Eine Totenliste von Nikolaus Klim,

Küster an der Kreuzkirche zu Bergen in Norwegen.

(Erstmals veröffentlicht in Johann Joachim Schwabes »Belustigungen des Verstandes und Witzes,« Februar 1743.)

Ich habe unter dem Büchervorrat meines Vaters den Aufsatz gefunden, welchen ich jetzt meinen Lesern mitteile. Unser berühmter Klim hat ihn geschrieben; ich kenne seine Hand genau, und es wird wohl niemand zweifeln, daß es seine eigene Arbeit sei, wenn man nur dieses bedenken will, daß er ein Mann war, welcher auf seinen unterirdischen Reisen die Gemüter der Menschen vollkommen einsehen gelernt hatte. Als Küster besaß er noch eben die Fähigkeiten, durch welche er sich als Kaiser in Guama ansehnlich und beliebt gemacht hatte. Ich berufe mich auf seine unterirdische Reisebeschreibung, in welcher man die deutlichsten Spuren finden wird, daß er als ein Philosoph gedacht hat.

Gegenwärtiger Aufsatz ist ein Verzeichnis verschiedener Personen, welche zeit seines Küsteramts in Bergen gestorben sind. Er sagt von einer jeden seine Meinung, und die Liebe [13] läßt uns hoffen, er werde in seinen Charakteren unparteiisch gewesen sein. Es wäre zu wünschen, daß in allen Städten dergleichen Totenlisten gehalten und beim Schlusse des Jahres zum Drucke gegeben würden. Hierdurch erlangte man Gelegenheit, viele seiner Mitbürger nach ihrem Tode besser kennen zu lernen, als man sie in ihrem Leben gekannt hat. Manche werden auf den Kanzeln als Hochedle, Hochgelahrte, Hochweise, Ehrsame und Tugendbelobte abgekündigt, welche bei ihrer Unwissenheit, bei ihrer niederträchtigen und lächerlichen Aufführung keinen von diesen Titeln verdient haben. Es ist unbillig, daß wir denjenigen im Grabe loben, welcher sich auf der Welt um einen guten Namen nicht bekümmert hat. Durch eine Totenliste von der Art, wie gegenwärtige ist, würden wir die Ehre der Wahrheit retten; und ich zweifle nicht, daß unsre Bürger dadurch wenigstens ebenso sehr erbaut sein dürften, als durch die jährlich gedruckten Nachrichten, wie viel Kommunikanten gewesen oder uneheliche Kinder geboren worden. Ich will es dem Urteil der Leser überlassen, ob meine Hoffnung gegründet sei. Vielleicht bedauern sie mit mir, daß gegenwärtige Liste nicht vollständig, sondern durch die Unachtsamkeit der Klimschen Erben der Anfang und vermutlich ein groß Stück verloren gegangen ist.


B. Abelinson.


Bergen in Norwegen

am 10.–21. des Wintermonats 1742.


Gustav Trolle. Durch den Tod dieses Mannes verlor unsere Stadt mehr, als sie glaubte. Er war ein Dichter von einem ehrlichen Gemüt; er nahm jederzeit an dem Glück oder Unglück seiner Mitbürger vielen Anteil und wünschte allen Leuten Gutes. Seine Feinde nannten ihn spottweise nur den Gratulanten. Kein Namenstag oder Geburtstag ward begangen, an welchem er nicht gedruckte Merkmale seiner Ehrfurcht überreichte. Unaufhörlich ließ er die Häuser seiner Gönner und Freunde mit Freude und Wonne überschatten; und wenn der Himmel seine christlichen Wünsche erhört hätte, so würden alle Ratsmänner in Bergen, vom Bürgermeister an bis auf den Stadtschreiber wenigstens Nestors Jahre erreicht haben. Bei jedem Todesfalle tauchte er seinen Kiel in bittere Salze und herben Wermut ein. Er schien ganz untröstbar über den Tod des Kapellans, welcher drei Vornamen hatte und also dem Beruf unseres Dichters sehr einträglich war. Die Musen unterhielt er in beständiger Bewegung. Sobald er die Feder eintunkte, sobald standen sie alle neun [14] auf seinem Zettel. Sie hatten auch Ursache, gehorsam zu sein; denn es war ein sehr hitziger Mann. Wenn sie nicht gleich kamen und ihm bei seiner sauren Arbeit vorspannten, so schimpfte er so lange auf sie, bis der Bogen voll war. Er machte ein Sinngedicht auf mich, als ich zum Küster an der Kreuzkirche erwählt ward; es war wenigstens 8 Groschen wert, und ich und meine Frau haben es niemals ohne Thränen durchlesen können. Bei Hochzeitgedichten war er sehr scherzhaft. Der Name des Bräutigams oder der Braut mochte noch so verwirrt klingen, so wußte er ihn doch so lange herumzuzerren, bis er in demselben einen Gedanken fand, der sich zur Wiege schickte. Die Deutschen haben ihm die Erfindung der Leberreime zu danken, welche er zum erstenmale an des Stadtschulzens Geburtstage aus dem Stegreife machte, da er so trunken war, daß er von seinem Verstande nichts wußte. Er war weder eigennützig noch geizig, und für 16 Groschen schüttete er sein ganzes Herz aus. Er starb auch in großer Armut und hinterließ nichts als einen Lorbeerkranz und einen zerrissenen Mantel.

