Nr. 154. Das kleine Klausthal. (I-II.)

I.

Bei dem jetzigen Klausthal hat früher ein Städtlein gestanden, das hat das kleine Klausthal gehießen und ist sehr wohlhabend gewesen. Aber je reicher die Einwohner geworden sind, desso schlechter und gottloser haben sie sich gezeiget. Darüber hat Gott die Stadt untergehen lassen und an der Stelle, wo die Kirche gestanden hat, ist ein Teich entstanden. Das Thal heißt jetzt noch das kleine Klausthal. In der Mitternacht vom grünen Donnerstage auf den Charfreitag ist die Kirche an der Stelle regelmäßig zu sehen, zugleich zeiget sich ein Reh, das niemand jagen darf. Einst verführte der Bergmönch einen Bergmann, die Zeit zu verschlafen, und da ging er dann einen Weg, der über den Teichdamm war. Da stand die Kirche da vom kleinen Klausthal, und weil er sich sehr darüber verwunderte, so ging er hinein, kannte aber niemand von den Leuten, die darinnen waren, auch nicht den Prediger. Drauf wurde er vom Bergmönch, der ihm da wieder erschien, hinausgeführet, und als er weiter gegangen war, waren Kirche und Steg verschwunden.

II.

Am Harze war einst ein grausamer Wilddieb. Wenn der wußte, daß irgendwo ein Stück Wild stand, da war's auch nicht sicher. Da hatte er auch gehöret, daß im kleinen Klausthal in der Mitternachtsstunde des Charfreitags ein Reh mit seinem Kalbe sich sehen ließ, das man nicht schießen darf. Aber er lachte nur darüber. Einmal kurz vor Ostern war er in einer lustigen Gesellschaft. Da erzählten sich auch die Leute[141] vom kleinen Klausthal. Aber wie er denn an nichts geglaubet hat, so lachte er nur darüber und sagte: Was gilt's? Ich schieße euch das Reh mit samt dem Kalbe, und wir wollen's am ersten Osterfeiertage verzehren. Die Leute haben ihm wohl davon abgeraten – aber er ließ sich nichts sagen. Am Charfreitag Abend machte er sich nach dem kleinen Klausthal. Wie er vor den Teich kam, sah er auf demselben einen hohen, dicken Nebel liegen, der ging bis an den Himmel und man hat den Teich nicht sehen können. Und in dem Nebel war ein Geflüster, wie wenn viele miteinander reden, und es schimmerten bisweilen wunderliche Gestalten hervor. Auch über den Weg kamen viele Gestalten herübergehuscht, wie luftige Schatten, und alle verschwanden im Nebel über dem Teiche. Aber er hatte nichts Arges draus. Er ging vorüber und stellete sich am Ausgang des Thales, da wo jetzt das erste Innerste-Puchwerk ist, hinter einem Busch auf die Lauer. Richtig kam das Reh mit seinem Kalbe. Da schoß er das Kalb nieder. Wie er es fallen sah, sprang er drauf los und band ihm die Füße zusammen und hing's über die Schulter. Darauf ging er zurücke. Wie er dahin kam, wo jetzt wieder der Teich ist, stand auf der nämlichen Stelle, wo eben noch der Teich war, eine Kirche, die war hell erleuchtet und der Gesang schallte und die Orgel dazwischen. Das ist doch seltsam, dachte er, sollst doch einmal in die Kirche gehen. Er trat also hinein. Da sah er denn die ganze Kirche voller Menschen; aber die sahen alle aus, als wenn sie schon Jahrhunderte lang im Grabe gelegen hätten. Die Kleider waren nach einer Mode, die er nicht kannte. Er grüßte, keiner dankte ihm: aber einige nickten, andere schüttelten den Kopf und winkten einander zu und wiesen mit den Fingern auf ihn. Auf dem Altare die Lichter, und die Lichter auf dem Kronleuchter brannten mit blauer Flamme und aus dem Kelche auf dem Altare zuckte eine blaue Flamme hervor. Von den Leuten in der Kirche stand einer auf und wies ihm die Thüre. Der Wilddieb aber blieb stehen, guckte auch noch bei einem ins Buch und wollte mitsingen. Da stand noch einer auf, wies ihm die Thüre, doch er ging noch nicht und wollte noch immer mitsingen. Er konnte aber die Schrift nicht lesen und mußte [142] es also sein lassen. Nachher kam der Pastor vor den Altar, aber das ist gar keine menschliche Sprache gewesen; es war als wenn Wind und Donner die ganze Kirche erfüllete, und aus dem Munde ging dem Prediger eine blaue Flamme. Auf einmal krachte es durch die Kirche, als wenn die Erde zu Grunde gehen sollte. Da zeigte der Pastor auf ihn hin und schrie: Verfluchter Sabbathschänder! Und die Geister standen gegen ihn auf und heuleten das Wort nach. Darüber stürzte er voll Angst und Schrecken zur Kirche hinaus. Die Thüre schlug hinter ihm zu, daß ihm die Fersen abgeschlagen wurden. Da flog er bis an den Weg, und hier blieb er liegen bis an den nächsten Morgen. Wie er zu sich selber kam, lag der Teich ruhig da, das Rehkalb war fort. Er aber war todkrank und konnte sich kaum nach Hause schleppen. Wie er noch neun Tage gelebet hat, hat er die Geschichte verzählt und ist darauf gestorben.


License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Pröhle, Heinrich. 154. Das kleine Klausthal. (I-II.). Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-858C-B