine Einfalt, und ich über die seine. So gaben wir den ganzen Nachmittag hindurch einer für den anderen ein höchst ergötzliches Schauspiel ab. Vor seiner Abreise ermöglichte ich es ihm noch, sich einen Augenblick allein mit Manon zu unterhalten, so daß er mit meiner Gefälligkeit ebenso zufrieden sein durfte wie mit der guten Bewirtung.

Sobald er mit Herrn de T*** in den Wagen gestiegen war, lief mir Manon in die ausgebreiteten Arme und umarmte mich laut lachend. Sie wiederholte mir seine Erklärungen und Vorschläge, ohne ein Wort daran zu ändern. Sie liefen auf folgendes hinaus: Er wollte mit ihr die vierzigtausend Franken Rente teilen, die er, ohne das zu rechnen, was ihn nach dem Tode seines Vaters erwartete, jetzt schon genoß. Sie sollte die Herrin seines Herzens und seines Vermögens sein, und als Liebespfand wollte er ihr einen eigenen Wagen, ein wohleingerichtetes Haus, eine Kammerzofe, drei Diener und einen Koch halten.

»Der Sohn ist doch«, sagte ich zu Manon, »unendlich anständiger als sein Vater. Sage mir einmal ehrlich, reizt dich dieses Anerbieten nicht?«

[176] »Mich?« erwiderte sie und parodierte zur Erläuterung ihrer Gedanken ein paar Verse von Racine:


»Ich könnte dich so sehr betrüben?
Ich ein verhaßtes Antlitz lieben,
Das an das Arbeitshaus mich stets erinnert?«

»Nein«, erwiderte ich und setzte die Parodie fort:

»Nein, die Erinnerung kann nie verblassen,
Du müßtest diesen Menschen immer hassen.«

»Aber trotzdem,« fuhr ich dann fort, »es ist eine starke Verführung, ein eigenes Haus mit einer Kammerzofe, einem Koch, einem Wagen und drei Dienern zu besitzen. Die Liebe allein hat dagegen wenig zu bieten.«

Sie schwur mir zu, daß ihr Herz mir immer gehören, und daß sie niemals andere Geschenke als die meinen annehmen werde.

»Die Versprechungen, die er mir gemacht hat,« sagte sie zu mir, »sind für mich mehr ein Anreiz zur Rache als eine Verführung zur Liebe.«

Ich fragte sie, ob sie die Absicht hätte, das Haus und den Wagen anzunehmen. Sie antwortete mir, sie wollte nur sein Geld.

Die Schwierigkeit bestand nur darin, das eine ohne das andere zu bekommen, und wir beschlossen, zunächst die völlige Enthüllung der Pläne des G*** M*** abzuwarten, die er in einem Brief, du er ihr versprochen hatte, ihr geben wollte. Am folgenden Tag erhielt sie tatsächlich [177] diesen Brief durch einen Lakaien ohne Livree, der sich in sehr geschickter Weise die Gelegenheit verschaffte, sie ohne Zeugen sprechen zu können. Sie sagte ihm, er möchte auf ihre Antwort warten, und brachte mir dann sofort den Brief. Wir öffneten ihn gemeinsam.

Außer den gewöhnlichen Ausdrücken der Zärtlichkeit enthielt er im einzelnen die Vorschläge meines Nebenbuhlers. Er beschränkte in keiner Weise ihre Ausgaben und verpflichtete sich, ihr zehntausend Franken auszuzahlen, sobald sie das Haus übernahm. Außerdem wollte er ihr immer entsprechend Geld hinzugeben, so daß die ersterhaltene Summe sich nicht verminderte. Das Datum dieser Übergabe war nicht weit hinausgeschoben. Er verlangte nur zwei Tage zu seinen Vorbereitungen und nannte ihr den Namen der Straße und des Hauses, in dem er sie am Nachmittag des zweiten Tages erwarten wollte, falls sie sich aus meinen Händen frei machen könnte. Das war der einzige Punkt, über den er sie beschwor, ihn zu beruhigen. Alles andere schien ihm keine Sorge zu machen. Er fügte aber hinzu, wenn sie Schwierigkeiten erwarte, mir zu entkommen, dann würde er Mittel finden, ihr die Flucht leicht zu machen.

G*** M*** war schlauer als sein Vater. Er wollte erst seine Beute in den Händen haben, bevor er sein Geld bezahlte. Wir berieten nun, welche Schritte Manon tun sollte. Noch einmal bemühte ich mich, ihr das ganze [178] Unternehmen aus dem Kopf zu schlagen, und stellte ihr alle Gefahren vor. Aber nichts war imstande, ihren Entschluß zu erschüttern.

In einer kurzen Antwort versicherte sie G*** M***, daß es ihr nicht schwer sein würde, sich an dem festgesetzten Tag nach Paris zu begeben, und daß er sie bestimmt erwarten könnte.

Wir kamen nun noch überein, daß ich sofort eine andere Wohnung in einem am entgegengesetzten Ende von Paris gelegenen Dorfe mieten und unser kleines Gepäck mit mir nehmen sollte. Am folgenden Nachmittag wollte sie sich, wie verabredet, rechtzeitig nach Paris begeben und G*** M***, sobald sie seine Geschenke empfangen hatte, bitten, sie zum Theater zu führen. Alles, was sie von dem erhaltenen Geld tragen konnte, wollte sie einstecken und den Rest dem Bedienten anvertrauen, den sie mitnahm. Es war das noch immer derselbe, der sie aus dem Arbeitshaus befreit hatte, und der uns äußerst ergeben war.

Ich selbst sollte mich mit einem Wagen am Eingang der Rue Saint-André-des-Arts einfinden und ihn bis sieben Uhr dort stehen lassen, um ihn nach Eintritt der Dunkelheit langsam bis zum Eingang des Theaters vorfahren zu lassen. Manon versprach, einen Vorwand zu erfinden, um einen Augenblick die Loge zu verlassen und dann hinabzueilen, um mich zu treffen. Das übrige erschien uns [179] leicht. Wir wären in einem Augenblick in unserer Droschke gewesen und darauf über den Faubourg Saint-Antoine nach unserer neuen Wohnung gefahren.

So toll nun auch unser ganzer Plan war, so erschien er uns doch sehr gut durchdacht. Aber im Grunde war es doch eine wahnsinnige Torheit, nicht daran zu denken, daß, wenn er auch noch glücklich gelang, wir uns später niemals wieder offen vor unseren Verfolgern zeigen konnten. Aber wir setzten uns dem allen mit dem tollkühnsten Selbstvertrauen aus. Manon reiste also mit Marcel, denn so hieß unser Diener, ab. Ich sah sie mit Schmerz fortgehen.

»Manon,« sagte ich zu ihr, indem ich sie küßte, »täuschst du mich auch nicht? Wirst du mir treu bleiben?«

Sie beklagte sich liebevoll wegen meines Mißtrauens und wiederholte noch einmal alle ihre Schwüre.

Sie rechnete darauf, gegen drei in Paris anzukommen. Ich fuhr erst nach ihr ab und verbrachte in höchster Unruhe den Rest des Nachmittags im Café de Feré am Pont Saint-Michel. Ich blieb dort bis zur Dunkelheit und ging dann aus, um einen Wagen zu nehmen, den ich nach unserer Abmachung am Eingang zur Rue Saint-André-des-Arts halten ließ. Darauf ging ich selbst zu Fuß zum Eingang des Theaters.

Ich wunderte mich, hier Marcel nicht zu finden, der mich doch erwarten sollte. Trotzdem verharrte ich inmitten [180] von Lakaien geduldig eine Stunde und beobachtete alle Vorübergehenden. Als es schließlich sieben schlug, ohne daß ich etwas bemerkt hatte, was zu unseren Plänen stimmte, nahm ich ein Parterrebillett, um zu sehen, ob Manon und G*** M*** irgendwo in den Logen säßen. Sie waren aber beide nicht da. Ich kehrte wieder zum Eingang zurück, wo ich noch eine Viertelstunde, fast wahnsinnig vor Ungeduld und Unruhe, wartete. Als niemand erschien, ging ich wieder zu meinem Wagen, ohne daß ich mich zu irgendeinem Entschluß aufraffen konnte.

Der Kutscher, der mich bemerkt hatte, kam mir einige Schritte entgegen, um mir in geheimnisvollem Ton zu sagen, daß eine hübsche Dame mich seit einer Stunde in dem Wagen erwarte. An ihrem ganzen Wesen habe er gleich erkannt, daß sie nach mir suchte, und sie habe auch, als sie erfuhr, daß ich zurückkäme, gesagt, sie wollte geduldig auf mich warten.

Ich bildete mir sofort ein, es sei Manon, und näherte mich ihr. Doch ich sah ein hübsches junges Gesicht, das aber nicht das ihrige war. Die Fremde fragte mich zunächst, ob sie nicht die Ehre hätte, mit dem Herrn Chevalier des Grieux zu sprechen. Ich antwortete ihr, das wäre mein Name.

»Ich habe hier einen Brief für Sie,« fuhr sie fort, »der Ihnen den Grund meines Hierherkommens und die Ursache, warum ich Ihren Namen kenne, mitteilt.«

[181] Ich bat sie, mir die Zeit zu lassen, ihn in einem benachbarten Restaurant zu lesen. Sie folgte mir und riet mir, ein reserviertes Zimmer zu nehmen.

»Von wem kommt der Brief?« fragte ich sie beim Hinaufsteigen. Sie bat mich, ihn zu lesen.

Ich erkannte die Handschrift Manons, der Inhalt war etwa der folgende: G*** M*** hatte sie mit einer Höflichkeit und Freigebigkeit empfangen, die alle ihre Erwartungen überstiegen. Er hatte sie mit Geschenken überhäuft und ihr das Leben einer Königin in Aussicht gestellt. Trotzdem versicherte sie mir, sie würde mich nicht in diesem neuen Glanze vergessen, da sie aber G*** M*** nicht habe überreden können, sie heute abend zum Theater zu führen, so verschöbe sie das Vergnügen, mich zu sehen, auf einen anderen Tag. Um mich aber etwas über den Schmerz zu trösten, den, wie sie voraussähe, diese Nachricht mir bereiten müßte, hätte sie ein Mittel gefunden, mir eins der schönsten Mädchen von Paris zu verschaffen, es sei die Überbringerin des Briefes. Unterzeichnet war der Brief: »Deine getreue Geliebte, Manon Lescaut.«

Es lag etwas so Grausames und so für mich Beleidigendes in dem Schreiben, daß ich, eine ganze Zeit zwischen Zorn und Schmerz schwankend, mir vornahm, für ewig meine undankbare und eidbrüchige Geliebte zu vergessen. Ich warf einen Blick auf das Mädchen, das vor mir saß. [182] Sie war außerordentlich hübsch, und ich hätte gewünscht, sie wäre hübsch genug gewesen, um auch mich eidbrüchig und ungetreu zu machen. Aber ich fand bei ihr nicht die zarten und schmachtenden Augen, den göttlichen Wuchs, die von Amor selbst geschaffene rosige Haut, endlich die ganze unerschöpfliche Fülle von Reizen, die die Natur an die treulose Manon verschwendet hatte.

»Nein, nein«, rief ich aus, indem ich aufhörte, sie zu betrachten. »Die Ungetreue, die Sie herschickte, wußte recht gut, daß sie Sie einen unnützen Weg machen ließ. Kehren Sie zu ihr zurück, und sagen Sie ihr, sie möge ihr Verbrechen genießen, und wenn es ihr möglich sei, dann möge sie es ohne Gewissensbisse tun. Ich verlasse sie für immer, und ich entsage zu gleicher Zeit allen Frauen, die nicht so liebenswürdig sein würden, wie sie es war, wohl aber zweifellos ebenso niederträchtig und ebenso treulos.«

Ich war darauf im Begriff, hinabzusteigen und meiner Wege zu gehen, ohne noch weiter einen Anspruch auf Manon zu erheben. Und da die tödliche Eifersucht, die mir das Herz zerfleischte, sich in eine traurige und düstere Ruhe auflöste, so glaubte ich um so mehr meiner Heilung nahe zu sein, als ich nichts von jener heftigen Erregung spürte, die ich sonst bei gleichen Gelegenheiten gespürt hatte. Ach, ich war ebenso ein Narr der Liebe, wie ich ein Narr des G*** M*** und der Manon zu sein glaubte!

[183] Als das Mädchen, das mir den Brief gebracht hatte, sah, daß ich die Treppe hinabsteigen wollte, fragte sie mich, was sie denn nun dem Herrn de G*** M*** und der Dame, die bei ihm war, ausrichten sollte. Auf diese Frage ging ich noch einmal in das Zimmer zurück, und infolge einer Veränderung, die jedem, der nicht ähnliche Leidenschaften empfunden hat, unglaublich vorkommen wird, fühlte ich mich plötzlich aus der Ruhe, in der ich mich zu befinden glaubte, in einen schrecklichen Wahnsinn von Wut versetzt.

»Geh,« sagte ich zu ihr, »schildere dem Verräter G*** M*** und seiner treulosen Geliebten die Verzweiflung, in die mich der verfluchte Brief versetzt hat. Aber teile ihnen auch mit, daß sie nicht lange lachen werden, und daß ich sie alle beide mit eigener Hand erdolchen will.«

Ich ließ mich auf einen Stuhl sinken, mein Hut fiel nach einer Seite, mein Stock nach der anderen. Zwei Ströme von bitteren Tränen begannen aus meinen Augen zu fließen. Der Wutausbruch, der mich überfallen hatte, ging in einen tiefen Schmerz über. Ich weinte immerfort, wobei ich schluchzte und seufzte.

»Komm zu mir, mein Kind, komm zu mir!« schrie ich, indem ich mich an das junge Mädchen wandte. »Komm zu mir, denn dich hat sie ja geschickt, mich zu trösten. Sage mir, ob du einen Trost weißt gegen die Wut und die Verzweiflung, gegen das Verlangen, sich [184] selbst den Tod zu geben, nachdem man die bei den Treulosen getötet hat, die nicht verdienen, zu leben. Ja, komm zu mir«, fuhr ich fort, als ich sah, daß sie einige ängstliche und unsichere Schritte auf mich zu machte. »Komm und trockne meine Tränen. Komm, um mir den Frieden zu bringen, um mir zu sagen, daß du mich liebst, auf daß ich mich gewöhne, zu jemand anderem zu gehen als meiner Ungetreuen. Du bist hübsch, vielleicht könnte ich jetzt dich lieben.«

Das arme Kind, das keine sechzehn oder siebzehn Jahre alt war und schamhafter zu sein schien, als es sonst Mädchen ihrer Art sind, war außerordentlich erstaunt über ein so seltsames Schauspiel. Trotzdem näherte sie sich mir, um mir einige Liebkosungen zu erweisen. Aber ich wich ihnen aus und stieß das Mädchen mit den Händen zurück.

»Was willst du von mir?« sagte ich zu ihr. »Ach, du bist ein Weib, du gehörst zu einem Geschlecht, das ich verachte und das ich nicht mehr ertragen kann. Dein süßes Gesicht bedroht mich nur mit baldigem Verrat. Geh fort und laß mich hier allein.«

Sie machte mir eine Verneigung, ohne es zu wagen, ein Wort zu sprechen, und wandte sich dann zur Tür. Aber ich rief ihr zu, noch zu bleiben.

»Wenigstens mußt du mir noch mitteilen,« sagte ich, »warum, wie und zu welchem Zweck man dich hierhergeschickt [185] hat. Wie hast du meinen Namen und den Ort, wo du mich finden konntest, erfahren?«

Sie erzählte mir, daß sie Herrn de G*** M*** schon seit langem kenne. Um fünf Uhr habe er nach ihr geschickt, und sie sei dem Lakaien, der mit der Nachricht kam, in ein großes Haus gefolgt, wo sie ihn fand, wie er mit einer hübschen Dame Pikett spielte. Alle beide hätten sie dann beauftragt, mir den Brief zu geben, den sie mir auch brachte, und sie hätten ihr gesagt, daß sie mich in einem Wagen am Ende der Rue Saint-André finden würde.

Ich fragte sie, ob sie ihr sonst nichts gesagt hätten. Sie antwortete errötend, sie hätten ihr Hoffnung gemacht, daß ich sie zur Gesellschaft behalten würde.

»Man hat dich getäuscht, du armes Mädchen«, sagte ich zu ihr. »Man hat dich getäuscht. Du bist eine Frau und brauchst einen Mann. Aber du brauchst einen, der reich und glücklich ist, und den kannst du hier nicht finden. Kehre zu Herrn de G*** M*** zurück. Er hat alles, was man haben muß, um von schönen Frauen geliebt zu werden. Er kann elegant eingerichtete Häuser und Equipagen verschenken. Mich, der ich nur meine Liebe und Treue anbieten kann, verachten die Frauen wegen meiner Armut, und sie machen sich über mich lustig, weil ich ihnen vertraue.«

Ich sagte noch tausend Dinge, bald traurige, bald[186] wütende, je nachdem die Erregungen, die mich immer wieder befielen, schwächer oder stärker wurden. In dessen ließen meine Wutausbrüche, nachdem sie mich genug gequält hatten, allmählich doch so viel nach, daß sie einer gewissen Überlegung Platz machten. Ich verglich dieses neue Unglück mit den ähnlich gearteten, die ich schon durchgemacht hatte, und ich fand, daß ich keinen größeren Grund zur Verzweiflung hätte als früher auch. Ich kannte Manon; warum sollte ich mich so durch ein Unglück niederdrücken lassen, das ich hätte voraussehen müssen? Warum sollte ich nicht lieber nach einem Mittel zur Abhilfe suchen? Noch war es Zeit, und ich durfte keinesfalls irgendeine Mühe sparen, wenn ich mir nicht später vorwerfen wollte, durch meine Gleichgültigkeit selbst zu meinen Schmerzen beigetragen zu haben. Ich begann nun darüber nachzudenken, ob nicht irgendein Mittel mir einen Ausweg zur Hoffnung bieten könnte.

Es wäre ein verzweifelter Entschluß gewesen, wenn ich versuchen wollte, sie mit Gewalt den Händen des G*** M*** zu entreißen. Ich hätte mich dabei nur selbst in Gefahr gebracht und auch nicht die geringste Aussicht auf Erfolg gehabt. Aber es schien mir, wenn ich nur die kürzeste Aussprache mit ihr erreichen könnte, dann würde ich sicherlich einen starken Eindruck auf ihr Herz machen. Ich kannte ja so gut alle empfindlichen Stellen darin! [187] Ich war so sicher, daß sie mich dennoch liebte! Selbst der seltsame Einfall, mir zum Trost ein hübsches Mädchen zu schicken, war gewiß nur von ihrer Seite gekommen und eine Folge ihres Mitleids mit meinem Kummer.

Ich beschloß deshalb, alle List anzuwenden, um sie zu sehen. Unter den vielen Wegen dahin, die ich einen nach dem anderen erwog, blieb ich schließlich bei folgendem stehen. Herr de T*** hatte begonnen, mir mit solcher Zuneigung zu Diensten zu sein, daß ich nicht im geringsten an seiner Aufrichtigkeit und Freundschaft zweifeln konnte. Ich nahm mir daher vor, sofort zu ihm zu gehen und ihn zu veranlassen, G*** M*** unter dem Vorwand einer wichtigen Angelegenheit rufen zu lassen. Ich brauchte nur eine halbe Stunde, um mit Manon zu sprechen. Meine Absicht war, mich in Manons Zimmer führen zu lassen, und ich glaubte, daß mir das in der Abwesenheit des G*** M*** nicht schwerfallen würde.

Da dieser Entschluß mich sehr beruhigte, bezahlte ich das junge Mädchen, das noch immer bei mir war, sehr freigebig, und um ihr den Gedanken auszutreiben, zu denen zurückzukehren, die sie geschickt hatten, bat ich sie um ihre Adresse und machte ihr Hoffnung, ich würde die Nacht bei ihr verbringen. Ich stieg in meinen Wagen und ließ mich in schnellster Fahrt zu Herrn de T*** bringen. Ich war sehr froh, ihn zu Hause anzutreffen, denn ich hatte mir darüber unterwegs ziemliche Unruhe gemacht. [188] Mit einigen Worten unterrichtete ich ihn über mein Unglück und über den Dienst, den ich von ihm erwartete.

Er war sehr erstaunt, als er erfuhr, daß G*** M*** Manon hatte verführen können. Und da er nichts davon wußte, wie sehr ich selbst an meinem Unglück schuld war, bot er mir in edelmütiger Weise an, alle seine Freunde herbeizurufen, damit sie mit ihren Armen und ihren Degen mir hülfen, meine Geliebte zu befreien. Ich machte ihm begreiflich, daß ein solcher Überfall für Manon und mich verderblich sein könnte.