Suante Stuve verwaltete das Stadtschulzenamt 20 Jahre lang; seine Frau aber hatte das Directorium actorum. Diese machte auch die Abschiede, und die Parteien mußten in ihrer Küche gegeneinander verfahren. Wer daselbst nicht erschien, der war sachfällig, wer aber den grüßten Braten schickte, der hatte das größte Recht. Schienen die Sachen gar zu zweifelhaft zu sein, so mußten die Parteien würfeln; derjenige gewann den Prozeß, der die meisten Augen warf. Der Stadtschreiber war sein Schwiegersohn und hatte bei ihm freien Tisch.

Peter Brahe, ein witziger Kopf, ein Wunder der spielenden Natur, ein Greis von 20 Jahren. Alles war frühzeitig an unsrem Brahe. Schon im siebenten Jahre war er klüger als seine Eltern und Lehrmeister; im vierzehnten verwickelte er sich in gelehrte Streitigkeiten und schrieb kritische Anmerkungen über die philosophischen Bücher seiner Zeit, welches in Norwegen einen großen Lärmen machte. Er war heftig in seinen Meinungen, in seiner Schreibart spöttisch, und wenn ihn sein Witz überfiel, welchem Übel er oft ausgesetzt war, so schonte er keines Menschen. Auf seinen leiblichen Vater machte er Satiren. Er hatte eine so herzliche Neigung gegen sich und seine Einfälle, daß er sich lieber würde den Staupbesen haben geben lassen, als einen artigen Gedanken auf seinem Herzen und Gewissen behalten wollen. Er schrieb einen zierlich gedruckten [15] Vers, welcher aber dem geneigten Leser schwerer zu verstehen war, als ihm zu machen. Die Prosodie war sein Leibstudium nicht und die Grammatik für seine hohe Gelehrsamkeit zu niedrig. Im zwanzigsten Jahre spürte er eine merkliche Abnahme seines Verstandes und ward so kindisch als ein Greis von neunzig Jahren. Man glaubt, er habe sich damals selbst gefühlt, und sein herannahendes Ende vermutet; dieses will man aus einer Ode schließen, welche er unter dem Titel eines Schwanengesangs der Nachwelt hinterlassen, und worin er von seiner mutwilligen Leier Abschied genommen hat. Er starb auch wirklich kurz darauf und hinterließ eine große Anzahl Titel zu Büchern, die er hat schreiben wollen.

Gustav Gripp, ein Ratsmann und eine gutherzige Seele; er hat in seinem Leben nicht widersprochen und sagte zu allem ja. Nirgends schlief er sanfter als in der Ratsstube, besonders wenn die Rechtshändel vorgetragen wurden. Kam die Reihe an ihn, sein Gutachten zu sagen, so weckte ihn sein Nachbar auf, und alsdann votierte er allemal wie der regierende Bürgermeister.

Jugo Alrikus, ein geschickter Arzt. Wer unter seinen Händen starb, der starb dogmatisch. Er konnte aus dem Uringlase besser wahrsagen als ein Zigeuner aus der Hand. Wenn er jemandem an den Puls fühlte, so war dieses ein sicheres Zeichen eines herannahenden Todes. Er war Leibmedikus von allen denen, welche alte geizige Witwen oder solche Weiber hatten, die sich nicht wieder aus der Welt finden konnten; und er verwaltete sein Amt redlich. Alle seine Patienten kurierte er auf griechisch, wie ich denn nachgerechnet habe, daß binnen 3 Jahren über 400 Leute am Hippokrates gestorben sind. Man kann leicht glauben, daß die Geistlichkeit, ich (der Küster) und andere Totengräber diesem fleißigen Wanne viel zu danken haben.