»Versparen wir unser Blut«, sagte ich zu ihm, »für den äußersten Fall. Ich habe einen stilleren Weg erwogen, von dem ich nicht geringeren Erfolg erwarte.«

Er verpflichtete sich rückhaltlos, alles zu tun, was ich von ihm verlangte, und als ich ihm gesagt hatte, daß es sich nur darum handele, G*** M*** zu benachrichtigen, daß er mit ihm zu sprechen habe, und ihn dann eine oder zwei Stunden festzuhalten, brach er sofort mit mir auf, um meinem Wunsch zu willfahren.

Wir suchten nun nach einem Mittel, das dazu dienen konnte, ihn solange zu beschäftigen. Ich riet ihm, zunächst aus einer Wirtschaft einen kurzen Brief zu schreiben und ihn darin zu bitten, in einer Angelegenheit, die dringend sei, daß sie keinen Aufschub vertrüge, sofort dorthin zu kommen.

»Ich werde dann«, fügte ich hinzu, »den Augen blick [189] seines Fortgehens beobachten und ohne Mühe in das Haus hineinkommen, da mich dort niemand kennt außer Manon und Marcel, der mein Diener ist. Was Sie nun angeht, der Sie inzwischen mit G*** M*** zusammen sind, so können Sie ihm sagen, daß die wichtige Sache, wegen der Sie ihn sprechen wollten, eine Geldangelegenheit ist. Sie hätten das Ihrige im Spiel verloren und dann hoch auf Ehrenwort gespielt mit demselben unglücklichen Ergebnis. Er wird Zeit gebrauchen, um Sie zu seinem Geldschrank zu führen, und ich kann inzwischen in Ruhe meine Absicht ausführen.«

Herr de T*** befolgte diesen Plan genau. Ich ließ ihn in einer Wirtschaft, wo er sofort seinen Brief schrieb, während ich mich inzwischen einige Schritte von Manons Hause aufstellte. Ich sah den Boten mit dem Brief ankommen und G*** M*** einen Augenblick später, gefolgt von einem Lakaien, zu Fuß das Haus verlassen. Ich wartete noch, bis er sich aus der Straße entfernt hatte, worauf ich mich der Türe meiner Ungetreuen näherte und trotz meines großen Zorns mit einer Ehrfurcht anklopfte, als sei es die Tür zu einem Heiligtum.

Zum Glück war es Marcel, der mir öffnete, und ich machte ihm ein Zeichen, daß er schweigen sollte. Obgleich ich nun nichts von den anderen Dienern zu fürchten hatte, fragte ich ihn ganz leise, ob er mich, ohne daß es jemand bemerkte, in das Zimmer führen könnte, in dem sich [190] Manon befand. Er antwortete mir, daß das leicht sei, wenn ich vorsichtig die Haupttreppe hinaufginge.

»Also gehen wir sofort«, sagte ich zu ihm. »Und sorge dafür, daß, während ich da bin, niemand sonst hinaufgeht.«

Ich gelangte auch ohne Hindernis bis zu Manons Zimmer.

Sie war damit beschäftigt, in einem Buch zu lesen, und ich hatte jetzt wieder einmal Gelegenheit, den Charakter dieses merkwürdigen Mädchens zu bewundern. Weit davon entfernt, bei meinem Anblick erschreckt oder furchtsam zu erscheinen, zeigte sie nur jenes leichte Erstaunen, das uns unwillkürlich beim Erscheinen eines Menschen überkommt, den wir weit entfernt glauben.

»Ach, das bist du, mein Herz«, sagte sie und kam auf mich zu, um mich mit gewohnter Zärtlichkeit zu umarmen. »Du lieber Himmel, wie kühn du bist! Wer hätte dich heute gerade hier erwartet?«

Ich befreite mich aus ihren Armen, und anstatt ihre Liebkosungen zu erwidern, stieß ich sie verächtlich von mir und trat zwei oder drei Schritte zurück, um sie mir vom Leibe zu halten. Mein Verhalten verfehlte natürlich nicht, sie aus der Fassung zu bringen. Sie blieb bewegungslos stehen und schaute mich an, wobei sie die Farbe wechselte.

Ich war im Grunde so entzückt, sie wiederzusehen,[191] daß ich bei allem Grund, sehr zornig zu sein, nur mit Mühe den Mund öffnen konnte, um ihr Vorwürfe zu machen. Aber mein Herz blutete von der grausamen Wunde, die sie mir zugefügt hatte, und ich stellte mir das recht lebhaft vor, um meine Wut anzustacheln. Dabei versuchte ich, in meinen Augen eine andere Glut funkeln zu lassen als die der Liebe. Da ich eine Zeitlang schweigend so verharrte, und sie meine Erregung bemerkte, begann sie, offenbar vor Furcht, zu zittern.

Diesen Anblick konnte ich nicht ertragen.

»Ach, Manon,« sagte ich zu ihr in zärtlichem Ton, »du ungetreue und eidbrüchige Manon! Womit soll ich meine Klagen beginnen? Ich sehe dich bleich und zitternd, und bin noch immer so empfindlich gegen deine geringsten Schmerzen, daß ich fürchte, dich mit meinen Vorwürfen zu sehr zu betrüben. Aber, du kannst mir glauben, Manon, der Schmerz über deinen Verrat hat mein Herz durchbohrt, solche Schläge fügt man nur einem Liebhaber zu, wenn man seinen Tod beschlossen hat. Es geschieht nun zum drittenmal, Manon. Ich habe es wohl gezählt, und man kann es unmöglich vergessen. Du mußt nun in dieser Stunde noch dir klar werden, welchen Entschluß du fassen willst, denn mein betrübtes Herz hält die Prüfungen einer so grausamen Behandlung nicht mehr aus. Ich fühle, wie es sich zusammenzieht und nahe daran ist, vor Schmerz zu brechen. Ich ertrage [192] es nicht mehr«, fügte ich hinzu, indem ich mich auf einen Stuhl setzte. »Ich habe kaum noch die Kraft, zu sprechen und mich aufrecht zu erhalten.«

Sie gab mir keine Antwort, aber, als ich mich hingesetzt hatte, ließ sie sich auf die Knie fallen und neigte ihren Kopf über den meinigen, indem sie ihr Gesicht in meinen Händen verbarg. Ich fühlte sofort, wie sie sie mit ihren Tränen benetzte. Mein Gott, welche Empfindungen durchströmten mein Herz!

»Ach, Manon, Manon,« fuhr ich seufzend fort, »deine Tränen kommen sehr spät, nachdem du mir vorher den Tod gegeben hast. Du heuchelst eine Traurigkeit, die du ja unmöglich fühlen kannst. Der größte deiner Schmerzen ist ja sicherlich meine Gegenwart, die dir immer für deine Vergnügungen lästig war. Öffne die Augen, sieh, wer ich bin. Man vergießt nicht so zarte Tränen eines Unglücklichen willen, den man verraten hat, und den man auf so grausame Weise im Stiche läßt.«

Sie küßte meine Hände, ohne ihre Stellung zu verändern.

»Unbeständige Manon,« fuhr ich weiter fort, »undankbares und treuloses Mädchen! Wo sind deine Versprechungen und Schwüre? Du unendlich flatterhafte und grausame Geliebte, was hast du dieser Liebe angetan, die du mir heute noch geschworen hast? Gerechter Himmel!« [193] fügte ich hinzu, »darf eine Ungetreue so über dich lachen, nachdem sie dich so feierlich zum Zeugen angerufen hat? Wird denn der Eidbruch noch belohnt? Bleiben die Verzweiflung und die Verlassenheit für den, der anhänglich und treu gewesen ist?«

Diese Worte waren von so bitteren Gefühlen begleitet, daß ich unwillkürlich einige Tränen vergoß. Manon bemerkte das am veränderten Ton meiner Stimme, und sie brach endlich ihr Schweigen.

»Ich muß wohl sehr schuldig sein,« sagte sie traurig zu mir, »weil ich dir so viel Schmerz und Aufregung verursacht habe. Aber der Himmel möge mich bestrafen, wenn ich davon etwas gewußt habe oder überhaupt nur an diese Möglichkeit dachte.«

Diese Bemerkung schien mir in einem solchen Maße sinnlos und unehrlich zu sein, daß ich mich nicht gegen einen heftigen Zornesausbruch wehren konnte.

»Abscheuliche Verstellung!« schrie ich. »Ich sehe mehr als je, daß du nichts als eine verworfene und ruchlose Verräterin bist. Ich kenne jetzt deinen gemeinen Charakter. Lebe wohl, feiges Geschöpf«, fuhr ich fort, indem ich mich erhob. »Lieber will ich tausend Tode sterben, als mit dir in Zukunft noch einmal das geringste zu tun haben. Der Himmel möge mich selber strafen, wenn ich dich jemals wieder auch nur eines Blickes würdige! Bleibe bei deinem neuen Geliebten, liebe ihn, verachte mich, entsage [194] jedem Ehrgefühl und Anstand. Ich lache darüber, es ist mir völlig gleichgültig.«

Mein Zornesausbruch hatte sie in einen solchen Schrecken versetzt, daß sie noch immer neben dem Stuhl, von dem ich mich erhoben hatte, auf den Knien lag und mich zitternd ansah, ohne daß sie auch nur zu atmen wagte. Ich machte noch einige Schritte nach der Tür hin, wobei ich mein Gesicht zurückwandte und meine Augen starr auf sie gerichtet hielt. Aber ich hätte kein menschliches Gefühl mehr haben müssen, um solchen Reizen gegenüber kalt zu bleiben.

Ich war so weit davon entfernt, eine solche barbarische Kraft zu besitzen, daß ich plötzlich in das ganz entgegengesetzte Gefühl umschlug. Ich wandte mich wieder zu ihr hin, oder vielmehr ich stürzte besinnungslos auf sie zu. Ich nahm sie in meine Arme und gab ihr tausend zärtliche Küsse. Ich bat sie um Verzeihung wegen meiner Heftigkeit, ich klagte mich an, ich sei ein roher Mensch und verdiene nicht, von einem Mädchen wie sie geliebt zu werden.

Ich ließ sie sich hinsetzen, und indem ich jetzt nun selbst vor ihr niederkniete, beschwor ich sie, mich in dieser Stellung anzuhören. Und alles, was ein unterwürfiger und leidenschaftlicher Liebhaber sich nur an Worten der Verehrung und Zärtlichkeit ausdenken konnte, das legte ich jetzt in meine Entschuldigungen hinein. Ich erbat es mir [195] von ihr als eine Gnade, daß sie mir selbst ihre Verzeihung aussprechen sollte. Sie ließ ihre Arme auf meinen Hals sinken und sagte, sie selbst sei meiner Güte bedürftig, um mich all den Kummer, den sie mir bereitet hätte, vergessen zu lassen. Auch fange sie mit gutem Grund an zu fürchten, daß das, was sie zu ihrer Rechtfertigung zu sagen habe, von mir nicht gebilligt würde.

»Ich sollte das nicht billigen!« unterbrach ich sie schnell. »Ach, ich verlange von dir keine Rechtfertigung, ich billige alles, was du getan hast. Nicht ich habe nach den Gründen deines Handelns zu fragen. Ich bin ja schon zufrieden und glücklich, wenn meine teure Manon mir nicht die Liebe ihres Herzens versagt! Aber«, fuhr ich fort, ohne noch weiter an die Lage meines Schicksals zu denken, »allmächtige Manon, du, die mir nach Laune Lust und Leid zufügt, nachdem du nun genugsam meine Unterwürfigkeit und die Zeichen meiner Reue genossen hast, dürfte ich dir jetzt nicht von meiner Traurigkeit und von meinen Schmerzen reden? Werde ich erfahren, was heute aus mir werden soll, und ob du unwiderruflich mein Todesurteil unterzeichnest, indem du diese Nacht mit meinem Nebenbuhler verbringst?«

Sie nahm sich einige Zeit, um ihre Antwort zu überlegen.

»Mein Chevalier,« sagte sie, indem sie wieder ein ruhiges Gesicht annahm, »hättest du dich gleich so ruhig [196] ausgedrückt, so hättest du dir viel Kummer und mir eine schmerzliche Szene erspart. Da deine Schmerzen nur aus deiner Eifersucht kommen, so hätte ich sie mit meinem Anerbieten, dir sofort bis ans Ende der Welt zu folgen, leicht geheilt. Aber ich glaubte, der Brief, den ich dir unter den Augen des Herrn G*** M*** geschrieben, und das Mädchen, das wir dir zugeschickt, hätten deinen Kummer verursacht. Ich nahm an, du hieltest meinen Brief für eine Verspottung, und du sähest in der Absendung des Mädchens eine Erklärung, daß ich dich verließe, um mich mit G*** M*** zu verbinden. Dieser Gedanke hat mich dann ganz verwirrt gemacht, denn so unschuldig ich war, so mußte ich doch, wenn ich darüber nachdachte, zugeben, daß der Schein gegen mich sprach. Aber du sollst nun selbst mein Richter sein, nachdem ich dir den wahren Zusammenhang der Dinge auseinandergesetzt habe.«

Sie erzählte mir nun alles, was ihr geschehen war, seit sie G*** M*** getroffen hatte, der sie an dem Ort, wo wir uns jetzt befinden, erwartete. Er empfing sie wirklich wie die erste Prinzessin der Welt und zeigte ihr alle Zimmer, die von einer wunderbaren Vornehmheit und Sauberkeit waren. Er gab ihr in ihrem Kabinett zehntausend Franken und fügte einige Schmuckstücke hinzu, unter denen sich auch der Halsschmuck und die Armbänder befanden, die sie schon einmal von seinem Vater erhalten hatte.

Darauf führte er sie in einen Salon, den sie noch nicht [197] gesehen hatte, und wo ein ausgesuchter Imbiß auf sie wartete. Er ließ sie durch neue Lakaien bedienen, die er eigens für sie angeworben hatte mit dem Befehl, sie in Zukunft ganz als ihre Herrin zu betrachten. Schließlich zeigte er ihr den Wagen, die Pferde und seine übrigen Geschenke, worauf er ihr vorschlug, die Zeit bis zum Souper mit einer Partie Karten zu verbringen.

»Ich gestehe dir,« fuhr sie fort, »daß ich von dieser Freigebigkeit doch ergriffen wurde. Ich überlegte, daß es schade sein würde, uns auf einmal aller dieser Reichtümer zu berauben und damit zufrieden zu sein, die zehntausend Franken und den Schmuck mitzunehmen. Hier lag ja ein ganzes Vermögen für mich und für dich bereit, und wir konnten auf kosten des G*** M*** davon recht angenehm leben.

Anstatt ihm also den Theaterbesuch vorzuschlagen, setzte ich es mir in den Kopf, ihn über dich auszuforschen, um zu wissen, ob wir es bei der Durchführung meiner Absicht leicht hätten, uns zu sehen. Ich fand, daß er einen sehr lenksamen Charakter hatte. Er fragte mich, was ich von dir halte, und ob ich nicht ein wenig Bedauern empfände, dich zu verlassen. Ich antwortete ihm, du wärest so liebenswürdig und hättest dich immer so anständig gegen mich benommen, daß es nicht natürlich wäre, wenn ich dich haßte. Er gestand, daß du sicherlich Vorzüge besäßest, und daß er selbst den Wunsch empfunden hätte, deine Freundschaft zu erwerben.

[198] Er wollte dann wissen, wie du wohl meine Flucht aufnehmen würdest, besonders, wenn du erst wüßtest, daß ich in seinen Händen sei. Ich antwortete ihm, unsere Liebe wäre schon so alten Datums, daß sie Zeit gehabt hätte, sich etwas abzukühlen. Im übrigen befändest du dich in ziemlich schlechten Vermögensverhältnissen und sähest deshalb vielleicht meine Flucht gar nicht als ein so großes Unglück an, da sie dich von einer ziemlich drückenden Last befreie. Ich fügte noch hinzu, ich sei überzeugt, daß du dich friedlich verhalten würdest. Ich hätte auch keine Schwierigkeiten gehabt, als ich dir sagte, ich ginge wegen einiger Besorgungen nach Paris. Du hättest dem zugestimmt und mich selbst begleitet, und du wärest, als ich dich verließ, durchaus nicht unruhig gewesen.

›Wenn ich glaubte,‹ sagte er zu mir, ›daß er geneigt wäre, mit mir in gutem Einvernehmen zu leben, so würde ich der erste sein, ihm meine Dienste und Gefälligkeiten anzubieten.‹

Ich versicherte ihm, daß, soweit ich deinen Charakter kännte, du zweifellos in höflicher Weise darauf eingehen würdest, besonders wenn er dir in deinen Vermögensverhältnissen helfen könnte, die seit deinem Bruch mit deiner Familie sehr ungeordnet seien. Er unterbrach mich mit der Versicherung, daß er dir, soweit es an ihm liege, alle Dienste erweisen würde, und wenn du Lust zu einem anderen Liebesverhältnis hättest, so würde er dir ein [199] hübsches Mädchen verschaffen, das er verlassen habe, um sich mit mir zu verbinden.

Ich billigte seine Idee,« fügte sie hinzu, »um in jeder Weise seinem Mißtrauen zuvorzukommen, und da ich mich immer stärker in meinen Plan verstrickte, so wünschte ich mir nur, ein Mittel zu finden, dich aufzuklären, denn ich fürchtete, du möchtest dich zu sehr beunruhigen, wenn ich an unserer Verabredung nicht festhielte. Nur in dieser Absicht habe ich ihm vorgeschlagen, dir diese neue Geliebte noch am gleichen Abend zuzuschicken, denn so fand ich eine Gelegenheit, dir zu schreiben. Ich mußte mich dieser List bedienen, denn ich sah keine Hoffnung, daß er mich auch nur einen Augenblick allein lassen würde.

Er lachte über meinen Vorschlag und rief seinen Lakaien, den er fragte, ob er wohl sofort seine frühere Geliebte auffinden könnte. Dann schickte er ihn los, sie zu suchen. Er glaubte, er müßte dich nachher in Chaillot aufsuchen lassen, aber ich erzählte ihm, wir hätten uns, als wir uns trennten, verabredet, uns am Theater zu treffen, wo du mich, falls ich irgendwie verhindert sein sollte, hinzugehen, in einem Wagen am Ende der Rue Saint-André erwarten wolltest. Daher sei es besser, dir dorthin die neue Geliebte zu senden, damit du nicht gezwungen seist, die ganze Nacht durch zu warten. Ich habe ihm dann noch gesagt, ich hielte es für angebracht, dir in einem Briefe[200] diese Veränderung zu erklären, die du sonst wohl kaum begreifen würdest.

Auf diese Art,« fügte Manon hinzu, »ist alles so gekommen. Ich verhehle dir nichts, weder über meine Taten noch über meine Absichten. Das junge Mädchen kam, und ich fand sie hübsch. Und, da ich nicht daran zweifelte, daß mein Ausbleiben dir Schmerz verursachen würde, so hoffte ich aufrichtig, sie möchte dir einige Augenblicke Zerstreuung geben. Denn die Treue, die ich von dir wünsche, ist die des Herzens. Ich wäre entzückt gewesen, wenn ich dir Marcel hätte schicken können, aber ich fand auch nicht eine Minute, um ihm das klarzulegen, was ich dir gern mitgeteilt hätte.«

Sie schloß ihren Bericht damit, daß sie mir erzählte, in welche Verlegenheit G*** M*** durch den Brief des Herrn de T*** versetzt wurde.

»Er hat geschwankt,« sagte sie zu mir, »ob er mich verlassen dürfte, und mir versichert, daß er bald wieder zurück sein würde. Das ist auch der Grund, weshalb ich dich hier nicht ohne Unruhe sehe, und warum ich so erstaunt über deine Ankunft war.«

Ich hörte diesen Bericht mit großer Geduld an, obgleich er für mich manches Quälende und Demütigende enthielt, denn ihre Absicht, mir untreu zu sein, war so klar, daß sie sich nicht einmal die Mühe gab, sie zu verbergen. Sie konnte nicht hoffen, daß G*** M*** sie die ganze [201] Nacht wie eine Vestalin behandeln würde. Sie rechnete also damit, diese Nacht mit ihm zu verbringen. Welch ein Geständnis für einen Liebhaber!

Trotzdem schrieb ich mir auch einen Teil der Schuld zu, denn ich hatte ihr selbst von den Gefühlen des G*** M*** gegen sie Mitteilung gemacht und war dann blindlings auf ihren verwegenen und abenteuerlichen Plan eingegangen. Im übrigen rührte mich infolge meiner eigenartigen Veranlagung die Aufrichtigkeit ihres Berichts und die treuherzige, offene Art, mit der sie mir selbst die für mich am meisten kränkenden Einzelheiten erzählte.

»Sie sündigt ohne böse Absicht,« sagte ich zu mir. »Sie ist leichtsinnig und unklug, aber sie ist auch offen und ehrlich.«

Dazu kam, daß schon meine Liebe allein genügte, um mir über alle ihre Fehler die Augen zu verschließen. Ich war zu sehr befriedigt durch die Hoffnung, sie noch an diesem Abend meinem Nebenbuhler wieder abzunehmen.

Trotzdem sagte ich zu ihr: »Und die Nacht, mit wem hättest du sie verbracht?«

Diese Frage, die ich in traurigem Ton an sie richtete, brachte sie in Verwirrung. Sie antwortete mir nur mit abgebrochenen Sätzen. Schließlich empfand ich Mitleid mit ihrem Schmerz, und, indem ich diesen Gegenstand fallen ließ, erklärte ich ihr kurz, ich erwartete, daß sie mir unverzüglich folgen würde.

[202] »Ich bin schon damit einverstanden«, sagte sie zu mir. »Aber billigst du denn nicht meinen Plan?«

»Ach,« erwiderte ich, »ist es denn noch nicht genug, daß ich alles billige, was du bis jetzt getan hast?«

»Wie? Und die zehntausend Franken sollen wir auch nicht mitnehmen?« fragte sie. »Er hat sie mir doch gegeben, sie gehören mir.«

Ich riet ihr, alles im Stich zu lassen und an nichts zu denken als an unsere schleunige Flucht, denn obgleich ich jetzt kaum eine halbe Stunde mit ihr zusammen war, so fürchtete ich doch die Rückkehr des G*** M***. Sie bat mich aber so dringend, sie doch nicht mit leeren Händen hinausgehen zu lassen, daß ich glaubte, ihr auch etwas bewilligen zu müssen, nachdem ich schon so viel von ihr erlangt hatte.

Gerade während wir beide dabei waren, uns zur Flucht fertigzumachen, hörte ich, wie an der Straßentüre geklopft wurde. Ich zweifelte durchaus nicht daran, daß es G*** M*** sei, und in dem Ärger, der mich bei dem Gedanken überkam, sagte ich zu Manon, er würde ein toter Mann sein, wenn er sich sehen ließ. Ich befand mich auch tatsächlich noch immer in einer so aufgeregten Stimmung, daß ich mich bei seinem Anblick nicht hätte mäßigen können. Marcel machte meiner Unruhe ein Ende, indem er mir einen Brief überreichte, den er an der Tür für mich empfangen hatte. Er kam von Herrn de T***.

[203] Herr de T*** schrieb mir in dem Brief, er wolle, da G*** M*** fortgegangen sei, um in seinem Hause das Geld für mich zu holen, seine Abwesenheit benutzen, um mir einen recht hübschen Gedanken mitzuteilen. Es schiene ihm nämlich, daß ich mich nicht schöner an meinem Nebenbuhler rächen könnte, als indem ich sein Souper verzehrte und diese selbe Nacht in dem Bette verbrächte, in dem er mit meiner Geliebten zu schlafen gedacht hatte. Dieser Plan erschiene ihm leicht ausführbar. Ich brauchte mir nur drei oder vier Mann zu nehmen, die den Mut hätten, ihn auf der Straße festzunehmen, und zuverlässig genug wären, ihn bis zum kommenden Morgen festzuhalten. Was ihn, Herrn de T***, anginge, so verspräche er, ihn noch eine Stunde mit allerlei Gründe, die er schon für seine Rückkehr vorbereitet habe, festzuhalten.

Ich zeigte den Brief Manon und erzählte ihr, welche List ich angewendet hätte, um freien Zutritt zu ihr zu bekommen. Mein Einfall und auch der des Herrn de T*** erschienen ihr wundervoll. Wir lachten eine Weile vergnügt darüber, als ich aber über den Vorschlag des de T*** wie über einen Scherz sprach, war ich erstaunt, mit welchem Ernst sie darauf einging wie auf eine Sache, deren Idee sie entzückte. Vergebens fragte ich sie, auf welche Art ich denn jetzt plötzlich Leute auftreiben könnte, die imstande wären, den G*** M*** festzunehmen und ihn sicher zu bewachen. Sie antwortete mir, ich müßte [204] es zum wenigsten versuchen, da uns ja Herr de T*** noch für eine Stunde gutsagte. Und auf meine übrigen Einwände erwiderte sie nur, ich spiele mich als einen Tyrannen auf und sei sehr ungefällig gegen sie. Sie fände überhaupt den ganzen Plan wunderhübsch.

»Du wirst zum Souper sein Gedeck haben«, wiederholte sie mir. »Du wirst in seinem Bette schlafen, und morgen in aller Frühe wirst du seine Geliebte und sein Geld davonführen. Du wirst aufs beste gerächt sein, sowohl an dem Vater wie an dem Sohn.«

Ich gab ihren dringenden Bitten nach, trotz einer geheimen Unruhe meines Herzens, die mir einen schlimmen Zusammenbruch zu prophezeien schien. Ich ging nun aus in der Absicht, zwei oder drei Gardesoldaten, mit denen mich Lescaut in Verbindung gebracht hatte, damit zu beauftragen, G*** M*** festzunehmen. Ich fand nur einen in seiner Wohnung, aber er war ein unternehmungslustiger Mensch, der mir, sowie er erfuhr, worum es sich handelte, guten Erfolg versicherte. Er verlangte nur zehn Pistolen von mir, um drei Soldaten anzuwerben, an deren Spitze er sich stellen wollte.

Ich bat ihn, keine Zeit zu verlieren, und er versammelte sie in weniger als einer Viertelstunde. Ich wartete auf ihn vor seiner Wohnung, und als er mit seinen Spießgesellen erschien, führte ich sie selbst in einen Winkel einer Straße, durch die G*** M*** bei seiner Rückkehr [205] nach der Wohnung Manons notwendigerweise kommen mußte. Ich wies ihn an, ihn nicht zu mißhandeln, ihn aber bis sieben Uhr morgens sorgfältig zu bewachen, damit ich sicher sein konnte, daß er nicht entwich. Er sagte mir, er wolle ihn auf sein Zimmer führen und ihn zwingen, sich auszuziehen oder sogar in seinem Bett zu schlafen, während er und seine drei Haudegen die Nacht mit Trinken und Spielen verbringen würden.

Ich blieb bei ihnen bis zu dem Augenblick, als ich G*** M*** erscheinen sah, und verbarg mich dann in geringer Entfernung in einer dunklen Ecke. Der Gardist redete ihn mit der Pistole in der Hand an und erklärte ihm höflich, er wolle weder sein Leben noch sein Geld. Wenn er aber die geringste Schwierigkeit machen würde, ihm zu folgen, oder den leisesten Schrei ausstoßen würde, so sei er gezwungen, ihm eine Kugel durch den Kopf zu jagen. G*** M***, der sah, daß sein Gegner durch drei Soldaten unterstützt wurde, und auch ohne Zweifel die Ladung der Pistole fürchtete, leistete keinen Widerstand. Ich sah, wie sie ihn wie einen Hammel davonführten.

Ich kehrte nun sofort zu Manon zurück, und um den Dienern jeden Verdacht zu nehmen, sagte ich ihr beim Eintreten, sie brauchte Herrn de G*** M*** nicht mehr zum Souper zu erwarten. Er sei durch Geschäfte überrascht worden, die ihn wider Willen zurückhielten, und habe mich gebeten, ihr seine Entschuldigung auszurichten [206] und mit ihr zu soupieren. Bei einer so schönen Dame betrachte ich das als eine große Gunst.

Sie unterstützte sehr geschickt meine Absicht. Wir nahmen an der Tafel Platz und machten ein ernstes Gesicht, solange die uns aufwartenden Diener anwesend waren. Als wir sie endlich entlassen hatten, verbrachten wir einen der schönsten Abende unseres Lebens. Ich befahl heimlich Marcel einen Wagen zu suchen, der am nächsten Morgen vor sechs Uhr vor der Tür stehen sollte. Ich tat so, als verließ ich Manon gegen Mitternacht, aber, nachdem ich mich heimlich mit Marcels Hilfe wieder hereingeschlichen hatte, schickte ich mich an, mich in das Bett des G*** M*** zu legen, gerade wie ich seinen Platz bei Tisch eingenommen hatte.

Während dieser Zeit arbeitete aber unser böses Geschick daran, uns zu verderben. Wir befanden uns in einem Taumel des Vergnügens, und dabei hing das Schwert über unseren Häuptern. Der Faden, der es hielt, begann zu reißen, aber, damit Sie alle Umstände unseres Zusammenbruchs begreifen, muß ich Ihnen die Ursache davon erzählen.

G*** M*** wurde, als ihn der Gardist festnahm, von einem Lakaien begleitet. Dieser eile, als er das Abenteuer seines Herrn sah, erschreckt zurück, und das erste, was er tat, um Hilfe herbeizuholen, war, daß er dem alten G*** M*** von dem Geschehenen Mitteilung machte.

[207] Eine so schlimme Nachricht mußte ihn natürlich aufs äußerste beunruhigen, denn er hatte nur diesen einen Sohn. Für sein Alter war er aber noch sehr rührig. Zunächst wollte er von dem Diener alles wissen, was sein Sohn den Nachmittag über getan, ob er mit jemand einen Streit gehabt oder sich an dem Streit eines anderen beteiligt, oder ob er sich in einem berüchtigten Haus aufgehalten hätte. Der Diener, der seinen Herrn in der größten Lebensgefahr glaubte und nichts mehr verschweigen wollte, um ihm nur Hilfe zu verschaffen, entdeckte alles, was er wußte über die Liebesgeschichte mit Manon und die großen Ausgaben, die für sie gemacht worden waren. Er erzählte, wie er den Nachmittag bis etwa gegen neun Uhr zu Hause verbracht habe und dann ausgegangen sei, bis ihm auf dem Heimweg dieses Unglück zustieß.

Dieses war genug, um den Alten auf die Vermutung zu bringen, sein Sohn habe einen Streit in einer Liebesangelegenheit gehabt. Obgleich es nun nach halb elf war, zauderte er nicht, sich sofort zum Herrn Polizeihauptmann zu begeben. Er bat ihn, allen Wachtpatrouillen besondere Befehle zu geben. Dann ließ er sich selbst eine Patrouille zur Begleitung zuteilen und eilte nach der Straße, wo man seinen Sohn festgenommen hatte. Er durchforschte alle Winkel der Stadt, in denen er hoffen konnte, ihn zu finden, und als er keine Spur entdeckt hatte, ließ er sich [208] endlich nach dem Haus seiner Geliebten führen, weil er glaubte, er wäre vielleicht dorthin zurückgekehrt.

Ich war gerade dabei, mich zu Bett zu begeben, als er ankam. Die Tür zu dem Zimmer war verschlossen, und von dem Klopfen an der Haustüre hatte ich nichts gehört. Aber er trat in Begleitung von zwei Polizisten ins Haus, und nachdem er sich erfolglos nach dem Schicksal seines Sohnes erkundigt hatte, kam ihm der Gedanke, diese Geliebte zu sehen, um vielleicht von ihr eine Aufklärung zu erhalten. Er stieg also, noch immer von seinen Polizisten begleitet, zum Schlafzimmer hinauf. Wir waren dabei, uns ins Bett zu legen, und als er die Tür öffnete, erstarrte uns das Blut in den Adern.

»Oh, mein Gott, das ist der alte G*** M***«, sagte ich zu Manon.

Ich sprang nach meinem Degen, er war aber unglücklicherweise in meinen Gurt verwickelt. Die Polizisten, die meine Bewegung bemerkten, sprangen auch sofort vor, um danach zu greifen. Ein Mann im Hemd ist gänzlich wehrlos, und so entrissen sie mir jedes Mittel zum Widerstand.

Obgleich G*** M*** durch diese Szene verwirrt war, erkannte er mich doch sofort. Und noch leichter erkannte er Manon.

»Ist das eine Sinnestäuschung?« sagte er ernst zu uns. »Sehe ich hier wirklich den Chevalier des Grieux und Manon Lescaut?«

[209] Ich war so wütend vor Scham und Schmerz, daß ich ihm keine Antwort gab. Er schien eine Zeitlang alle möglichen Gedanken zu erwägen, und als ob diese plötzlich seinen Zorn angefacht hätten, schrie er, indem er sich mir zuwendete: »Unglücklicher, du hast sicher meinen Sohn getötet!«

Diese Beschuldigung ärgerte mich sehr. »Alter Wüstling«, antwortete ich ihm stolz, »wenn ich die Absicht hätte, jemand aus deiner Familie zu töten, dann würde ich bei dir anfangen.«

»Bewahrt ihn gut«, sagte er zu den Polizisten. »Er soll mir Nachrichten über meinen Sohn geben. Wenn er mir nicht sofort gesteht, was er mit ihm gemacht hat, lasse ich ihn morgen früh aufhängen.«

»Du willst mich hängen lassen?« erwiderte ich. »Elender, es sind deinesgleichen, die man zum Galgen schicken müßte. Merke dir, daß ich von edlerem und reinerem Blute bin als du. Ja,« fügte ich hinzu, »ich weiß, was deinem Sohne widerfahren ist, und wenn du mich weiter reizest, lasse ich ihn vor Tagesanbruch erdrosseln und verspreche dir nach ihm dasselbe Schicksal.«

Es war eine Unklugheit von mir, ihm zu gestehen, daß ich den Aufenthalt seines Sohnes kannte. Aber das Übermaß meines Zornes verleitete mich zu diesem Bekenntnis. Sofort rief er fünf oder sechs andere Polizisten, die vor der Haustüre warteten und ließ durch sie sämtliche Diener des Hauses festnehmen.

[210] »Ach so, Herr Chevalier,« fuhr er in spöttischem Tone fort, »Sie wissen also, wo mein Sohn ist, und Sie sagten, Sie wollten ihn erdrosseln lassen? Verlassen Sie sich darauf, daß wir das schon verhindern werden.«

Ich merkte jetzt gründlich, welchen Fehler ich begangen hatte.

Er näherte sich Manon, die weinend auf dem Bette saß. Er machte ihr einige ironische Komplimente über den Einfluß, den sie auf den Vater und den Sohn ausübe, und die kluge Art, wie sie diesen Einfluß ausnütze. Dieses alte, unzüchtige Tier wollte sich sogar einige Vertraulichkeiten mit ihr erlauben.

»Hüte dich, sie anzurühren,« schrie ich, »Gott selbst könnte dich dann nicht mehr vor meinen Händen retten!«

Er ging hinaus und ließ drei Polizisten im Zimmer, denen er befahl, sie sollten uns sofort zum Ankleiden veranlassen.

Ich weiß nicht, welche Absichten er in diesem Augenblick mit uns hatte. Vielleicht hätten wir die Freiheit erlangt, wenn wir ihm mitgeteilt hätten, wo sich sein Sohn befand. Ich überlegte, während ich mich anzog, ob das nicht schließlich das beste wäre. Aber wenn G*** M*** auch beim Verlassen des Zimmers dazu geneigt gewesen wäre, so war er ganz verändert, als er wiederkam. Er hatte alle Diener der Manon, die von den Polizisten festgenommen waren, ausgefragt. Von den Dienern, die [211] sein Sohn ihr gegeben hatte, konnte er nichts erfahren, aber, sobald er hörte, daß Marcel uns schon vorher gedient hatte, beschloß er, ihn durch Drohungen zum Sprechen zu bringen.

Er war eigentlich ein treuer Mensch, aber einfältig und plump. Die Erinnerung an seine Teilnahme bei der Befreiung Manons aus dem Arbeitshaus vereinigte sich mit dem Schrecken, den ihm G*** M*** einflößte, und das machte einen solchen Eindruck auf seinen schwachen Kopf, daß er sich einbildete, man würde ihn zum Galgen führen oder auf das Rad binden. Er versprach, alles zu verraten, was ihm bekanntgeworden sei, wenn man ihm nur das Leben ließe. Dies brachte G*** M*** zu der Überzeugung, es müßte hinter unseren Angelegenheiten noch etwas Schlimmeres und Strafwürdigeres stecken, als er es sich bisher hatte vorstellen können. Darum bot er Marcel für sein Geständnis nicht nur die Freiheit an, sondern auch noch eine Belohnung.

Der Unglückliche erzählte ihm nun einen Teil von unseren Plänen, denn wir hatten uns nicht gescheut, in seiner Gegenwart davon zu sprechen, da er ja selbst dabei eine Rolle spielen sollte. Zwar wußte er nichts von den Veränderungen, die wir in Paris beschlossen hatten, aber er war bei der Abreise aus Chaillot über unseren Plan und, wie er sich dabei verhalten sollte, unterrichtet worden. Er erklärte jetzt also dem G*** M***, wir hätten beabsichtigt, [212] seinen Sohn zu betrügen. Manon sollte zehntausend Franken erhalten, oder hätte sie schon bekommen, und nach unserem Vorhaben sollte dieses Geld niemals wieder in den Besitz der Familie de G*** M*** zurückkehren.

Nach dieser Entdeckung stieg der wütende Alte plötzlich wieder in unser Zimmer hinauf. Er trat, ohne etwas zu sagen, in das Kabinett, wo er auch ohne Mühe das Geld und die Schmuckgegenstände fand. Mit zornrotem Gesicht kehrte er zu uns zurück und, indem er uns das zeigte, was er unseren Raub nannte, überschüttete er uns mit den schmählichsten Vorwürfen. Er hielt das Perlenhalsband und die Armbänder Manon dicht vor die Augen.

»Erkennen Sie sie wieder?« fragte er sie mit spöttischem Lächeln. »Es ist ja nicht das erstemal, daß Sie sie sehen. Wahrhaftig, es sind dieselben! Sie waren nach Ihrem Geschmack, meine Schöne, das ist leicht zu sehen! Die armen Kinder!« fügte er hinzu, »sie sind wirklich ganz reizend, der eine wie die andere, aber sie stehlen gern.«

Mein Herz zerbrach fast vor Wut bei diesen beschimpfenden Worten. Um einen Augenblick frei zu sein, barmherziger Himmel, was hätte ich nicht dafür gegeben! Endlich zwang ich mich gewaltsam, ihm mit einer Mäßigung, hinter der sich nur meine äußerste Erregung verbarg, zu antworten.

»Mein Herr,« sagte ich, »lassen Sie endlich diesen unverschämten [213] Hohn! Worum handelt es sich eigentlich? Was beabsichtigen Sie mit uns?«

»Es handelt sich darum, Herr Chevalier,« antwortete er mir, »daß Sie von hier sofort nach dem Schloßgefängnis gehen. Wenn es morgen Tag geworden ist, dann werden wir einen klaren Einblick in unsere Angelegenheiten haben, und ich hoffe, daß Sie dann auch schließlich so gütig sein werden, mir zu sagen, wo mein Sohn ist.«

Ich begriff ohne viel Nachdenken, daß es für uns schreckliche Folgen haben müßte, wenn wir einmal im Schloßgefängnis eingeschlossen wären. Mit Zittern stellte ich mir alle diese Gefahren vor, und trotz meines Stolzes erkannte ich, daß ich mich unter der Last meines Schicksals beugen, ja, daß ich meinem grausamsten Feind schmeicheln müßte, um durch meine Unterwürfigkeit etwas zu erreichen. Darum bat ich ihn in höflichem Ton, uns einen Augenblick Gehör zu schenken.

»Mein Herr,« sagte ich zu ihm, »ich sehe meine Schuld ein. Ich gestehe, daß mich meine Jugend veranlaßt hat, schweres Unrecht zu begehen, und daß Sie ein Recht haben, sich über mich zu beklagen. Aber wenn Sie die Gewalt der Liebe kennen, wenn Sie beurteilen können, was ein armer, unglücklicher junger Mensch leidet, dem man alles nimmt, was er liebt, dann werden Sie es vielleicht verzeihlich finden, wenn ich das Vergnügen einer kleinen Rache gesucht habe, oder Sie werden wenigstens [214] glauben, daß ich genug bestraft bin durch die Schande, die ich erlitten habe. Sie brauchen weder mit Gefängnis noch mit Todesstrafe zu drohen, um mich zu zwingen, Ihnen den Aufenthaltsort Ihres Sohnes zu sagen. Er befindet sich in Sicherheit. Meine Absicht war weder, ihm etwas anzutun, noch Sie zu beleidigen. Ich bin bereit, Ihnen den Ort zu nennen, wo er in Ruhe die Nacht verbringt, wenn Sie mir die Gunst erweisen, mir die Freiheit zu schenken.«

Weit entfernt, von meiner Bitte gerührt zu sein, wandte mir der alte Tiger lachend den Rücken. Er ließ nur ein paar Worte fallen, um mir anzudeuten, daß er unsere Pläne bis auf seine ersten Anfänge kenne. Was seinen Sohn anginge, fügte er schroff hinzu, so würde der sich schon wieder einfinden, da ich ihn ja nicht ermordet hätte.