Nilson Scribbens. Dieser gelehrte Mann hatte eine ganz besondere Natur. Unter anderem war es merkwürdig, daß bei ihm seine Gelehrsamkeit den Sitz im Magen hatte. Sobald ihn hungerte, sobald fing er auch an, Bücher zu schreiben. Aus der Größe seiner Schriften konnte man deutlich abnehmen, wie lange er gefastet hatte. Ein Traktätchen von 2 oder 3 Bogen war ein untrügliches Merkmal, daß er binnen 24 Stunden nichts zu essen gehabt, und wenn der Hunger recht nagend war, so schrieb er auch Werke in ganzen Alphabeten. In der großen Teuerung i.J. 1689 schrieb er die Universalchronik aller Nordscheine, welche sich seit dem Tode [16] Knuts hatten sehen lassen, in 12 Bänden groß Quart, mit Figuren, nebst einer Vorrede über die unbußfertigen Atheisten. Dieses gelehrte Werk fängt schon an rar zu werden, weil es gleich in den ersten Jahren stark verbraucht worden ist.

Humulfo Humblus, ein lateinischer Mann und geschworener Feind seiner Muttersprache. Nichts kam ihm niederträchtiger vor als die Bemühungen einiger Gelehrten, welche die norwegische Sprache in Aufnahme bringen und gewisse Regeln der Schreibart festsetzen wollten. Ihm war es einerlei, ob er Duyter oder Titer schriebe; und wer ihn bereden wollte, nur das erste sei recht, den hielt er wenigstens für einen Grillenfänger. Wenn er aber sah, daß jemand im Lateinischen ein D für ein T setzte, so schlug er die Hände über dem Kopf zusammen und vergoß die bittersten Thränen über den Verfall der schönen Wissenschaften. Keinen Gedanken hielt er für artig, den man nicht aus dem Cicero beweisen konnte. Niemand verdiente nach seiner Meinung den Namen eines Gelehrten, der nicht zum wenigsten einen auctorem classicum ediert hätte. Er schrieb eine kritische Untersuchung der Frage: Ob Horaz die triefichten Augen von dem Rauche seiner Öllampe oder von den gesalzenen Fischen bekommen habe, die er in der Jugend bei seinem Vater gegessen. Er behauptete die erste Meinung, und weil sein Kollege, der ehrliche Konrektor, der letzten Meinung zugethan war, so warf er einen so tödlichen Haß auf ihn, daß er sich auch nicht einmal auf dem Totenbette mit demselben versöhnen wollte. Über jeden Schnitzer wider die Grammatik konnte er sich so ärgern, daß er das Podagra bekam; und als sein Kollege, der Konrektor, ein Programma in seiner Muttersprache schrieb, so ereiferte er sich dergestalt darüber, daß ihm das Podagra in den Leib trat, woran er auch starb.

Stephan Wäderhat, ein friedfertiger Soldat, welcher vor den Augen seiner Mutter als ein gehorsamer Sohn gewandelt hat bis an seinen Tod. Er wünschte für sein Vaterland zu sterben und kam des wegen niemals aus Bergen. Er hat Zeit seiner Kriegsdienste vielen Belagerungen und Schlachten beigewohnt, aber nur von Haus aus. Etlichemal geschah es, daß er mit ins Feld rücken sollte; sobald er aber Ordre bekam, so überfiel ihn eine starke Engbrüstigkeit und er überschickte an seiner Stelle ein Attestat vom Stadtphysikus, daß er im Leibe nicht richtig wäre und von dieser Krankheit vermutlich nicht eher als nach geendigtem Feldzuge geheilt werden dürfte. Deswegen aber war er zu Hause nicht müßig, denn er trank alle [17] Tage die Gesundheit des kommandierenden Generals und seiner übrigen Kameraden, die im Felde standen, deren Wohlsein er dergestalt zu Herzen nahm, daß er vielmals von seinen Sinnen nichts wußte. Es gereichte ihm auf seinem Totenbette zu sonderbarem Troste, daß er seine Hände niemals mit Blut befleckt hatte. Im übrigen war er kühn und unerschrocken und machte sich weder aus Bürgern noch Bauern etwas, die er oftmals seinen kriegerischen Beruf empfinden ließ. Es ist eine bloße Verleumdung, daß ihm unser Pfarrer Schuld gab, er sei ein rechter Atheist und glaube weder an Himmel noch Hölle. Es geschieht ihm zuviel; denn ich habe es selbst gehört, daß er allemal über das andere Wort sagte: Hol mich der Teufel! und daß er zu jeder Lüge schwor. Das Frauenzimmer mochte er gern leiden, doch war er dabei nicht ekel. Er geriet einmal beim Spielen mit einem schwedischen Offizier in Händel, welcher ihn herausforderte. Allein unser sanftmütiger Wäderhat war im Mutterleibe verwahrlost, daß ihm allemal Hören und Sehen verging, wenn er einen bloßen Degen erblickte; deswegen schlug er die Ausforderung vorsichtig ab unter dem Vorwand, er sei der einzige Sohn seiner Mutter und der Stammhalter des wäderhatischen Geschlechts; wenn ein Unglück geschehe, so könnte die Nachwelt um seine Kinder kommen, worüber er sich ein Gewissen machte, und mit einer Hand voll Blut sei ihm auch nicht gedient. Heuer im Frühjahr bekam er Befehl, sich schlechterdings marschfertig zu halten und weder seine Engbrüstigkeit noch andere natürliche Fehler vorzuschützen. Dieses war ein Donnerschlag in seinen Ohren, und die Tapferkeit fuhr ihm dergestalt in alle Glieder, daß er bis an sein seliges Ende zitterte, welches 4 Tage darauf erfolgte, da er in den Armen seiner gebeugten Mutter starb und in Frieden zu seinen Vätern versammelt ward.