»Führen Sie sie zum Schloßgefängnis,« sagte er zu den Polizeileuten, »und sehen Sie sich vor, daß Ihnen der Chevalier nicht entkommt. Er ist ein Schlaukopf, denn er ist schon aus Saint-Lazare entkommen.«

Er ging hinaus und ließ mich in einem Zustand zurück, den Sie sich wohl vorstellen können.

»O Himmel,« rief ich aus, »ich will mich allen Schicksalsschlägen, die deine Hand mir schickt, unterwerfen. Aber daß ein elender Schuft wie er die Macht hat, mich so tyrannisch zu behandeln, das führt mich bis zur äußersten Verzweiflung.«

[215] Die Polizeibeamten ersuchten uns, sie nicht mehr länger warten zu lassen. Sie hatten einen Wagen an der Tür. Ich reichte Manon die Hand, als wir hinabgingen.

»Komm, meine geliebte Königin«, sagte ich zu ihr. »Komm und unterwirf dich der ganzen Härte unseres Schicksals. Vielleicht gefällt es dem Himmel, uns eines Tages glücklicher zu machen.«

Wir fuhren gemeinsam in einem Wagen, und sie warf sich in meine Arme. Ich hatte sie seit der Ankunft des G*** M*** kein Wort sprechen hören, aber jetzt, als sie mit mir allein war, sagte sie mir tausend Zärtlichkeiten und beschuldigte sich, die Ursache meines Unglücks zu sein. Ich versicherte ihr, ich würde mich niemals über mein Schicksal beschweren, solange sie nur nicht aufhörte, mich zu lieben.

»Nicht ich bin zu beklagen«, fuhr ich fort. »Ein paar Monate Gefängnis erschrecken mich nicht, und ich ziehe noch immer das Schloßgefängnis dem Aufenthalt in Saint-Lazare vor. Aber für dich, du liebe Seele, zittert mein Herz. Welch ein Schicksal für ein so zartes Geschöpf! Himmel, wie kannst du so grausam mit deinem vollendetsten Werk umgehen! Warum sind wir nicht alle beide mit Eigenschaften geboren, die unserem Elend entsprechen? Wir besitzen Geist, Geschmack und Gefühl. Ach, welchen armseligen Gebrauch machen wir davon, während so viele niedrige Seelen, die unser Geschick verdienten, jede Gunst des Glücks genießen!«

[216] Diese Erwägungen erfüllten mich mit Schmerz, aber noch viel schmerzlicher waren mein Gedanken an die Zukunft, denn ich verzehrte mich fast vor Angst um Manon. Sie war schon im Arbeitshaus gewesen, und wenn sie auch auf gute Art daraus entkommen war, so wußte ich doch, daß man gegen Rückfällige ihrer Art äußerst scharf vorging. Gerne hätte ich ihr meine Besorgnisse mitgeteilt, aber ich fürchtete, sie noch ängstlicher als mich selbst zu machen. Ich zitterte für sie, ohne daß ich es wagte, sie von der Gefahr zu unterrichten, und ich umarmte sie seufzend, um sie wenigstens meiner Liebe zu versichern, die vielleicht das einzige Gefühl war, dem ich Ausdruck zu geben wagte.

»Manon,« sagte ich zu ihr, »sprich ganz offen zu mir. Wirst du mich auch immer lieben?«

Sie antwortete mir, es schmerze sie tief, daß ich daran auch nur zweifeln könnte.

»Nun ja,« fuhr ich fort, »ich zweifle durchaus nicht daran, und mit dieser Gewißheit will ich allen unseren Feinden entgegentreten. Ich werde mich an meine Familie wenden, um aus dem Schloßgefängnis herauszukommen, und mein Leben soll keinen Wert mehr haben, wenn ich dich nicht auch herausbekomme, sobald ich frei bin.«

Wir kamen im Gefängnis an, und man trennte uns voneinander. Dieser Schlag schmerzte mich weniger stark, weil ich ihn vorausgesehen hatte. Ich empfahl Manon [217] dem Schließer, indem ich ihm mitteilte, daß ich ein Mann von Stande sei, und ihm eine beträchtliche Belohnung versprach. Ich umarmte meine teure Geliebte, bevor ich sie verließ. Ich beschwor sie, sich nicht zu übermäßig zu betrüben und vor nichts Furcht zu haben, solange ich am Leben sei.

Ich war nicht ohne Geld. Ich gab ihr einen Teil, und von dem, was mir blieb, bezahlte ich dem Schließer sowohl für sie wie für mich einen Monat reichlicher Pension im voraus. Meine Freigebigkeit hatte eine gute Wirkung. Man gab mir ein anständig eingerichtetes Zimmer und versicherte mir, Manon würde ein gleiches haben.

Ich befaßte mich sofort mit den Mitteln, meine Freilassung zu beschleunigen. Es war klar, daß es durchaus nichts Strafbares bei meiner Angelegenheit gab, und auch angenommen, daß der Plan unseres Diebstahls durch die Angaben Marcels bewiesen würde, so wußte ich doch recht gut, daß man die einfache Absicht nicht bestrafen konnte. Ich beschloß, sofort an meinen Vater zu schreiben und ihn zu bitten, persönlich nach Paris zu kommen. Ich schämte mich, wie gesagt, weniger, im Schloßgefängnis zu sein als in Saint-Lazare. Im übrigen hatten, wenn ich auch die gebührende Achtung vor der väterlichen Autorität bewahrte, doch schon Alter und Erfahrung meine Schüchternheit sehr vermindert. Ich schrieb also, [218] und man machte auch vom Gefängnis aus keine Schwierigkeiten, meinen Brief abgehen zu lassen. Aber ich hätte mir die ganze Mühe spären können, wenn ich gewußt hätte, daß mein Vater schon am nächsten Tag in Paris ankam.

Er hatte meinen Brief erhalten, den ich ihm acht Tage früher geschrieben, und darüber eine unendliche Freude empfunden. Aber wie große Hoffnung ich darin auch auf meine Bekehrung erweckt hatte, so hielt er es doch nicht für angebracht, sich ganz auf meine Versprechungen zu verlassen. Er beschloß, sich von meiner Besserung persönlich zu überzeugen und sein Verhalten nach der Aufrichtigkeit meiner Reue zu richten. So langte er einen Tag nach meiner Verhaftung an.

Zunächst besuchte er Tiberge, an den ich ihn gebeten hatte, seine Antwort zu richten. Mein Freund konnte ihm aber weder meine Wohnung noch meine augenblicklichen Verhältnisse mitteilen. Er erzählte ihm nur meine hauptsächlichen Abenteuer, die ich nach meiner Entweichung aus Saint-Sulpice erlebt hatte. Er sprach dabei in sehr günstigem Sinne über meine guten Vorsätze, die ich ihm bei unserem letzten Zusammensein ausgedrückt hatte. Er fügte hinzu, daß ich mich, wie er glaubte, gänzlich von Manon getrennt hätte, doch sei er erstaunt, weil ich ihn seit acht Tagen ohne Nachricht gelassen.

Mein Vater war nicht dumm. Er ahnte, daß da hinter dem Schweigen, über das sich Tiberge beklagte, etwas [219] steckte, das sich dessen Scharfsinn entzog, und bemühte sich so eifrig, meine Spuren zu entdecken, daß er zwei Tage nach seiner Ankunft erfuhr, daß ich mich im Schloßgefängnis befände.

Bevor ich aber seinen Besuch empfing, den ich keineswegs so schnell erwartete, erhielt ich den Besuch des Herrn Polizeipräfekten, oder um die Dinge beim richtigen Namen zu nennen, ich wurde einem Verhör unterzogen. Er machte mir einige Vorwürfe, die aber weder hart noch unfreundlich waren. In mildem Tone sagte er mir, daß er meine schlechte Aufführung beklage, daß es unklug von mir gewesen sei, mir einen Mann wie den Herrn de G*** M*** zum Feinde zu machen. Natürlich könnte man leicht sehen, daß ich mehr aus Unerfahrenheit und Leichtsinn als aus Schlechtigkeit so gehandelt hätte, doch sei es immerhin schon das zweitemal, daß ich mich vor seinem Richterstuhl befände, und er hätte gehofft, ich wäre durch die zwei oder drei Monate in Saint-Lazare klüger geworden.

Ich war sehr erfreut, daß ich es mit einem so vernünftigen Richter zu tun hatte, und erklärte mich ihm in einer so ehrerbietigen und ruhigen Art, daß er mit meinen Antworten außerordentlich zufrieden zu sein schien. Er sagte mir, ich sollte mich nicht zu sehr dem Kummer überlassen, und er sei geneigt, in Rücksicht auf meinen Stand und meine Jugend mir behilflich zu sein.

[220] Ich wagte es nunmehr, ihm Manon zu empfehlen, indem ich ihre Milde und ihren guten Charakter pries. Er antwortete mir lachend, er habe sie noch nicht gesehen, sie sei ihm aber als eine gefährliche Person geschildert worden. Diese Worte kränkten so sehr meine Liebe, daß ich ihm tausend leidenschaftliche Worte zur Verteidigung meiner armen Geliebten sagte und mich sogar nicht enthalten konnte, einige Tränen zu vergießen. Er gab Befehl, mich wieder in mein Zimmer zu führen.

»O Liebe, Liebe!« rief dieser ernste Beamte aus, als er mich hinausgehen sah. »Wirst du dich denn nie mit der Vernunft verbinden können?«

Ich hing gerade meinen traurigen Gedanken nach und grübelte über die Unterredung, die ich mit dem Herrn Polizeipräfekten gehabt hatte, als ich hörte, wie meine Zimmertür geöffnet wurde. Min Vater trat herein. Obgleich ich auf seinen Anblick hätte vorbereitet sein müssen, denn ich erwartete ihn ja ein paar Tage später, so wurde ich doch dadurch so stark betroffen, daß ich mich in den Abgrund der Erde gestürzt hätte, wenn er sich zu meinen Füßen aufgetan hätte. Ich eilte auf ihn zu, um ihn mit Zeichen der äußersten Verwirrung zu umarmen. Er setzte sich hin, ohne daß weder ich noch er ein Wort sagte.

Da ich mit niedergeschlagenen Augen und gesenktem Kopfe stehenblieb, brach er endlich das Schweigen.

»Setze dich,« sprach er in strengem Ton, »setze dich hin! [221] Dank dem skandalösen Aufsehen, das deine Ausschweifungen und Betrügereien erregt haben, habe ich deinen Aufenthaltsort entdeckt. Es ist der Vorzug solcher Verdienste, wie du sie erworben hast, daß sie nicht verborgen bleiben können. Du bist auf dem sichersten Wege, berühmt zu werden, und ich darf hoffen, daß das Schafott auf dem Grèveplatz das Ende sein wird, wo du dann tatsächlich den Ruhm genießen kannst, von aller Welt bewundert zu werden.«

Ich schwieg, und er fuhr fort, auf mich einzusprechen.

»Wie unglücklich ist doch ein Vater,« sagte er, »der seinen Sohn zärtlich geliebt und nichts gespart hat, um aus ihm einen tüchtigen Menschen zu machen, wenn dieser dann schließlich zu einem Spitzbuben wird, der ihn entehrt! Über einen Vermögensverlust kann man sich trösten. Die Zeit löscht ihn aus, und der Schmerz verschwindet. Aber welch ein Mittel gibt es gegen ein Übel, das täglich schlimmer wird, wie es die Ausschweifungen eines lasterhaften Sohnes sind, der jedes Ehrgefühl verloren hat! Du antwortest nichts, Unglücklicher? Sieh einer diese gemachte Bescheidenheit und diese heuchlerische Milde an: sollte man ihn nicht für den anständigsten Menschen seines Geschlechts halten?«

Obgleich ich einsehen mußte, daß ich einen Teil dieser Beschimpfungen verdient hatte, schien es mir doch, als ob er darin zu weit ginge. Ich glaubte, ich dürfte ihm das schon offen erklären.

[222] »Ich versichere Ihnen, mein Vater,« sagte ich zu ihm, »daß die Bescheidenheit, in der Sie mich hier vor Ihnen stehen sehen, in keiner Weise geheuchelt ist. Sie ist das ganz natürliche Verhalten eines gutgearteten Sohnes, der vor seinem Vater, besonders vor seinem gekränkten Vater, eine unendliche Ehrfurcht hat. Ich behaupte auch nicht, daß ich für den ordentlichsten Menschen unseres Geschlechts gelten kann. Ich bekenne, daß ich Ihre Vorwürfe verdient habe. Aber ich beschwöre Sie doch, dabei etwas mehr Güte walten zu lassen und mich nicht als den schändlichsten aller Menschen zu behandeln. So harte Namen verdiene ich doch nicht! Sie wissen, daß es die Liebe ist, die mich zu allen meinen Vergehen verführt hat. Unselige Leidenschaft! Ach, kennen Sie denn gar nicht ihre Macht, und ist es möglich, daß Sie, dessen Blut doch in meinen Adern fließt, niemals die gleiche Glut gefühlt haben? Die Liebe hat mich zu zärtlich, zu leidenschaftlich, zu treu und vielleicht auch zu nachgiebig gegen die Wünsche einer unendlich reizenden Geliebten gemacht – das sind alle meine Verbrechen. Sehen Sie nun darunter eins, das Sie entehrt? Wohlan, teurer Vater,« fügte ich zärtlich hinzu, »haben Sie etwas Mitleid für einen Sohn, der immer voll von Ehrfurcht und Zuneigung zu Ihnen gewesen ist, der nicht, wie Sie denken, der Ehre und der Pflicht entsagt hat, und der tausendmal mehr zu beklagen ist, als Sie sich vorstellen können.«

[223] Ich ließ, als ich diese Worte gesprochen hatte, einige Tränen fallen.

Ein Vaterherz ist das Meisterstück der Natur. Sie leitet es, um mich so auszudrücken, mit besonderem Wohlgefallen und ordnet selbst alle seine Triebkräfte. Mein Vater, der dazu noch ein Mann von Geist und Geschmack war, wurde durch die Art, wie ich meine Entschuldigung vorgebracht hatte, so gerührt, daß er diese Gefühlsänderung nicht vor mir verbergen konnte.

»Komm, mein armer Chevalier,« sagte er zu mir, »komm und umarme mich. Ich habe Mitleid mit dir.«

Ich umarmte ihn, und er drückte mich so innig an sich, daß ich wohl beurteilen konnte, was in seinem Herzen vor sich ging.

»Aber welche Maßnahmen soll ich denn nun ergreifen,« fuhr er fort, »dich von hier fortzubringen? Erzähle mir einmal offen alle deine Erlebnisse.«

Da es schließlich in meinem ganzen Handeln nichts gab, was mich unbedingt entehren mußte, wenigstens wenn man es an dem Handeln der jungen Leute eines gewissen Kreises maß, und da eine Geliebte in einem Jahrhundert wie dem unserigen nicht für eine Schande gilt, ebensowenig wie eine kleine Nachhilfe beim Spiel, so beichtete ich aufrichtig meinem Vater jede Einzelheit des Lebens, das ich geführt hatte. Bei jeder Sünde, die ich [224] eingestand, trug ich Sorge, berühmte Beispiele anzufügen, um meine Schande zu mildern.

»Ich lebte mit einer Geliebten zusammen,« sagte ich, »ohne daß ich mit ihr ehelich verbunden war. Der Herzog de *** unterhält zwei vor den Augen von ganz Paris, und Herr de *** hat eine seit zehn Jahren, die er mit einer Treue liebt, wie er sie seiner Gattin nie erwiesen hat. Zwei Drittel aller vornehmen Leute von Frankreich rechnen es sich zur Ehre an, eine zu besitzen. Ich habe ein wenig beim Spiel betrogen: der Marquis de *** und der Graf de *** haben überhaupt keine anderen Einnahmen; der Fürst de *** und der Herzog de *** sind Anführer einer Bande von Edelleuten gleicher Art.«

Was meine Absichten auf die Börsen der beiden G*** M*** anging, so hätte ich ihm mit Leichtigkeit beweisen können, daß ich auch darin nicht ohne Vorbilder war, aber ich besaß doch noch zu viel Ehrgefühl, um mich nicht selbst mit allen denen zu verurteilen, die ich als Beispiel hätte anführen können. Deshalb bat ich meinen Vater, mir diese Schwäche zu verzeihen, weil mich zwei heftige Leidenschaften dazu getrieben hatten, das Rachegefühl und die Liebe.

Er fragte mich, ob ich ihm nicht einen Rat geben könnte über den kürzesten Weg, meine Freiheit zu gewinnen, und über eine Möglichkeit, jedes Aufsehen zu vermeiden. Ich erzählte ihm, welche freundlichen Empfindungen mir der Polizeipräfekt gezeigt hatte.

[225] »Wenn Sie irgendwelche Schwierigkeiten finden,« sagte ich zu ihm, »so können Sie nur von der Seite des G*** M*** kommen. Deshalb glaube ich, daß es angebracht wäre, wenn Sie sich die Mühe machten, ihn zu besuchen.« Er versprach es mir.

Ich wagte nicht, ihn zu bitten, sich für Manon zu verwenden. Es geschah dies nicht aus Mangel an Mut, sondern aus Besorgnis, ich möchte ihn durch meinen Vorschlag erzürnen und zu einem für sie und für mich unheilvollen Plane aufreizen. Ich weiß heute noch nicht, ob diese Besorgnis nicht gerade mein größtes Unglück herbeigeführt hat. Denn es verhinderte mich, die Absichten meines Vaters auszuforschen und mich zu bemühen, ihn für meine arme Geliebte günstig zu stimmen. Vielleicht hätte ich auch hierin sein Mitleid erregt und ihn gegen die schlechte Meinung geschützt, die er nur allzu leicht durch den alten G*** M*** empfangen mußte. Aber wer kann das wissen? Mein böses Geschick hätte vielleicht doch über alle meine Bemühungen gesiegt, aber dann hätte ich vielleicht nur dieses Geschick und die Grausamkeit meiner Feinde als die Urheber meines Unglücks beschuldigen können.

Mein Vater besuchte, als er mich verlassen hatte, den Herrn de G*** M***. Er traf ihn in Gesellschaft seines Sohnes, dem der Gardist redlich die Freiheit zurückgegeben hatte. Ich habe niemals die Einzelheiten ihrer [226] Unterredung erfahren, aber ich konnte sie mir nach ihren tödlichen Folgen leicht ausmalen. Sie gingen zusammen (ich meine die beiden Väter) zum Herrn Polizeipräfekten, den sie um zwei Vergünstigungen baten: einmal, mich sofort aus dem Gefängnis freizulassen, dann aber Manon für immer einzusperren oder sie nach Amerika zu schicken. Man begann zu jener Zeit, zahlreiche dunkle Existenzen nach dem Mississippi einzuschiffen, und der Herr Polizeipräfekt gab den beiden sein Wort, Manon mit dem ersten Schiff abreisen zu lassen.

Herr de G*** M*** und mein Vater kamen sofort, um mir die Nachricht von meiner Freilassung zu überbringen. Herr de G*** M*** sagte mir ein paar höfliche Verbindlichkeiten über das Vorgefallene, und nachdem er mir Glück gewünscht hatte, einen solchen Vater zu besitzen, ermahnte er mich, in Zukunft aus seinen Lehren und seinem Beispiel Nutzen zu ziehen. Mein Vater gebot mir, mich bei ihm wegen der angeblichen Beleidigung, die ich seiner Familie zugefügt hatte, zu entschuldigen und ihm zu danken, weil er sich zugleich mit ihm für meine Befreiung eingesetzt hatte.

Wir gingen zusammen hinaus, ohne ein Wort über meine Geliebte gesprochen zu haben. Ich wagte in ihrer Gegenwart nicht einmal mit den Aufsehern über sie zu sprechen. Ach, meine armseligen Empfehlungen hätten auch keinen Zweck gehabt, denn der grausame Befehl war [227] zu gleicher Zeit wie meine Befreiung gekommen. Das unglückliche Mädchen wurde eine Stunde später nach dem Arbeitshaus gebracht und dort mit einigen armen Geschöpfen, die zum gleichen Schicksal verurteilt waren, zusammengesteckt.

Mein Vater hatte mich gezwungen, ihm nach dem Hause zu folgen, in welchem er abgestiegen war, und es wurde fast sechs Uhr abends, ehe ich eine Gelegenheit fand, mich seinen Blicken zu entziehen und nach dem Schloßgefängnis zurückzukehren. Ich hatte keine andere Absicht, als Manon einige Erfrischungen zu übersenden und sie dem Schließer zu empfehlen, denn ich erhoffte nicht, daß man mir Erlaubnis geben würde, sie zu sehen. Ich hatte übrigens noch gar nicht die Zeit gehabt, einen Befreiungsplan zu erwägen.

Ich verlangte, den Schließer zu sprechen. Er war sehr zufrieden gewesen mit meiner Freigebigkeit und Freundlichkeit, so daß er in der Absicht, mir dadurch etwas Gutes zu erweisen, mit mir über das Schicksal Manons wie über ein Unglück sprach, das ihm sehr leid täte, besonders da es mich so hart treffen müßte. Ich begriff nicht, was er sagen wollte, und wir unterhielten uns eine Weile, ohne uns zu verstehen. Schließlich merkte er, daß ich noch gar nicht über die Sache aufgeklärt sei, und erzählte mir das, was ich Ihnen schon mit Entsetzen gesagt habe, denn ich fühle dieses Entsetzen noch heute.

[228] Noch nie hat ein plötzlicher Schlag eine jähere und schrecklichere Folge gehabt. Ich fiel mit einem so schmerzlichen Zucken des Herzens zu Boden, daß ich im Augenblick, als ich mein Bewußtsein verlor, glaubte, mein Leben sei für immer zu Ende. Etwas von diesen Gedanken schwebte mir sogar noch vor, als ich wieder zu mir kam. Ich richtete meine Blicke auf alle Teile des Zimmers und auf mich selbst, als wollte ich mich vergewissern, daß ich noch immer in diesem elenden Zustand eines lebenden Menschen wäre.

Wäre ich nur einem natürlichen Gefühl gefolgt, das mich antrieb, Befreiung von meinen Schmerzen zu suchen, so wäre mir in diesem Augenblick der Verzweiflung und Niedergeschlagenheit nichts süßer erschienen als der Tod. Selbst die Religion konnte mir nichts Unerträglicheres für das Jenseits androhen als die grausamen Kämpfe, von denen ich gequält wurde. Indessen fand ich durch ein Wunder, das nur der Liebe vergleichbar ist, bald wieder so viel Kraft, dem Himmel dafür zu danken, daß er mir Bewußtsein und Vernunft gelassen hatte. Mein Tod hätte nur mir selbst genützt, es war Manon, die mein Leben brauchte, um sie zu befreien, um ihr zu helfen, um sie zu rächen. Ich schwur, mich ohne Rücksicht diesem Ziel zu widmen.

Der Schließer erwies mir allen Beistand, wie ich ihn nur von meinem besten Freund hätte erwarten dürfen. [229] Ich nahm sein Mitleid mit der lebhaftesten Erkenntlichkeit auf.

»Ach,« sagte ich zu ihm, »Sie sind also von meinem Elend gerührt! Alle Welt verläßt mich, sogar mein Vater ist zweifellos einer meiner grausamsten Verfolger, niemand hat Mitleid mit mir. Sie allein an diesem Orte der Härte und Unmenschlichkeit, Sie zeigen Mitgefühl für den elendesten aller Sterblichen!«

Er riet mir, mich nicht auf der Straße zu zeigen, ohne die Spuren meiner Erregung etwas beseitigt zu haben.

»Lassen Sie alles«, rief ich aus, indem ich hinausging. »Ich werde Sie vielleicht eher wiedersehen, als Sie denken. Bereiten Sie das dunkelste aller Verließe für mich vor, ich gehe jetzt daran, es zu verdienen.«

Tatsächlich richteten sich meine ersten Gedanken auf nichts Geringeres, als mich der beiden G*** M*** und des Polizeipräfekten zu entledigen und mit gewaffneter Hand an der Spitze einer Bande, die ich anwerben wollte, in das Arbeitshaus einzudringen. Meinen eigenen Vater hätte ich kaum geschont bei einer Rache, die mir so gerecht erschien, denn der Schließer hatte mir nicht verschwiegen, daß er und G*** M*** die Urheber meines Unglücks waren.

Als ich aber einige Schritte über die Straße gemacht, und die kalte Luft mein Blut und meine Stimmung etwas abgekühlt hatte, machte meine Wut allmählich vernünftigeren [230] Empfindungen Platz. Der Tod unserer Feinde hätte Manon nur wenig genützt, aber er hätte mir zweifellos alle Möglichkeiten genommen, ihr zu helfen. Übrigens, durfte ich mir wirklich mit einem feigen Meuchelmord helfen? Gab es keinen anderen Weg, mich zu rächen? Besser war es, zunächst mit allen Kräften und Gedanken an der Befreiung Manons zu arbeiten und alles übrige zu verschieben, bis mein wichtiges Unternehmen geglückt war.

Es blieb mir nur wenig Geld, und doch war dies eine notwendige Grundlage, um überhaupt mit der Sache anzufangen. Ich sah nur drei Personen, an die ich mich hätte wenden können: Herrn de T***, meinen Vater und Tiberge. Es war nicht wahrscheinlich, von den beiden letzteren etwas zu erhalten, und den ersteren mit meinen Zudringlichkeiten zu belästigen, schämte ich mich. Aber in der Verzweiflung läßt man jede Rücksicht fahren.

Ich ging sofort zum Seminar von Saint-Sulpice, ohne mich darum zu kümmern, ob man mich erkannte. Ich ließ Tiberge rufen und merkte an seinen ersten Worten, daß er von meinen letzten Abenteuern noch nichts wußte. Deshalb beschloß ich, meine ursprüngliche Absicht, sein Mitleid zu erregen, fallen zu lassen. Ich erzählte ihm flüchtig von dem Vergnügen, das es mir bereitet hätte, meinen Vater wiederzusehen, und bat ihn darauf, mir einiges Geld zu leihen, wobei ich vorgab, ich müßte vor meiner [231] Abreise aus Paris noch einige Schulden bezahlen, die ich geheimzuhalten wünschte. Er reichte mir sofort seine Börse, und ich nahm fünfhundert Franken von den sechshundert, die ich darin fand. Ich bot ihm einen Schuldschein an, er war aber zu edelmütig, ihn anzunehmen.

Von da eilte ich zu Herrn de T*** und erzählte ihm rückhaltlos mein ganzes Unglück und meine Verlegenheit. Er kannte meine Lage schon bis auf die kleinsten Umstände, da er Sorge getragen, die Abenteuer des G*** M*** zu verfolgen. Trotzdem hörte er mich an und beklagte mich sehr.

Als ich ihn um seinen Rat bat, auf welche Weise man Manon befreien könnte, antwortete er mir traurig, er sehe so wenig Aussichten auf eine solche Befreiung, daß, wenn der Himmel kein Wunder tue, man jede Hoffnung aufgeben müßte. Er sei absichtlich zum Arbeitshaus gegangen, wo man sie eingeschlossen habe, und sogar ihm habe man die Erlaubnis verweigert, sie zu sprechen. Die Befehle des Polizeipräfekten wären äußerst streng, und um das Unglück voll zu machen, sei die Abreise der unglückseligen Gesellschaft, zu der man sie gesteckt hatte, schon für den zweitfolgenden Tag festgesetzt worden.

Ich war von seiner Mitteilung so bestürzt, daß er noch eine Stunde hätte weitersprechen können, ohne daß es mir eingefallen wäre, ihn zu unterbrechen. Er sagte mir dann noch, er habe mich absichtlich nicht im Schloßgefängnis [232] besucht, um mir leichter helfen zu können, da man so annehmen konnte, daß er keine Verbindung mit mir hätte. Aber seit den paar Stunden meiner Freilassung habe es ihn sehr bekümmert, nicht zu wissen, wohin ich gegangen sei. Er habe den Wunsch gehegt, mich bald zu sehen, um mir den einzigen Rat zu geben, durch den ich noch hoffen könnte, das Schicksal Manons zu wenden. Aber es sei ein gefährlicher Rat, und er bäte mich, für alle Zeiten darüber zu schweigen, daß er irgendeinen Anteil daran gehabt hätte. Ich sollte nämlich ein paar Strolche anwerben, die den Mut besäßen, Manons Bedeckung, nachdem sie Paris verlassen hätte, anzugreifen. Herr de T*** wartete nicht ab, bis ich ihm von meinem Geldmangel sprach.

»Hier sind hundert Pistolen«, sagte er, indem er mir eine Börse reichte. »Sie dürften Ihnen von einigem Nutzen sein. Wenn sich Ihre Verhältnisse wieder zum Besseren gestaltet haben, können Sie sie mir zurückgeben.«

Er fügte noch hinzu, wenn die Sorge um seinen Ruf es ihm erlaubte, selbst ihre Befreiung zu unternehmen, so würde er mir seinen Arm und seinen Degen zur Verfügung gestellt haben.

Das Übermaß seines Edelmuts rührte mich bis zu Tränen. Ich sprach ihm mit aller Wärme, die mir in meinem bedrückten Zustand noch geblieben war, meine Erkenntlichkeit aus. Ich fragte ihn, ob durch ein Gesuch [233] an den Polizeipräfekten nichts zu hoffen sei. Er antwortete mir, er habe daran gedacht, halte aber einen solchen Versuch für zwecklos, denn eine solche Vergünstigung könnte man nicht ohne besondere Gründe erbitten, und er sehe nicht ein, welchen Grund ich angeben wollte, um eine so ernste und mächtige Persönlichkeit zu einem solchen Schritt zu veranlassen. Die einzige Art, etwas von dieser Seite zu hoffen, wäre die, den Herrn de G*** M*** und meinen Vater umzustimmen und sie zu veranlassen, selbst den Herrn Polizeipräfekten um eine Aufhebung seines Befehls zu bitten. Er erbot sich, alles zu versuchen, um den jungen G*** M*** zu gewinnen, obgleich dieser, wie er glaubte, ihm gegenüber etwas kühler geworden sei, da er doch wegen des Vorgefallenen einen gewissen Verdacht geschöpft habe. Gleichzeitig beschwor er mich, keine Mühe zu sparen, um den Sinn meines Vaters umzustimmen.

Dieses war für mich kein so leichtes Unternehmen, und zwar nicht nur wegen der Widerstände, die ich natürlich dabei zu überwinden hatte, sondern auch aus einem anderen Grunde, der mich schon vor einem bloßen Zusammensein mit meinem Vater zurückschrecken ließ. Ich hatte seine Wohnung gegen seinen Befehl verlassen und war fest entschlossen, als ich das traurige Geschick Manons erfuhr, nicht mehr dorthin zurückzukehren. Ich hatte allen Grund zur Befürchtung, er möchte mich gegen meinen [234] Willen festhalten und sogar in die Provinz führen. Mein älterer Bruder hatte das ja schon einmal getan. Zwar war ich jetzt älter geworden, aber mein Alter half mir wenig gegen die Gewalt.

Trotzdem fand ich ein Mittel, mich gegen diese Gefahr zu schützen, nämlich ihn an einen öffentlichen Ort rufen zu lassen und dabei nicht meinen, sondern einen anderen Namen anzugeben. Ich faßte sofort diesen Entschluß.

Herr de T*** ging zu G*** M*** und ich ins Luxembourg, von wo ich meinen Vater benachrichtigte, daß ein ihm ergebener Edelmann ihn dort erwarte. Ich fürchtete, es könnte ihm schwierig sein, zu kommen, weil die Nacht schon heranrückte. Trotzdem erschien er nach kurzer Zeit, gefolgt von seinem Diener, und ich bat ihn, einen Seitenweg einzuschlagen, wo wir allein sein könnten. Wir machten mindestens hundert Schritte, ohne zu sprechen. Zweifellos begriff er, daß ich nicht ohne gewichtige Gründe so große Vorsicht anwandte. Er wartete auf meine Mitteilung, und ich überlegte.

Endlich öffnete ich den Mund. »Sie sind ein guter Vater«, begann ich zitternd. »Sie haben mich mit Guttaten überschüttet und mir eine unendliche Zahl von Vergehen verziehen. Darum möge auch der Himmel mein Zeuge sein, daß ich für Sie alle Gefühle eines respektvollen und liebenden Sohnes hege. Aber es scheint mir ... daß Ihre Strenge ...«

[235] »Was? Meine Strenge?« unterbrach mich mein Vater, für dessen Ungeduld ich offenbar viel zu langsam sprach.

»Ja, mein Vater,« fuhr ich fort, »es scheint mir, daß Ihre Strenge außerordentlich scharf ist in der Behandlung, die Sie der armen Manon haben angedeihen lassen. Sie haben sich über sie mit Herrn G*** M*** ins Einvernehmen gesetzt. Sein Haß hat sie Ihnen in den schwärzesten Farben geschildert, daß Sie sich über sie eine so abscheuliche Ansicht bilden mußten. In Wirklichkeit aber ist sie das sanfteste und liebenswürdigste Geschöpf, das jemals gelebt hat. Warum gefiel es nicht dem Himmel, Ihnen den Gedanken einzuflößen, sie einen Augenblick zu sehen! Ich weiß ebenso bestimmt, daß sie Ihnen gefallen hätte, wie ich weiß, daß sie reizend ist. Sie hätten für sie Partei ergriffen, Sie hätten die schwarzen Ränke des G*** M*** verachtet, Sie hätten mit ihr und mit mir Mitleid gehabt. Ach, ich bin dessen sicher! Ihr Herz ist nicht unempfindlich, Sie hätten sich rühren lassen.«

Er unterbrach mich noch einmal, als er sah, daß ich mit einer Glut sprach, die mir nicht so bald erlaubt hätte, zu Ende zu kommen. Er verlangte zu wissen, worauf ich mit meiner leidenschaftlichen Rede hinaus wollte.

»Mein Leben will ich von Ihnen erbitten,« antwortete ich, »denn ich kann es nicht einen Augenblick bewahren, wenn Manon erst nach Amerika abgereist ist.«

»Nein, nein«, sagte er zu mir in strengem Ton. »Lieber [236] will ich dich ohne Leben, als ohne Vernunft und ohne Ehre sehen.«

»Dann wollen wir nicht weiter gehen«, schrie ich, indem ich ihn am Arm zurückhielt. »Nehmen Sie es mir, dieses verhaßte und unerträgliche Leben, denn in der Verzweiflung, in die Sie mich hinabstürzen, wird der Tod für mich eine Gnade sein. Er ist ein Geschenk, das der Hand eines Vaters würdig ist.«

»Ich würde dir nur geben, was du verdienst«, erwiderte er. »Ich kenne genug Väter, die nicht solange gezaudert hätten, selbst der Henker zu sein. Aber gerade meine übermäßige Güte hat dich ins Unglück gestürzt.«

Ich warf mich vor ihm auf die Knie. »Ach, wenn Sie noch ein wenig davon bewahrt haben,« flehte ich, indem ich seine Knie umschlang, »dann verhärten Sie sich nicht gegen meine Tränen. Bedenken Sie, daß ich Ihr Sohn bin ... Ach, und erinnern Sie sich meiner Mutter. Sie liebten sie so zärtlich! Hätten Sie es gelitten, wenn man sie Ihren Armen entrissen hätte? Sie würden sie bis zum Tode verteidigt haben. Haben nicht andere Menschen auch ein Herz wie Sie? Kann man von Stein sein, wenn man einmal empfunden hat, was Liebe und Schmerz ist?«

»Sprich mir nicht mehr von deiner Mutter«, entgegnete er mit gereizter Stimme. »Diese Erinnerung erregt meinen Unwillen. Sie wäre sicher vor Schmerz gestorben, wenn sie deine Ausschweifungen noch erlebt hätte. Beenden [237] wir diese Unterredung«, fügte er hinzu. »Sie ist mir lästig und wird mich nicht in meinem Entschluß wankend machen. Ich kehre in meine Wohnung zurück und befehle dir, mir zu folgen.«

Der harte und trockene Ton, in dem er diesen Befehl aussprach, zeigte mir, daß sein Herz unbeugsam war. Ich wich einige Schritte zurück, aus Besorgnis, er möchte Lust bekommen, mich mit eigener Hand festzuhalten.

»Vermehren Sie nicht meine Verzweiflung«, sagte ich, »indem Sie mich zwingen, Ihnen ungehorsam zu sein. Es ist mir unmöglich, Ihnen zu folgen. Ebensowenig kann ich weiterleben, nachdem Sie mich so hart behandelt haben. Darum sage ich Ihnen auf ewig Lebewohl. Vielleicht werden Sie«, fügte ich traurig hinzu, »wieder für mich die Gefühle eines Vaters empfinden, wenn Sie, wie es bald geschehen wird, meinen Tod erfahren.«

»Du weigerst dich also, mir zu folgen?« schrie er in hellem Zorne, als er sah, wie ich mich umwandte, um zu gehen. »Geh, renne in dein Verderben! Geh, du undankbarer und ungehorsamer Sohn!«

»Lebe wohl«, rief ich in meiner Erregung. »Lebe wohl, unmenschlicher und unnatürlicher Vater!«

Ich verließ sofort das Luxembourg und ging wie ein Wütender durch die Straßen, bis ich an das Haus des Herrn de T*** kam. Unterwegs hob ich die Augen und Arme empor, als wollte ich alle Mächte des Himmels [238] anrufen. »O Himmel,« schrie ich, »bist du denn ebenso unbarmherzig wie die Menschen? Jetzt kann ich mich nur noch auf deine Hilfe verlassen.«

Herr de T*** war noch nicht nach Hause zurückgekommen, aber er erschien, nachdem ich einige Minuten gewartet hatte. Seine Bemühungen waren ebenso erfolglos geblieben wie die meinigen. Er erzählte es mir mit bekümmertem Gesicht. Obgleich der junge G*** M*** weniger wütend auf mich und Manon war als sein Vater, hatte er sich doch geweigert, mit diesem zu unseren Gunsten zu sprechen. Er hatte sich damit verteidigt, daß er selbst vor diesem rachsüchtigen Alten Angst empfände, da dieser ihm schon mit großer Wut die Abmachungen mit Manon vorgeworfen hätte.

So blieb mir also nur die Möglichkeit eines gewaltsamen Vorgehens, wie es mir Herr de T*** vorgeschlagen hatte. Ich setzte meine ganzen Hoffnungen darauf.

»Die Aussichten sind allerdings noch ungewiß«, sagte ich zu ihm. »Aber etwas ist sicher und tröstend, daß ich nämlich, wenn mir das Unternehmen mißlingt, meinen Tod dabei finden werde.«

Ich verließ ihn mit der Bitte, mir mit seinen guten Wünschen zu helfen, und ich verlegte mich jetzt nur noch darauf, Kameraden zu finden, denen ich einen Funken meines Mutes und meiner Entschlossenheit einflößen konnte.

[239] Der erste, an dem ich dabei dachte, war der nämliche Gardist, der mir auch geholfen hatte, G*** M*** festzunehmen. Ich hatte auch die Absicht, die Nacht in seinem Zimmer zu verbringen, da mein Kopf während des Nachmittags zu sehr mit anderen Dingen angefüllt gewesen war, um daran zu denken, mir eine Wohnung zu verschaffen. Ich traf ihn allein, und er freute sich, weil ich wieder aus dem Schloßgefängnis befreit worden sei. Er bot mir herzlich seine Dienste an, und ich erklärte ihm, was ich von ihm wünschte. Er besaß Scharfsinn genug, um alle mit dem Unternehmen verknüpften Schwierigkeiten zu bemerken. Aber er war doch so gefällig, an ihre Bewältigung heranzugehen.

Wir verbrachten einen Teil der Nacht damit, meinen Plan durchzusprechen. Er erwähnte die drei Gardisten, die er auch das letztemal benutzt hatte, als bewährt mutige Menschen. Herr de T*** hatte mir die genaue Zahl der Wachtsoldaten mitgeteilt, die Manon führen sollten. Es waren nur sechs. Fünf mutige und entschlossene Männer genügten, um diese Elenden in Schrecken zu setzen. Denn solche Leute verteidigen sich nicht ernstlich, wenn sie durch die Flucht der Gefahr des Kämpfens entgehen können.

Da es mir nicht an Geld fehlte, riet mir der Gardist, nichts zu sparen, um den Erfolg unseres Angriffs sicherzustellen.

»Wir brauchen Pferde,« sagte er, »Pistolen, und jeder [240] eine Muskete. Ich will es unternehmen, morgen diese Vorbereitungen zu besorgen. Wir brauchen auch Zivilkleider für unsere Soldaten, denn sie würden es nicht wagen, bei einem solchen Abenteuer in der Uniform ihres Regiments zu erscheinen.«

Ich gab ihm nun die hundert Pistolen in die Hände, die ich von Herrn de T*** empfangen hatte, und sie wurden am nächsten Tag bis zum letzten Sou verbraucht. Die drei Soldaten erschienen vor mir, ich feuerte ihren Mut mit großen Versprechungen an, und um ihnen jedes Mißtrauen zu nehmen, begann ich damit, jedem von ihnen zehn Pistolen zu schenken.

Als der Tag der Ausführung kam, schickte ich einen am frühen Morgen zum Arbeitshaus, damit er sich mit eigenen Augen darüber unterrichtete, wann die Wachtsoldaten mit ihrer Beute abreisten. Obgleich ich diese Vorsicht nur aus übergroßer Unruhe und Besorgnis ergriffen hatte, zeigte es sich, daß sie absolut notwendig war. Ich hatte mich auf falsche Erkundigungen, die man mir über ihren Weg gab, verlassen und glaubte, die beklagenswerte Gesellschaft würde in La Rochelle eingeschifft werden. Vergeblich hätte ich sie dann auf dem Wege nach Orleans erwartet. Der Gardist aber teilte mir mit, daß sie den Weg durch die Normandie nähmen, und daß es Havre de Grâce wäre, von wo sie nach Amerika gingen.