Kurt Stemhill. Dieser Mann hatte in seiner Jugend hohe Absichten und eine vornehme Einbildung von seinem künftigen Glück. Als er noch auf der Stadtschule zu Bergen studierte, dachte er wenigstens regierender Bürgermeister in seinem Vaterlande zu werden. In diesem schmeichelhaften Gedanken bestärkte ihn der Aberglaube seiner Mutter, welcher da mals, als sie mit diesem Sohne schwanger gegangen war, geträumt hatte, sie brächte einen Knaben mit einer ernsthaften Miene und einem sehr dicken Bauche zur Welt. Auf der hohen Schule zu Kopenhagen lernte er mehr Menschen kennen, als er in seiner Vaterstadt jemals gesehen hatte. Dieses verringerte seine Hochachtung gegen sich selbst, und er erklärte [18] sich bei seiner Heimkunft, daß er allenfalls mit dem Stadtschreiberdienste vorlieb nehmen wollte. Allein auch in dieser Hoffnung sah er sich betrogen und mußte es noch für ein unverdientes Glück rechnen, daß er bei zunehmenden Jahren als Mägdleinschulmeister an der Barfüßerkirche sein Brot verdienen konnte, welchem Amt er auch bis an sein Ende mit der größten Ernsthaftigkeit und unermüdeten Fäusten vorgestanden hat. Dem ungeachtet glaubte er, der Traum seiner Mutter sei erfüllt, denn ein regierender Bürgermeister habe höchstens nur über Hals und Hand die Gewalt, ein Schulmeister hingegen herrsche mit unumschränkter Macht über den ganzen Körper seiner Schulkinder.

Veit Seghersell war aus einem adeligen Geschlecht und ein Todfeind aller Hasen und Füchse. Mit Hunden und Pferden ging er um als mit seinesgleichen und liebte ihre Gesellschaft am meisten, weil er unter ihnen die vernünftigste Kreatur war. Aus dem Umgang mit Menschen machte er sich nicht viel, denn sie redeten allemal von Sachen, die er nicht verstand. Mit der Bibel konnte er sich gar nicht behelfen, destobesser aber mit dem Erbregister, welches seine Bauern nachdrücklich erfahren haben. Auf den Nimrod hielt er große Stücke, weil ihm sein Pfarrer gesagt hatte, er würde ein gewaltiger Jäger genannt; er wollte sich es auch nicht ausreden lassen, daß dieser Nimrod ein Landedelmann in Assyrien gewesen wäre. Um die Geschichte auswärtiger Völker und seines Vaterlandes bekümmerte er sich nicht, doch hatte er ein vortreffliches Gedächtnis, wenn er auf seine Ahnen zu reden kam. Einen Bürger roch er auf zwanzig Schritte weit. Nichts war ihm unbegreiflicher, als wenn er hörte, daß ein Mann wegen seiner Tapferkeit, wegen seiner Staatserfahrenheit oder wegen anderer Verdienste, die er dem Vaterland erzeigt hatte, in den Adelstand erhoben ward, denn er sagte, wenn solche Verdienste einen Edelmann machten, so wäre ihm und seinesgleichen Vater und Mutter und die ganze Sippschaft nichts nütze. Seine Wirtschaft war sehr unordentlich bestellt. War er nicht auf der Jagd, so saß er bei Tische, und alsdann war er vermögend, seine ganze hochadelige Nachbarschaft zu Boden zu saufen. Seine Bauern machte er arm und jagte sie durch Prozesse zum Dorfe hinaus. Er folgte ihnen aber selbst bald nach, weil er wegen Schulden seinem Verwalter das Gut überlassen und den Rest seines Lebens in Bergen zubringen mußte.