Wir begaben uns sofort zum Tor Saint-Honoré, wobei [241] wir darauf achteten, durch verschiedene Straßen zu gehen. Erst am Ausgang des Vororts kamen wir wieder zusammen. Unsere Pferde waren ausgeruht, und bald erblickten wir die sechs Soldaten und die beiden elenden Karren, die Sie ja auch vor zwei Jahren in Passy sahen. Dieser Anblick nahm mir fast meine Kraft und mein Bewußtsein.

»O Schicksal,« rief ich aus, »grausames Schicksal! Nun schenke mir wenigstens den Tod oder den Sieg.«

Wir berieten einen Augenblick, auf welche Weise wir unseren Angriff machen sollten. Die Wachtsoldaten befanden sich kaum vierhundert Schritte vor uns, und wir konnten sie überholen, wenn wir durch ein kleines Feld ritten, um das sich die große Straße herumzog. Der Gardist riet, diesen Weg zu nehmen, um sie zu überraschen und plötzlich auf sie einzudringen. Ich billigte seine Absicht und war der erste, mein Pferd anzuspornen. Aber das Schicksal stellte sich erbarmungslos meinen Wünschen entgegen.

Die Wachtsoldaten zweifelten, als sie fünf Reiter auf sich zurennen sahen, nicht daran, daß wir sie angreifen wollten. Sie setzten sich in Verteidigung, indem sie ihre Bajonette aufsteckten und mit entschlossenen Mienen ihre Gewehre fertigmachten.

Dieser Anblick, der den Gardisten und mich nur anfeuerte, nahm unseren drei Gefährten plötzlich ihren Mut. Sie hielten wie auf Verabredung an, und nachdem sie [242] sich einige Worte zugerufen hatten, die ich nicht verstand, warfen sie ihre Pferde herum, um mit verhängten Zügeln wieder den Weg nach Paris einzuschlagen.

»Himmel,« rief der Gardist, der über diese schändliche Desertion ebenso bestürzt zu sein schien wie ich, »was sollen wir jetzt anfangen? Wir sind nur zu zwei.«

Ich hatte vor Wut und Verblüffung die Sprache verloren und hielt an, wobei ich schwankte, ob es nicht meine erste Rache sein müßte, die Feiglinge zu verfolgen, die uns verlassen hatten. Ich sah sie fliehen und richtete dann meine Augen nach der anderen Seite der Wachtsoldaten. Wäre es mir möglich gewesen, mich zu teilen, ich hätte mich zu gleicher Zeit auf die beiden Gegenstände meiner Wut gestürzt, um sie alle zu verschlingen.

Der Gardist, der an den verwirrten Bewegungen meiner Augen meine Unentschlossenheit erkannte, bat mich seinen Rat anzuhören.

»Da wir nur zu zwei sind,« sagte er zu mir, »so wäre es ein Wahnsinn, sechs Mann anzugreifen, die ebenso gut bewaffnet sind wie wir, und die uns festen Fußes zu erwarten scheinen. Wir müssen nach Paris zurückkehren und versuchen, bessere Begleiter zu finden. Die Wachtsoldaten werden mit ihren schweren Karren nur langsam vorwärts kommen, so daß wir sie morgen ohne Mühe erreichen können.«

Einen Augenblick dachte ich über diesen Vorschlag nach, [243] da ich aber auf allen Seiten nur Gründe zur Verzweiflung sah, faßte ich einen wirklich verzweifelten Entschluß, nämlich, mich von dem Gardisten zu verabschieden. Und, statt die Wachtsoldaten anzugreifen, wollte ich sie unterwürfig bitten, mich in ihre Gesellschaft aufzunehmen, damit ich Manon bis Havre de Grâce begleiten und dann mit ihr über das Meer fahren konnte.

»Die ganze Welt verfolgt oder verrät mich«, sagte ich zu dem Gardisten. »Ich kann mich auf niemand mehr verlassen. Ich erwarte nichts mehr, weder vom Schicksal noch von der Hilfe der Menschen. Mein Unglück ist auf seinen höchsten Punkt gestiegen, mir bleibt nichts mehr, als mich ihm zu unterwerfen, und so entsage ich nun jeder Hoffnung. Möge doch der Himmel Ihren Edelmut belohnen! Leben Sie wohl, ich will meinem bösen Schicksal helfen, meinen Untergang zu vollenden, indem ich mich freiwillig hineinstürze.«

Vergebens bemühte er sich, mich zur Rückkehr nach Paris zu bewegen. Ich bat ihn, mich meinen Beschluß ausführen zu lassen, und auf der Stelle seines Weges zu gehen, damit die Wachtsoldaten nicht fortführen, uns Angriffspläne zuzuschreiben.

In langsamem Schritt ritt ich allein auf sie zu, und mein Gesicht war so traurig, daß sie nichts Erschreckendes in meiner Annäherung sehen konnten. Trotzdem bewahrten sie ihre Verteidungsstellung.

[244] »Beruhigen Sie sich, meine Herren«, rief ich ihnen zu, indem ich an sie herantrat. »Ich bringe Ihnen nicht den Krieg, sondern ich will Sie um eine Vergünstigung bitten.«

Dann bat ich sie, ohne Besorgnis ihren Weg fortzusetzen, und erzählte ihnen unterwegs, was ich von ihnen wünschte.

Sie überlegten, wie sie diesen Vorschlag aufnehmen sollten. Der Anführer der Truppe ergriff für die andern das Wort und antwortete mir, sie hätten Befehle, ihre Gefangenen aufs strengste zu überwachen; da ich ihnen aber ein netter Mann zu sein schiene, so wollten er und seine Gefährten ein wenig ihre Pflichten lockern. Aber ich müßte auch begreifen, daß mich das etwas kosten würde. Ich besaß gerade noch fünfzehn Pistolen und erzählte ihnen offen, worin mein ganzer Geldvorrat bestände.

»Nun gut,« sagte der Wachtsoldat, »wir werden anständig gegen Sie sein. Es soll Sie nur einen Taler für die Stunde kosten, um sich mit dem Mädchen, das Ihnen am besten gefällt, zu unterhalten. Das ist der gebräuchliche Preis in Paris.«

Ich hatte zu ihnen noch nicht über Manon im besonderen gesprochen, denn ich wollte nicht, daß sie von meiner Liebe etwas erfahren sollten. Sie glaubten auch zunächst, es handelte sich bei mir nur um die Laune eines jungen Menschen, der sich bei diesen Geschöpfen etwas Zeitvertreib [245] suchen wollte. Als sie dann aber zu bemerken glaubten, daß ich verliebt sei, erhöhten sie ihre Forderungen so, daß meine Börse schon völlig leer war, als wir von Mantes aufbrachen, wo wir einen Tag vor unserer Ankunft in Passy übernachteten.

Muß ich Ihnen sagen, was der traurige Gegenstand meiner Unterredungen mit Manon während des Marsches war, oder welchen Eindruck ihr Anblick auf mich machte, als ich von den Wachtsoldaten die Erlaubnis erhalten hatte, an ihren Karren heranzureiten? Ach, meine Worte können kaum die Hälfte meines Fühlens wiedergeben! Aber stellen Sie sich meine arme Geliebte vor, eine Kette um die Taille geschlungen, sitzend auf einigen Bündeln Stroh. Ihr Haupt lehnte traurig gegen eine Seite des Wagens, das Gesicht war bleich und von Tränen überströmt, die durch ihre Wimpern hervordrangen, obgleich sie andauernd die Augen geschlossen hielt. Sie hatte nicht einmal die Neugierde gehabt, sie zu öffnen, als sie den Lärm der Wachtsoldaten hörte, die sich angegriffen glaubten. Ihre Wäsche war schmutzig und unordentlich, ihre zarten Hände waren den Unbilden der Luft ausgesetzt, und ihre ganze reizende Gestalt, ihr Körper, der die ganze Welt zur Anbetung hätte verführen können, er erschien in einer Entstellung und Erniedrigung, die ich nicht beschreiben kann.

Ich verwandte einige Zeit, um sie zu betrachten, indem [246] ich neben dem Karren herritt. Dabei war ich so von Sinnen, daß ich ein paarmal nahe daran geriet, einen gefährlichen Fall zu tun. Meine häufigen Seufzer und Ausrufe bewirkten schließlich, daß sie mir einen Blick zuwarf. Sie erkannte mich, und ich bemerkte, daß sie sich in der ersten Erregung aus dem Wagen stürzen wollte, um zu mir zu kommen. Da sie aber durch ihre Kette zurückgehalten wurde, sank sie wieder in ihre frühere Haltung zurück.

Ich bat die Soldaten, einen Moment aus Mitgefühl halten zu lassen, und sie stimmten mir habgierig zu. Ich stieg von meinem Pferd herab, um mich neben sie zu setzen. Sie war so hinfällig und schwach, daß es lange Zeit dauerte, ehe sie sich ihrer Sprache bedienen oder auch nur ihre Hände bewegen konnte. Ich bedeckte diese inzwischen mit meinen Tränen, und so saßen wir beide, ohne daß wir auch nur ein Wort hervorbringen konnten, in der traurigsten Lage da, die es wohl je gegeben hat. Aber auch unsere Worte waren, als wir dann endlich die Sprache wiedergefunden hatten, nicht weniger traurig. Manon sagte nicht viel. Es schien, als hätten Schande und Schmerz ihre Stimmorgane verändert. Der Klang war schwach und zitternd.

Sie dankte mir, weil ich sie nicht vergessen hatte, und dann auch für die Freude, die ich ihr verschaffte, indem ich ihr gestattete, wie sie sich seufzend ausdrückte, mich wenigstens noch einmal zu sehen und mir ein letztes Lebewohl [247] zu sagen. Als ich ihr aber versicherte, daß nichts imstande wäre, mich von ihr zu trennen, und daß ich mich entschlossen hätte, ihr bis an das Ende der Welt zu folgen, um für sie zu sorgen und ihr zu dienen, um sie zu lieben und mein elendes Schicksal untrennbar an das ihrige zu knüpfen, da überließ sich das arme Mädchen so zärtlichen und schmerzlichen Empfindungen, daß ich infolge ihrer heftigen Gemütsbewegung für ihr Leben fürchtete.

Alle Regungen ihrer Seele schienen sich in ihren Augen zusammenzudrängen. Sie hielt sie immerzu auf mich gerichtet. Manchmal öffnete sie den Mund, ohne aber die Kraft zu finden, die Worte, die sie sagen wollte, zu vollenden. Trotzdem entschlüpften ihr einige. Es waren Äußerungen der Bewunderung über meine Liebe, zärtliche Vorwürfe über deren Übermaß, Zweifel daran, ob sie auch das Glück verdiene, mir eine solche vollkommene Liebe eingeflößt zu haben, Ermahnungen, doch die Absicht, ihr zu folgen, aufzugeben und anderswo ein meiner würdiges Glück zu suchen, da sie, wie sie mir sagte, mir wohl kaum ein solches Glück schenken könnte.

Trotz meinem unendlich traurigen Geschick fand ich meine Seligkeit in ihren Blicken und in der Gewißheit, von ihr geliebt zu werden. Ich gebe zu, daß ich alles verloren hatte, was die Menschen sonst zu schätzen pflegen, aber ich besaß das Herz der Manon, das einzige Gut, an dem mir gelegen war. Ob ich in Europa oder in Amerika [248] oder weiß Gott an welchem Ort der Welt lebte, war ich nicht überall sicher, glücklich zu sein, wenn ich nur mit meiner Geliebten zusammenlebte? Ist nicht die ganze Welt für zwei sich treu Liebende ein Vaterland? Ersetzen sie sich nicht gegenseitig Vater, Mutter, Verwandte, Freunde, Reichtümer und Glücksgüter?

Wenn mir etwas Unruhe verursachte, so war es die Furcht, Manon dem Mangel der Armut ausgesetzt zu sehen. Ich sah mich schon mit ihr in einem unbebauten und von Wilden bewohnten Lande.

»Aber ganz gewiß«, sagte ich zu mir, »wird es unter ihnen nicht so grausame Menschen geben, wie es G*** M*** und mein Vater sind. Sie werden uns wenigstens in Frieden leben lassen. Wenn die Berichte, die man über sie gibt, der Wahrheit entsprechen, dann folgen sie den Gesetzen der Natur. Sie kennen weder den wütenden Geiz, von dem G*** M*** verzehrt wird, noch die übertriebenen Ehrbegriffe, die mich mit meinem Vater verfeindet haben. Sie werden zwei Liebende nicht beunruhigen, die ein ebenso einfaches Leben führen wie sie selbst.«

In dieser Hinsicht fühlte ich mich vollkommen beruhigt, aber ich machte mir weniger romantische Vorstellungen über allgemeine Bedürfnisse des alltäglichen Lebens. Ich hatte es nur zu oft erfahren, daß es unabweisbare Notwendigkeiten gibt, besonders für eine zarte Frau, die sich an ein bequemes und üppiges Leben gewöhnt hat. Ich [249] war verzweifelt, weil ich so unnütz mein Geld verschwendet hatte, und weil das wenige, was mir noch blieb, nahe daran war, mir durch die spitzbübischen Wachtmannschaften genommen zu werden. Ich begriff, daß ich in Amerika, wo das Geld noch selten ist, mit einer kleinen Summe nicht nur hätte hoffen können, mich eine Zeitlang zu halten, sondern auch ein Unternehmen von dauerndem Bestand zu begründen.

Diese Erwägung brachte mich auf den Gedanken, an Tiberge zu schreiben, den ich immer so schnell bereitgefunden hatte, mir seine Freundeshilfe zu schenken. Ich schrieb an ihn von der ersten Stadt aus, wo wir hielten. Ich teilte ihm mit, daß ich Manon nach Havre de Grâce begleiten würde, und gab ihm keinen anderen Grund an für meine Bitte als die drückende Not, in der ich mich, wie ich voraussah, dort befinden müßte. Ich bat ihn um hundert Pistolen.

»Laß sie den Postmeister in le Havre für mich bereithalten«, schrieb ich ihm. »Du siehst, es ist das letztemal, daß ich mich an deine Liebe wende. Aber, da meine unglückliche Geliebte mir für immer geraubt wird, kann ich sie nicht abreisen lassen, ohne einige Tröstungen, die ihr Schicksal und meinen unendlichen Schmerz mildern.«

Die Wachtsoldaten wurden, als sie die Heftigkeit meiner Leidenschaft erkannt hatten, so widerwärtig, daß sie fortwährend den Preis ihrer geringsten Vergünstigungen [250] verdoppelten und mich bald in den äußersten Mangel versetzten. Übrigens gestattete mir ja auch meine Liebe nicht, meine Börse zu schonen. Vom Morgen bis zum Abend vergaß ich alles andere neben Manon, und nicht mehr stundenweise wurde mir die Zeit zugemessen, sondern nach der Länge der ganzen Tage.

Endlich war meine Börse ganz geleert, und ich fand mich nun den Launen und Roheiten dieser sechs Elenden ausgeliefert, die mich mit einer unerträglichen Anmaßung behandelten. Sie waren ja selbst in Passy Zeuge davon. Das Zusammentreffen mit Ihnen war ein glücklicher Moment der Erholung, den mir das Schicksal gewährte. Ihr Mitleid beim Anblick meiner Qualen war das einzige, was mich Ihrem edelmütigen Herzen empfahl. Dank der Hilfe, die Sie mir so freigebig gewährten, gelang es mir, le Havre zu erreichen, und die Wächter hielten ihr Versprechen aufrichtiger, als ich es gehofft hatte.

Als wir in le Havre ankamen, ging ich sofort zur Post, aber Tiberge hatte noch nicht Zeit gehabt, mir zu antworten. Ich erkundigte mich, an welchem Tag wohl seine Antwort ankommen könnte. Sie konnte erst zwei Tage später eintreffen, und infolge einer seltsamen Fügung meines unglückseligen Geschicks war der Tag, an dem ich die Post erwarten durfte, gerade derselbe, an dem des Morgens unser Schiff abfahren sollte. Sie können sich meine Verzweiflung nicht vorstellen.

[251] »Wie!« rief ich aus. »Muß ich denn gerade noch im Unglück selbst immer mit dem vollsten Maß überschüttet werden?«

»Ach,« antwortete Manon, »verdient ein so unglückliches Leben, daß wir uns deswegen noch so viele Sorgen machen? Laß uns in Havre sterben, mein teurer Chevalier. Mag der Tod mit einem Schlag all unserem Elend ein Ende setzen. Sollen wir es noch in ein unbekanntes Land hinüberschleppen, wo uns zweifellos schreckliche Qualen erwarten, da man mich sonst nicht zur Strafe hinschicken würde? Sterben wir,« sagte sie noch einmal, »oder töte mich wenigstens allein und suche dir in den Armen einer glücklicheren Geliebten ein besseres Geschick.«

»Nein, nein«, rief ich aus. »An deiner Seite unglücklich zu sein, selbst das ist für mich noch ein beneidenswertes Schicksal.«

Ihre Worte ließen mich erzittern, denn sie zeigten mir, wie niedergeschlagen sie durch ihre Leiden war. Ich bemühte mich, eine ruhige Miene zu zeigen, um sie den trüben Gedanken an Tod und Verzweiflung zu entreißen. Ich beschloß, mich auch in Zukunft so zu verhalten, und ich habe später erfahren, daß nichts einer Frau soviel Mut einflößen kann, als die Unerschrockenheit eines von ihr geliebten Mannes.

Als ich die Hoffnung, durch Tiberge Hilfe zu bekommen, aufgegeben hatte, verkaufte ich mein Pferd. Das [252] Geld, das ich dafür bekam, machte mit dem, was mir noch von Ihrer Freigebigkeit übriggeblieben war, die kleine Summe von siebzehn Pistolen. Sieben davon verwendete ich zum Ankauf einiger für Manon notwendiger Bequemlichkeiten, die anderen zehn bewahrte ich sorgfältig auf als Grundlage unseres Lebensglücks und unserer Hoffnungen in Amerika.

Ich hatte keine Mühe, auf dem Schiff aufgenommen zu werden, denn man suchte damals junge Menschen, die sich freiwillig der Kolonie anschließen wollten. Überfahrt und Beköstigung wurden mir kostenlos bewilligt. Da am nächsten Tage die Post nach Paris abgehen sollte, hinterließ ich einen Brief für Tiberge. Er war rührend geschrieben und muß ihn wohl aufs tiefste ergriffen haben, denn er veranlaßte ihn zu einem Entschluß, der nur aus einer unendlichen Tiefe an Liebe und Hochherzigkeit für einen unglücklichen Freund kommen konnte.

Wir gingen unter Segel, und der Wind war uns ständig günstig. Ich erhielt vom Kapitän für Manon und mich einen abgesonderten Raum, denn er hatte die Güte, uns mit anderen Augen anzusehen als den Durchschnitt unserer elenden Gefährten. Ich hatte ihn schon am ersten Tag beiseitegenommen und, um ihn für mich zu interessieren, ihm einen Teil meiner Unglücksfälle erzählt. Ich glaubte nicht, mich einer schändlichen Lüge schuldig zu machen, indem ich ihm erzählte, daß ich mit Manon verheiratet [253] sei. Er tat, als ob er es glaubte, und nahm mich in Schutz. Er zeigte mir dies während der ganzen Reise, er ließ mir ein anständiges Essen zukommen, und die Rücksicht, die er uns erwies, dienten dann auch dazu, daß unsere Leidensgefährten ebenfalls Achtung vor uns hegten.

Ich achtete fortwährend darauf, daß Manon nicht das geringste Unbehagen erlitt. Sie bemerkte das wohl, und diese Erkenntnis in Verbindung mit dem lebhaften Gefühl, in welche schlimme Lage ich mich um ihretwillen begeben hatte, machte sie so zärtlich und liebevoll, und auch so aufmerksam auf meine geringsten Bedürfnisse, daß zwischen ihr und mir ein beständiger Wettstreit an Gefälligkeiten und Liebesbezeugungen stattfand. Ich sehnte mich nicht mehr nach Frankreich. Im Gegenteil, je mehr wir uns Amerika näherten, um so mehr fühlte ich mein Herz frei und ruhig werden. Wenn nicht die Sorgen um die Notwendigkeiten des Lebensunterhaltes gewesen wären, ich hätte meinem Schicksal gedankt, daß es unserem Unglück eine so günstige Wendung gegeben hatte.

Nach einer Seefahrt von zwei Monaten langten wir endlich an dem ersehnten Gestade an. Auf den ersten Anblick bot das Land nichts Angenehmes. Es bestand aus einer öden und unbewohnten Ebene, auf der man kaum etwas Schilf und einige durch den Wind entblätterte Bäume sah. Von Menschen oder Tieren war keine Spur zu sehen. Als aber der Kapitän ein paar Kanonenschüsse [254] hatte abfeuern lassen, dauerte es nicht lange, bis wir einen Trupp Einwohner aus Neuorleans sahen, die sich mit allen Anzeichen der Freude näherten. Wir hatten die Stadt, die sich in einem kleinen Seitental verbirgt, noch nicht gesehen. Wir wurden empfangen, als wären wir vom Himmel gekommene Menschen.

Diese armen Bewohner überschütteten uns mit tausend Fragen über die Zustände in Frankreich und über die verschiedenen Provinzen, in denen sie geboren waren. Sie umarmten uns wie Brüder und teuere Gefährten, die mit ihnen ihr Elend und ihre Einsamkeit teilen wollten. In ihrer Begleitung schlugen wir den Weg zur Stadt ein, waren aber überrascht, als wir beim Weitergehen entdeckten, daß das, was man uns bis jetzt als eine schöne Stadt ausgemalt hatte, nichts als ein Haufen elender Hütten war. Im ganzen wohnten dort fünf- oder sechshundert Personen. Das Haus des Gouverneurs schien sich durch seine Größe und Lage etwas hervorzuheben. Es war durch einige Erdwälle geschützt, um die sich ein breiter Graben zog.

Wir wurden ihm nun zunächst vorgestellt. Er unterhielt sich lange Zeit im geheimen mit dem Kapitän, und als er wieder kam, betrachtete er nacheinander die einzelnen Mädchen, die mit dem Schiff angekommen waren. Es waren ihrer dreißig, denn wir hatten in le Havre einen anderen Trupp vorgefunden, der sich mit dem [255] unsrigen vereinte. Als der Gouverneur sie sorgfältig betrachtet hatte, ließ er verschiedene junge Leute aus der Stadt kommen, die sich nach dem Besitz einer Frau sehnten. Die hübschesten verschenkte er an die Angesehensten davon, und die übrigen wurden durch das Los verteilt. Mit Manon hatte er noch nicht gesprochen, aber, indem er den anderen befahl, fortzugehen, ließ er sie und mich zurückbleiben.

»Ich höre vom Kapitän,« sagte er zu uns, »daß Sie verheiratet sind, und daß er Sie auf der Reise als Leute von Bildung und Verstand kennengelernt hat. Ich will auf die Ursachen, die Sie ins Unglück gestürzt haben, nicht eingehen; wenn Sie wirklich so viel Lebensart haben, wie es Ihre ganze Erscheinung verspricht, so werde ich es an nichts fehlen lassen, Ihr Schicksal zu erleichtern, und rechne dabei sogar, daß auch Sie dazu beitragen, mir den Aufenthalt an diesem wilden und verlassenen Ort angenehmer zu machen.«

Ich antwortete ihm in einer Art, wie ich sie für die geeignetste hielt, seine Ansicht über uns zu bestärken. Er gab einige Anweisungen, uns eine Wohnung in der Stadt vorzubereiten, und hielt uns dann bei sich zum Souper. Ich fand, daß er für ein Oberhaupt unglücklicher Verbannter sehr viel Lebensart besaß. Er stellte keine direkten Fragen an uns über den Grund unseres Unglücks. Die Unterhaltung verlief in gefälliger Form, und trotz unserer [256] Traurigkeit bemühten wir uns, Manon und ich, sie ihm so angenehm wie möglich zu machen.

Gegen Abend ließ er uns in die Wohnung führen, die er für uns zurechtgemacht hatte. Wir fanden eine elende, aus Brettern und Lehm errichtete Hütte, die zwei oder drei Zimmer im Erdgeschoß und darüber einen Dachboden enthielt. Er hatte auch sechs Stühle und das zum Leben Notwendigste hineinschaffen lassen.

Manon schien beim Anblick einer so traurigen Behausung erschrocken zu sein, und zwar härmte sie sich mehr um meinetwegen ab als um ihrer selbst wegen. Als wir allein waren, setzte sie sich hin und begann bitterlich zu weinen. Ich versuchte zunächst, sie zu trösten. Als sie mir aber zu verstehen gab, daß sie nur mich beklagte und nur das an unseren gemeinsamen Leiden beachtete, was ich durchzumachen hatte, stellte ich mich recht mutig und sogar froh, um sie ebenso zu stimmen.

»Worüber soll ich mich denn beklagen?« fragte ich sie. »Ich besitze alles, was ich wünsche. Du liebst mich doch, nicht wahr? Habe ich mich denn jemals nach einem anderen Glück gesehnt? Überlaß nur ruhig dem Himmel die Sorge um unser Geschick, ich finde es gar nicht so verzweifelt. Der Gouverneur ist ein höflicher Mann. Er hat uns mit Auszeichnung behandelt und wird nicht dulden, daß es uns am Nötigsten fehlt. Was nun den ärmlichen Zustand unserer Hütte und unserer Möbel angeht, so hast [257] du doch wohl schon bemerken können, daß hier wenige Leute besser eingerichtet zu sein scheinen. Und dann bist du ja eine wunderbare Alchimistin«, fügte ich hinzu, indem ich sie umarmte. »Du verwandelst alles in Gold.«

»Dann wirst du also der reichste Mensch von der Welt sein«, antwortete sie mir. »Denn, wie es niemals eine solche Liebe wie die deinige gegeben hat, so ist es auch unmöglich, daß jemand so zärtlich geliebt wird wie du. Ich will gerecht gegen mich sein«, fuhr sie fort. »Ich weiß wohl, daß ich die erstaunliche Anhänglichkeit, die du für mich fühlst, nicht verdient habe. Ich habe dir Kummer verursacht, den du mir ohne deine unendliche Güte nie hättest verzeihen können. Ich war leichtsinnig und flatterhaft, und selbst, indem ich dich so wahnsinnig liebte, wie ich es immer tat, war ich doch undankbar. Aber du könntest es nicht glauben, wie sehr ich mich verändert habe. Meine Tränen, die du seit unserer Abreise aus Frankreich so oft hast fließen sehen, habe ich nicht ein einziges Mal wegen meines Unglücks vergossen. Dieses Unglück habe ich nicht mehr gefühlt, seitdem du es mit mir teiltest. Ich habe nur aus Liebe und Mitgefühl für dich geweint, und ich kann mich nicht darüber trösten, daß ich dich auch nur ein einziges Mal in meinem Leben habe betrüben können. Unaufhörlich werfe ich mir meine Untreue vor, und mit Bewunderung sehe ich, was deine Liebe für eine Unglückliche getan hat, die deiner gar nicht würdig war, und [258] die«, so fügte sie mit überströmenden Tränen hinzu, »mit all ihrem Blut auch nicht die Hälfte der Schmerzen wieder gutmachen könnte, die sie dir verursacht hat.«

Ihre Tränen, ihre Worte und der Ton, in dem sie dieses sprach, machten auf mich einen so erstaunlichen Eindruck, daß es mir war, als würde mein Herz auseinander gerissen.

»Sei still,« sagte ich zu ihr, »sei still, meine liebe Manon. Ich habe nicht Kraft genug, um so starke Zeichen deiner Liebe zu ertragen. Ich bin an ein solches Übermaß von Freude nicht gewöhnt. Oh, mein Gott!« rief ich aus, »nun erbitte ich nichts mehr von dir. Ich weiß, daß mir Manons Herz gehört. Das ist das, was ich ersehnt habe, um glücklich zu sein, und ich kann jetzt nicht mehr aufhören, es zu sein. Mein Glück ist für immer gesichert.«

»Das soll es sein,« stimmte sie zu, »soweit es von mir abhängen kann, und ich weiß auch, wo ich immer das meinige finden kann.«

Mit diesen wundervollen Gedanken, die meine Hütte in einen des ersten Königs der Welt würdigen Palast umwandelten, legte ich mich zur Ruhe. Amerika erschien mir jetzt als ein Ort des Entzückens.

»Man muß nach Neuorleans kommen,« sagte ich immer wieder zu Manon, »wenn man die ganze Süßigkeit der Liebe kosten will. Hier liebt man sich ohne Eigennutz, ohne Eifersucht, ohne Untreue. Unsere Landsleute [259] kommen hierher, um Gold zu suchen, sie ahnen nicht, daß wir viel kostbarere Schätze gefunden haben.«

Wir pflegten aufs sorgfältigste die Freundschaft des Gouverneurs. Einige Wochen nach unserer Ankunft hatte er die Güte, mir einen kleinen Posten zu geben, der im Fort frei wurde. Obgleich es nichts Hervorragendes war, nahm ich ihn doch wie ein Glück vom Himmel an, denn er erlaubte mir, zu leben, ohne jemand zur Last zu fallen. Ich nahm einen Diener für mich und ein Mädchen für Manon. Unsere Geldverhältnisse kamen so in einen geregelten Zustand, meine Lebenshaltung war gesichert und die Manons nicht minder. Wir ließen uns keine Gelegenheit entgehen, unseren Nachbarn Dienste zu erweisen und Gutes zu tun. Dieses gefällige Verhalten und die Freundlichkeit unseres Benehmens verschaffte uns das Vertrauen und die Liebe der ganzen Kolonie. Wir waren nach kurzer Zeit so angesehen, daß wir für die ersten Leute der Stadt nach dem Gouverneur galten.

Unsere unschuldige Lebensweise und die Ruhe, in der wir uns immerfort befanden, machten, daß wir uns unmerklich wieder religiösen Ideen zuwandten. Manon war niemals ein unfrommes Mädchen gewesen, und ich gehörte auch nicht zu den ruchlosen Spöttern, die sich einen Ruhm daraus machen, zu ihrer sittlichen Verkommenheit noch den Abfall vom Glauben hinzuzufügen. Nur die Liebe und unsere Jugend hatten uns zu unseren Ausschweifungen [260] verführt. Aber die Erfahrung ersetzte uns das fehlende Alter, sie gab uns, was uns sonst nur die Jahre gegeben hätten. Unsere Unterhaltungen, die immer sehr besonnen waren, führten uns unmerklich zu einer Sehnsucht nach einer tugendhaften Liebe. Ich war der erste, der Manon diese Veränderung vorschlug. Ich kannte die Hauptzüge ihres Wesens, sie war offen und ehrlich in allen ihren Empfindungen, eine Eigenschaft, die stets zur Tugend führt. Ich gab ihr zu verstehen, daß etwas unserem Glück fehlte.

»Das ist«, sagte ich zu ihr, »der Segen des Himmels zu unserem Bund. Wir haben beide eine zu edle Seele und ein zu gut geartetes Herz, um freiwillig in Pflichtvergessenheit zu leben. Mögen wir auch in Frankreich so gelebt haben, wo es uns in gleichem Maße unmöglich war, uns nicht mehr zu lieben und eine legitime Ehe zu schließen. Hier in Amerika aber, wo wir nur von uns selbst abhängig sind, wo wir uns um willkürliche Gesetze des Ranges und der gesellschaftlichen Schicklichkeit nicht zu kümmern brauchen, und wo man uns schon verheiratet glaubt, wer hindert uns da, es auch wirklich zu sein und unserer Liebe durch das von der Religion vorgeschriebene Gelübde eine höhere Weihe zu geben? Was mich angeht,« fügte ich hinzu, »so gebe ich dir nichts Neues, wenn ich dir mein Herz und meine Hand anbiete, aber ich bin bereit, diese Gabe am Fuße des Altars noch einmal zu bekräftigen.«

[261] Ich sah, wie meine Worte sie mit Freude erfüllten. »Glaubst du denn nicht,« erwiderte sie, »daß ich, seit wir in Amerika sind, nicht schon tausendmal dasselbe gedacht habe? Die Furcht, dir zu mißfallen, hat mich veranlaßt, meinen Wunsch im Herzen zu verschließen. Ich bin nicht so anmaßend, nach der Stellung deiner Gattin zu streben.«

»Ach, Manon,« sagte ich, »du würdest bald die eines Königs sein, wenn mich der Himmel als Erben einer Krone hätte zur Welt gebracht. Darum wollen wir nicht länger zögern, denn wir haben kein Hindernis zu erwarten. Ich will schon heute mit dem Gouverneur sprechen und ihm eingestehen, daß wir ihn bis jetzt getäuscht haben. Mögen die gewöhnlichen Liebenden«, fügte ich hinzu, »die unauflöslichen Fesseln der Ehe fürchten. Sie würden sie nicht fürchten, wenn sie wie wir beide sicher wären, immer nur die Fesseln der Liebe zu tragen.«

Ich ließ Manon nach dieser Erklärung auf dem Gipfel des Glücks zurück.

Ich bin überzeugt, daß es keinen anständigen Mann auf der Welt gibt, der nicht meine Absichten gebilligt hätte, besonders unter den Umständen, in denen ich mich befand, mit einer verhängnisvollen Leidenschaft im Herzen, die ich nicht besiegen konnte, und verzehrt von Gewissensbissen, die ich nicht ersticken konnte. Aber würde sich auch wohl einer finden, der meine Klagen ungerecht [262] nennt, wenn ich über die Härte des Himmels seufze, womit dieser eine Absicht durchkreuzte, die ich nur ihm zu Gefallen gehegt hatte? Ach, was sage ich? Durchkreuzen? Nein, er hat sie wie ein Verbrechen bestraft. Er hat mich geduldig gewähren lassen, solange ich blind über die Straße des Lasters zog, und mit seinen härtesten Züchtigungen hielt er zurück, bis ich anfing, zur Tugend zurückzukehren. Ich weiß nicht, ob ich noch genügend Kraft habe, um meinen Bericht über das traurigste Ereignis, das je einem Menschen zugestoßen ist, zu Ende zu bringen.

Ich ging nun, wie ich es mit Manon verabredet hatte, zum Gouverneur, um seine Einwilligung zu unserer Eheschließung zu erbitten. Natürlich hätte ich mich wohl gehütet, ihm oder sonst jemand etwas davon zu sagen, wenn ich sicher gewesen wäre, daß sein Feldkaplan, der damals der einzige Priester in der Stadt war, mir diesen Gefallen ohne sein Zutun erwiesen hätte. Da ich aber nicht hoffte, daß er sich zum Schweigen verpflichten würde, so entschloß ich mich, offen vorzugehen.

Der Gouverneur hatte einen Neffen, der Synnelet hieß und ihm unendlich teuer war. Er war ein Mann von dreißig Jahren, tapfer, aber hitzig und leicht aufgebracht. Er war noch unverheiratet. Nun hatte die Schönheit Manons schon am Tage unserer Ankunft einen starken Eindruck auf ihn gemacht, und durch die zahllosen Gelegenheiten, sie während der neun oder zehn Monate, die [263] ich dort war, zu sehen, hatte sich seine Leidenschaft so entflammt, daß er sich heimlich für sie ganz verzehrte. Da er aber ebenso wie sein Onkel und die ganze Stadt überzeugt war, daß wir wirklich verheiratet seien, beherrschte er seine Liebe bis zu dem Maße, daß niemand etwas davon merkte, und verschiedene Male hatte er mir sogar sehr freundschaftlich seine Dienste erwiesen.

Als ich ins Fort kam, traf ich ihn allein mit seinem Onkel, und da ich keinen Grund sah, vor ihm meine Absicht zu verschweigen, so zauderte ich nicht, mich in seiner Gegenwart auszusprechen. Der Gouverneur hörte mich mit seiner gewohnten Güte an. Ich erzählte ihm einen Teil meiner Geschichte, er folgte mir mit Interesse, und als ich ihn dann schließlich bat, der beabsichtigten Eheschließung beizuwohnen, versprach er mir großmütig, alle Kosten des Festes zu tragen. Ich verließ ihn in sehr zufriedener Stimmung.

Eine Stunde später kam der Feldkaplan zu mir. Ich glaubte, er wollte mir einige Belehrungen über die Eheschließung geben, aber nachdem er mich kühl begrüßt hatte, erklärte er mir in kurzen Worten, daß der Herr Gouverneur mir verbiete, daran zu denken, da er andere Absichten mit Manon hätte.

»Andere Absichten mit Manon!« rief ich mit einem eisigen Gefühl im Herzen aus. »Und welche sind das, Herr Feldkaplan?«

[264] Er antwortete mir, ich wüßte doch gut, daß der Gouverneur hier zu gebieten habe, und da man Manon von Frankreich hierher in die Kolonie verschickt habe, so könne er über sie verfügen. Bisher habe er das nicht getan, da er sie verheiratet glaubte. Nun aber, da ich ihm selbst mitgeteilt hätte, daß das nicht der Fall sei, hielte er es für richtig, sie Herrn Synnelet zu geben, der in sie verliebt sei.

Meine Erregung ließ mich jede Vorsicht vergessen. Stolz befahl ich dem Feldkaplan, mein Haus zu verlassen, wobei ich schwur, daß weder der Gouverneur noch Synnelet, noch die ganze Stadt es wagen sollte, an meine Frau oder meine Geliebte, wie sie sie nun nennen wollten, Hand anzulegen.

Sofort teilte ich Manon die verhängnisvolle Botschaft mit, die ich soeben empfangen hatte. Wir kamen zu dem Schluß, daß Synnelet nach meinem Fortgehen den Sinn seines Onkels umgestimmt hätte, und daß dies die Folge einer lange gehegten Leidenschaft sei. Die beiden waren stärker als wir. Wir befanden uns in Neuorleans wie mitten in einem Meer, das heißt, wir waren von der übrigen Welt durch unendliche Entfernungen getrennt. Wohin sollten wir fliehen in einem unbekannten, öden Land, das von wilden Tieren und von ebenso grausamen Wilden erfüllt war? Man achtete mich in der Stadt, aber ich konnte nicht hoffen, das Volk so stark zu meinen[265] Gunsten zu erregen, um dadurch eine ausreichende Hilfe in meiner Not zu erlangen. Dazu hätte ich Geld gebraucht, und ich war arm. Im übrigen wäre auch der Erfolg einer Volkserregung unsicher gewesen, und falls sie uns mißglückte, hätte sie unseren Untergang erst recht besiegelt.

Alle diese Gedanken erwog ich in meinem Kopf und erzählte sie zum Teil Manon. Ich sprach immer neue Pläne aus, ohne daß ich auf ihre Antwort hörte. Ich griff nach einer Idee und warf sie wieder fort, um nach einer anderen zu haschen. Ich redete ganz allein und antwortete laut auf meine eigenen Erwägungen. Schließlich befand ich mich in einer Erregung, die man mit nichts anderem vergleichen könnte, weil sie wohl noch niemals sich ereignet hat.

Manon hielt die Augen auf mich gerichtet, sie beurteilte nach meiner Aufregung die Größe der Gefahr, und obgleich sie mehr für mich fürchtete als für sich selbst, wagte dieses gute Mädchen nicht, auch nur den Mund zu öffnen, um mir ihre Besorgnisse zu sagen.

Nach unendlichen Erwägungen kam ich zu dem Entschluß, den Gouverneur aufzusuchen und mich zu bemühen, ihn durch Anrufung seines Ehrgefühls und durch Erinnerung an meine Ergebenheit und seine Zuneigung zu rühren.

Manon wollte von meinem Fortgehen nichts wissen. [266] »Du gehst in den Tod«, sagte sie mit Tränen in den Augen. »Sie werden dich töten, und nie werde ich dich wiedersehn. Aber ich werde schon vor dir sterben.«

Ich hatte unendliche Mühe, sie von der Notwendigkeit zu überzeugen, daß ich hingehen und daß sie in der Wohnung bleiben müßte. Ich versprach ihr, ich würde in wenigen Augenblicken wieder zurück sein. Ach, sie wußte nicht, und ich wußte es auch nicht, daß auf sie selbst der ganze Zorn des Himmels und die Wut unserer Feinde fallen sollten.

Ich begab mich zum Fort. Der Gouverneur war dort mit seinem Feldkaplan. Um ihn zu rühren, ließ ich mich zu Selbsterniedrigungen herab, die mich vor Scham hätten sterben lassen, wenn ich sie aus einem anderen Grunde auf mich genommen hätte. Ich versuchte es mit allen Gründen, die mit Sicherheit auf ein Herz Eindruck machen mußten, wenn es nicht das eines wilden und grausamen Tigers war.

Dieser Unmensch hatte auf meine Klagen nur zwei Antworten, die er hundertmal wiederholte. Manon, sagte er mir, hinge von ihm ab, und er habe seinem Neffen sein Wort gegeben. Ich war entschlossen, mich bis zum äußersten zu mäßigen, und begnügte mich, zu sagen, ich hätte von meinen Freunden eine zu hohe Meinung, als daß ich glauben könnte, sie wollten meinen Tod, denn darin würde ich eher einwilligen als in den Verlust meiner Geliebten.

[267] Als ich fortging, war ich nur zu sehr davon überzeugt, daß ich von diesem eigensinnigen Alten nichts zu hoffen hätte, denn er würde sich für seinen Neffen tausendmal verdammt haben. Trotzdem verblieb ich bei meinem Plan, bis zum Ende eine ruhige Miene zu bewahren, entschlossen, wenn man die Ungerechtigkeit bis zum äußersten triebe, Amerika eine der blutigsten und schrecklichsten Szenen erleben zu lassen, die die Liebe je hervorgebracht hat.

Auf dem Heimweg überlegte ich gerade die Absicht, als das Schicksal, das meinen Untergang beschleunigen wollte, mir Synnelet in den Weg führte. Zweifellos las er etwas von meinen Gedanken in meinen Blicken. Wie ich schon gesagt habe, war er tapfer, und er kam jetzt auf mich zu.

»Suchen Sie mich nicht?« fragte er mich. »Ich weiß, daß meine Absichten Sie kränken müssen, und ich habe wohl damit gerechnet, von Ihnen gefordert zu werden. Lassen Sie uns sehen, wer von uns beiden der glücklichere sein wird.«

Ich antwortete ihm, er habe recht, und nur der Tod könne unserem Streit ein Ende machen.

Wir entfernten uns etwa hundert Schritte von der Stadt. Wir kreuzten unsere Degen, und ich verwundete und entwaffnete ihn fast zu gleicher Zeit. Er war so wütend über sein Unglück, daß er sich weigerte, um sein Leben zu bitten und auf Manon zu entsagen. Ich hätte [268] vielleicht das Recht gehabt, ihm beides zu gleicher Zeit zu nehmen, aber ein edles Blut verleugnet sich nie. Ich warf ihm seinen Degen zu.

»Beginnen wir von neuem,« sagte ich, »und denken Sie daran, daß kein Pardon gegeben wird.«

Er griff mit unaussprechlicher Wut an, und ich muß gestehen, daß ich nicht sehr geschickt im Fechten war, da ich nur drei Monate in einem Pariser Fechtsaal geübt hatte. Aber die Liebe führte meinen Degen. Synnelet gelang es, mir den Arm völlig zu durchstoßen, aber dabei gab er sich zugleich eine Blöße, und ich versetzte ihm einen solchen Stoß, daß er regungslos zu meinen Füßen hinsank.

Trotz der Freude, die man über den siegreichen Ausgang eines tödlichen Kampfes empfindet, überlegte ich sofort die Folgen dieser Tötung. Für mich war weder Begnadigung noch Aufschub der Strafe zu erwarten. Ich kannte viel zu gut die Zuneigung des Gouverneurs für seinen Neffen, und ich war überzeugt, daß ich das Bekanntwerden dieses Ereignisses keine Stunde überleben würde.

Wie dringend aber diese Befürchtung war, sie war nicht der stärkste Grund zu meiner Beunruhigung. Manon, meine Besorgnisse um sie, ihre eigene Gefahr und die Gewißheit, sie zu verlieren, bedrückten mich so, daß es mir dunkel vor den Augen wurde, und ich den Ort [269] nicht mehr erkennen konnte, wo ich mich befand. Ich beneidete Synnelet um sein Schicksal, ein schneller Tod erschien mir als das einzige Mittel gegen meine Nöte.

Indessen rief gerade dieser Gedanke schnell meine Lebensgeister wieder zurück und befähigte mich, einen Entschluß zu fassen.

»Was!« rief ich aus. »Ich will sterben, um meinen Qualen ein Ende zu machen? Gibt es denn eine schlimmere Qual, als die zu verlieren, die ich liebe? Nein, dulden will ich bis zum Letzten und Schlimmsten, um meine Geliebte zu verteidigen und den Tod bis zu dem Zeitpunkt zu verschieben, wo sich alle Leiden als vergeblich erwiesen haben.«

Ich schlug wieder den Weg in die Stadt ein und kehrte in meine Wohnung zurück. Ich fand Manon halbtot vor Schrecken und Angst, aber meine Ankunft belebte sie. Ich konnte ihr nicht das schreckliche Unglück verhehlen, das sich ereignet hatte. Als sie den Tod Synnelets und meine Verwundung erfuhr, fiel sie ohnmächtig in meine Arme, und ich brauchte mehr als eine Viertelstunde, um sie wieder zur Besinnung zu bringen.

Ich war übrigens selbst halbtot und sah weder für sie noch für mich die geringste Aussicht auf Rettung.

»Manon, was sollen wir anfangen?« fragte ich sie, als sie wieder etwas zu Kräften gekommen war. »Ach, was werden wir tun? Natürlich ist notwendig, daß ich[270] mich fortmache. Willst du in der Stadt bleiben? Ja, bleibe hier, du kannst hier noch glücklich sein, und ich, ich werde fern von dir bei den Wilden oder unter den Klauen der Raubtiere meinen Tod suchen.«

Sie erhob sich trotz ihrer Schwäche, sie nahm mich bei der Hand, um mich nach der Türe zu führen.

»Laß uns zusammen fliehen«, sagte sie zu mir, »und keinen Augenblick verlieren. Der Leichnam Synnelets könnte durch Zufall gefunden werden, und dann hätten wir nicht mehr die Zeit, zu fliehen.«

»Aber, liebe Manon,« fragte ich ganz verwirrt, »wohin sollen wir denn gehen? Siehst du irgendeine Rettung? Ist es nicht besser, wenn du versuchst, hier ohne mich zu leben, während ich freiwillig dem Gouverneur meinen Kopf zur Verfügung stelle?«

Dieser Vorschlag ließ sie nur um so eifriger auf unsere Abreise drängen, ich mußte ihr nachgeben. Doch hatte ich noch genug Geistesgegenwart, beim Fortgehen etwas Branntwein, der sich in meinem Zimmer befand, und so viel Lebensmittel, wie ich nur in meine Taschen stecken konnte, mitzunehmen. Wir sagten unseren Bedienten, die im Nebenzimmer waren, wir machten, wie wir das täglich taten, unseren Abendspaziergang. Und dann entfernten wir uns so eilig aus der Stadt, wie es der zarte Zustand Manons nur erlaubte.

Obgleich ich nun noch immer über die Richtung unserer [271] Flucht ganz unentschlossen war, so besaß ich doch zwei Hoffnungspunkte, ohne die ich den Tod der Ungewißheit von Manons Schicksal vorgezogen hätte. Einmal hatte ich in den fast zehn Monaten, die ich in Amerika weilte, genügend Kenntnisse des Landes erworben, um zu wissen, wie man sich mit den Wilden verständigte. Man durfte sich ruhig in ihre Hände begeben, ohne dadurch einem sicheren Tode entgegenzugehen. Ich hatte sogar einige Worte ihrer Sprache und etwas von ihren Sitten bei den verschiedenen Gelegenheiten, wo ich mit ihnen zu tun hatte, gelernt.

Außer dieser schwachen Hoffnung hegte ich noch eine zweite, nämlich auf die Engländer, die wie wir in diesem Teil der Neuen Welt Niederlassungen besitzen. Aber ich fürchtete mich dabei vor der weiten Entfernung. Wir mußten, um zu ihren Kolonien zu kommen, Sandebenen von mehreren Tagereisen Länge durchschreiten und dann so hohe und steile Gebirge übersteigen, daß der Weg selbst für die abgehärtetsten und stärksten Männer schwierig erschien. Trotzdem hoffte ich, wir könnten beide Möglichkeiten zu unserem Nutzen verwenden: die Wilden, um uns zu führen, und die Engländer, um uns in ihren Besitzungen aufzunehmen.

Wir marschierten so lange, wie nur der Mut Manons sie aufrecht erhalten konnte, nämlich ungefähr zwei Meilen. Denn diese unvergleichliche Geliebte weigerte sich [272] hartnäckig, früher haltzumachen. Erst als sie vor Erschöpfung fast zusammenbrach, gestand sie mir, daß es ihr unmöglich sei, noch weiter vorzudringen. Es war schon dunkel, und wir setzten uns inmitten einer weiten Ebene hin, ohne daß wir einen Baum fanden, der uns Schutz gewährt hätte.

Ihre erste Sorge war, den Verband meiner Wunde zu wechseln, den sie mir selbst vor unserem Fortgehen angelegt hatte. Vergebens widersetzte ich mich ihrem Vorhaben; ich hätte sie tödlich gekränkt, wenn ich ihr nicht die Freude gelassen hätte, mich zuerst behaglich und außer Gefahr zu sehen, ehe wir an ihre eigenen Bedürfnisse dachten. Ich gab ihren Wünschen nach und überließ mich schweigend und beschämt ihrer Fürsorge.

Als sie aber ihrer Zärtlichkeit genug getan hatte, mit welcher Glut betätigte ich nun die meinige! Ich beraubte mich aller Kleider, um sie ihr unterzulegen und ihr die Erde weniger hart zu machen. Ich zwang sie, wider ihren Willen, sich von mir jede nur mögliche Bequemlichkeit bereiten zu lassen. Ihre Hände erwärmte ich durch die Glut meiner Küsse und die Wärme meines Atems. Ich verbrachte die ganze Nacht, indem ich neben ihr wachte und Gott bat, ihr einen sanften und ruhigen Schlaf zu schenken. O Himmel, wie glühend und aufrichtig waren doch meine Wünsche, und welch ein strenges Gericht hast du als Antwort über mich verhängt!

[273] Verzeihen Sie, wenn ich in wenigen Worten einen Bericht beendige, der mich fast tötet. Ich erzähle Ihnen von einem Unglück, wie es niemals seinesgleichen gehabt hat. Mein ganzes Leben hat nur noch den einen Sinn, es zu beweinen. Aber obgleich es immerfort vor meinem Gedächtnis steht, scheint meine Seele jedesmal vor Schrecken zurückzubeben, wenn ich versuche, es zu erzählen.

Wir hatten ruhig einen Teil der Nacht verbracht. Ich glaubte, meine teuere Geliebte sei eingeschlafen, und ich wagte nicht, den leisesten Seufzer auszustoßen, aus Furcht, ihren Schlaf zu beunruhigen. Bei Tagesanbruch bemerkte ich aber, als ich ihre Hände berührte, daß diese kalt waren und zitterten. Ich näherte sie meiner Brust, um sie zu erwärmen. Sie fühlte diese Bewegung, und mit großer Anstrengung ergriff sie die meinigen und sagte mir mit schwacher Stimme, sie glaube, ihre letzte Stunde sei gekommen.

Anfangs hielt ich diese Worte nur für eine Klage über ihr Unglück und antwortete darauf mit zärtlichen Versicherungen meiner Liebe. Aber ihre häufigen Seufzer, ihr Schweigen auf meine Fragen und die Art, wie sie meine Hände drückte, die sie noch immer in den ihrigen hielt, ließen mich erkennen, daß das Ende ihres unglücklichen Lebens bevorstehe.

Verlangen Sie nicht von mir, daß ich Ihnen meine Gefühle beschreibe, noch ihre letzten Worte berichte. Ich habe [274] Manon verloren, aber noch im Augenblick ihres Sterbens empfing ich von ihr Zeichen der Liebe. Das ist alles, was ich Ihnen über dieses furchtbare und traurige Ereignis mitzuteilen vermag.

Meine Seele folgte nicht der ihrigen, der Himmel hielt mich offenbar noch nicht für hart genug bestraft. Er wollte, daß ich von da an ein trauriges und elendes Leben führen sollte, und ich verzichte auch freiwillig darauf, jemals ein glücklicheres zu finden.

Mehr als vierundzwanzig Stunden verharrte ich so, meinen Mund auf das Gesicht und die Hände meiner teuren Manon gedrückt. Meine Absicht war, hier zu sterben, aber beim Beginn des zweiten Tages kam mir der Gedanke, daß ihr Körper nach meinem Hinscheiden dem Schicksal ausgesetzt sei, die Nahrung wilder Tiere zu werden. Ich beschloß daher, sie zu begraben und auf ihrer Gruft meinen Tod zu erwarten. Ich war aber infolge der Erschöpfung, die Nahrungsmangel und Schmerz herbeigeführt hatten, schon so sehr dem Tode nahe, daß ich mich überhaupt nur mit sehr großer Mühe aufrecht erhalten konnte. Ich war gezwungen, mich an dem mitgebrachten Branntwein zu stärken, und er gab mir auch so viele Kraft, daß ich meine traurige Pflicht erfüllen konnte.

Es wurde mir nicht schwer, an dem Platz, wo ich mich befand, die Erde aufzuwühlen, denn ich befand mich auf [275] einer mit Sand bedeckten Ebene. Ich zerbrach meinen Degen, um ihn zum Graben zu benutzen, aber ich kam damit nicht so gut vorwärts wie mit meinen bloßen Händen. Ich machte eine tiefe Grube. Ich legte die Göttin meines Herzens hinein, nachdem ich sie sorgfältig mit meinen Kleidern umhüllt hatte, damit der Sand sie nicht berühren konnte. Ehe ich sie hinlegte, umarmte ich sie tausendmal mit der Glut der leidenschaftlichsten Liebe. Ich setzte mich noch einmal neben sie, ich betrachtete sie lange Zeit und konnte mich nicht entschließen, die Grube zuzuwerfen.

Endlich, da meine Kräfte wieder nachzulassen begannen, und ich befürchtete, sie möchten mir vor der Beendigung meines Werkes gänzlich fehlen, begrub ich für immer in den Schoß der Erde das Vollkommenste und Liebenswerteste, was sie jemals hervorgebracht hatte. Ich legte mich dann auf das Grab, mein Gesicht in den Sand gedrückt. Indem ich die Augen schloß mit der Absicht, sie nie wieder zu öffnen, betete ich um den Schutz des Himmels und erwartete mit Ungeduld den Tod.

Sie werden es nur schwer glauben, daß während des ganzen Verlaufs dieser traurigen Handlung meine Augen nicht eine einzige Träne vergossen und mein Mund keinen Seufzer ausstieß. Die tiefe Niedergeschlagenheit, in der ich mich befand, und meine entschlossene Absicht, zu sterben, ließen gar keine Äußerungen der Verzweiflung und [276] des Schmerzes zu. Auch befand ich mich nicht lange in meiner Lage auf dem Grabe, als ich auch schon das Wenige, was mir an Bewußtsein und Empfindung geblieben war, verlor.

Nach dem, was Sie gehört haben, ist der Schluß meiner Geschichte so bedeutungslos, daß Sie sich kaum die Mühe zu machen brauchen, ihn anzuhören. Als man den Körper Synnelets zur Stadt zurückgebracht und seine Wunden sorgfältig untersucht hatte, fand man nicht nur, daß er noch nicht tot, sondern daß er überhaupt nicht gefährlich verwundet war. Er teilte seinem Onkel mit, was zwischen uns beiden geschehen war, und sein Edelmut trieb ihn dahin, aufs wärmste meinen eigenen Edelmut hervorzuheben. Man wollte mich holen, und da man weder mich noch Manon fand, vermutete man sofort, daß wir geflohen seien. Es war inzwischen zu spät geworden, nach meinen Spuren zu suchen, aber der folgende und der nächstfolgende Tag wurden dazu verwandt, mich zu verfolgen.

Man fand mich ohne Anzeichen von Leben auf dem Grabe Manons, und die Leute, die mich in diesem Zustande sahen, fast nackt und aus meiner Wunde blutend, zweifelten nicht, daß ich beraubt und ermordet sei, und brachten mich so zur Stadt zurück. Durch die Erschütterungen der Fortbewegung kam ich wieder zu mir, und die Seufzer, die ich ausstieß, als ich mich beim Öffnen [277] der Augen noch unter den Lebenden befand, ließen sie erkennen, daß bei mir noch Hilfe möglich sei. Und sie ließen mir diese auch mit nur zu gutem Erfolg zuteil werden.

Man verfehlte nicht, mich in ein enges Gefängnis zu werfen, und man machte mir den Prozeß. Denn, da Manon nicht mehr erschien, klagte man mich an, mich ihrer in einer Aufwallung von Wut und Eifersucht entledigt zu haben. Ich erzählte natürlich mein trauriges Erlebnis, und Synnelet besaß trotz des übergroßen Schmerzes, in den ihn mein Bericht versetzte, die Großmut, sich für meine Begnadigung einzusetzen. Sie wurde mir bewilligt.

Ich war so schwach, daß man mich aus dem Gefängnis in mein Bett tragen mußte, wo ich drei Monate lang durch eine schwere Krankheit festgehalten wurde. Meine Abscheu vor dem Leben nahm nicht ab, ich betete immer um den Tod und verweigerte hartnäckig die Annahme von Arzneien. Aber der Himmel, der mich lange Zeit hindurch so hart gestraft hatte, wollte, daß mir mein Unglück und seine Züchtigung doch zum Nutzen gereichen sollten. Er erleuchtete mich mit seinem Licht und flößte mir Gedanken ein, wie sie meiner Herkunft und Erziehung würdig waren.

Langsam kam eine gewisse Ruhe über meine Seele, und dieser Veränderung folgte bald meine Heilung. Ich [278] ließ mich ganz von den Geboten der Ehre leiten und fuhr fort, meinen kleinen Posten auszufüllen, wobei ich unaufhörlich auf die französischen Schiffe wartete, die einmal jährlich nach diesem Teil von Amerika fuhren. Ich war entschlossen, in mein Vaterland zurückzukehren, um dort durch ein tugendhaftes und ordentliches Leben das Ärgernis meines früheren Verhaltens wieder gutzumachen. Synnelet hatte Sorge getragen, den Körper meiner teuren Geliebten an einer würdigen Stätte begraben zu lassen.

Es war ungefähr sechs Wochen nach meiner Wiederherstellung, als ich eines Tages allein am Ufer entlang ging und ein Schiff ankommen sah, das Handelsgeschäfte nach Neuorleans führten. Neugierig betrachtete ich die Ausschiffung der Besatzung und erstaunte sehr, als ich unter denen, die sich der Stadt näherten, Tiberge erblickte.

Der getreue Freund erkannte mich schon von weitem, trotz der Veränderungen, die die Trauer auf meinem Gesicht angerichtet hatte. Er teilte mir mit, daß der einzige Grund zu seiner Reise der Wunsch gewesen sei, mich zu sehen und mich zu veranlassen, nach Frankreich zurückzukehren.

Als er den Brief erhalten hatte, den ich ihm aus Le Havre geschrieben hatte, begab er sich sofort dorthin, um mir persönlich die erbetene Hilfe zu bringen. Mit tiefstem Schmerz erfuhr er, daß ich schon abgereist sei, und er wäre mir sofort nachgefahren, wenn er nur ein Schiff [279] gefunden hätte, das bereit war, unter Segel zu gehen. Mehrere Monate hindurch suchte er in verschiedenen Häfen, bis er endlich eins in Saint-Malo fand, das im Begriff stand, nach Martinique abzufahren. Er schiffte sich mit ein, weil er hoffte, von Martinique aus leicht eine Überfahrt nach Neuorleans zu bekommen. Das Saint-Maloer Schiff wurde aber unterwegs von spanischen Seeräubern aufgegriffen und nach einer ihrer Inseln überführt. Tiberge gelang es durch eine List, zu entfliehen, und nach verschiedenen Irrfahrten fand er durch Zufall dieses kleine Handelsschiff, das ihn dann glücklich zu mir brachte.

Ich konnte nicht Dankbarkeit genug finden, um sie einem so edelmütigen und treuen Freund auszudrücken. Ich führte ihn in meine Wohnung und stellte ihm alles, was ich besaß, zur Verfügung. Dann erzählte ich ihm alles, was mir seit meiner Abreise aus Frankreich widerfahren war, und um ihm eine Freude zu bereiten, die er nicht erwartete, erklärte ich ihm, daß der Samen der Tugend, den er einst in mein Herz eingepflanzt hatte, jetzt anfange, Früchte zu tragen, mit denen er zufrieden sein werde. Er versicherte mir, daß eine so freudige Mitteilung ihn für alle Mühseligkeiten, die er während seiner Reise erlitten hätte, entschädige.

Wir haben zusammen zwei Monate in Neuorleans verbracht, bis ein Schiff aus Frankreich ankam. Dann[280] schifften wir uns ein und sind nun vor zwei Wochen in Le Havre de Grâce angekommen. Als ich ankam, schrieb ich an meine Familie. Mein älterer Bruder teilte mir in seinem Antwortschreiben mit, daß mein Vater gestorben sei, und ich fürchte nur zu sehr, daß meine Ausschweifungen mit an seinem Tode schuld gewesen sind. Da ein günstiger Wind für eine Fahrt nach Calais wehte, schiffte ich mich sofort dorthin ein und will mich nun zu einem mit mir verwandten Edelmann begeben, der einige Meilen von hier entfernt wohnt. Mein Bruder wird mich, wie er mir schrieb, dort erwarten.

[281]

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TextGrid Repository (2012). Prévost d'Exiles, Antoine-François. Roman. Manon Lescaut. Manon Lescaut. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-7D27-C