Stine Frogerta, ein frommes Weib. Sie hatte sehr [19] oft andächtige Entzückungen, welche die Kinder dieser Welt ihrer verdorbenen Milz und dem ungesunden Geblüt zuschreiben wollten. Wenn sie betete, so betete sie mit Händen und Füßen, und man konnte die Wirkung ihres gläubigen Herzens an allen Gliedern sehen; wie sie denn über die Unbußfertigkeit der verstockten Welt sich dergestalt betrübte, daß sie rote Augen und einen krummen Hals bekommen hatte. Die dunkelsten Worte und solche Formeln, welche etwas Verwirrtes in sich faßten, waren ihre Kern- und Trostseufzer; sie hielt dasjenige für die Sprache des Geistes, was die sich selbst überlassene Vernunft nicht verstand. Die Liebe des Nächsten rechnete sie zwar mit unter das Ceremonialgesetz, gleichwohl that sie den Armen im Urselinerkloster viel Gutes, weil es allemal von der Kanzel abgekündigt und dem christlichen Wohlthäter vor öffentlicher Gemeinde gedankt ward. Ihr Mann mußte sehr viel bei ihr ausstehen, denn wenn sie betete, so zankte sie, und es ist mehr als einmal geschehen, daß sie ihm sogar mitten in der Andacht ein Bund Schlüssel an den Kopf geschmissen hat. Ihr Ehrgeiz war unersättlich; wenn sie auch bei dem Gottesdienste auf die Knie niederfiel, so mußte es doch nach der Rangordnung geschehen. Sie hatte die Gabe zu wahrsagen und Gesichte zu sehen. Das Geschrei einer Krähe war ihr so verständlich, daß sie allemal wußte, wer davon sterben würde. Heulte ein Hund unter ihrem Fenster, so war sie dadurch mehr gerührt, als wenn unser Kapellan eine Bußvermahnung hielt. Wenn sich ein Stern schneuzte, so fuhr es ihr in die Seele; und als ihr von faulen Eiern träumte, erschrak sie dergestalt darüber, daß sie das Testament machte und sich zu ihrer Heimfahrt bereitete. In dieser Einbildung bestärkte sie ihr Mann auf alle ersinnliche Weise und war dabei so glücklich, daß sie einige Wochen darauf starb.

Friedlev Frohton. Dieses hoffnungsvolle Kind hat sein Leben nicht höher gebracht als auf 1 Jahr 3 Tage. Sein Vater, der Apotheker in Bergen, kann sich über den frühzeitigen Verlust dieses tugendhaften Söhnleins noch jetzt nicht trösten. Er fand einen recht männlichen Verstand an demselben, welches ihn vielmals auf die zweifelhaften Gedanken gebracht hat, ob es auch wirklich sein eigener Sohn wäre. Alle Handlungen dieses Kindes verrieten seiner Meinung nach eine große Seele. Wenn es auf seinem Stühlchen saß, so machte es eine so ernsthafte Miene wie ein Arzt, welcher bei dem Krankenbette sitzt und zweifelhaft ist, ob er den Patienten an Pulvern oder an Tropfen sterben lassen will. Eben diese [20] aufmerksame Miene hielt der aufmerksame Vater für einen untrüglichen Beruf, daß sein Sohn in Doctorem Medicinae promovieren müßte; nur war er noch zweifelhaft, ob es zu Upsala oder zu Kopenhagen geschehen sollte, welche Ungewißheit ihm viele schlaflose Nächte machte. Er stellte sich schon im Geiste vor, wie ansehnlich der junge Herr Doktor Frohton in einer samtnen Weste einher treten und den Glanz seines väterlichen Hauses empor bringen würde. Aber auf einmal verschwand diese süße Einbildung durch den Tod des hoffnungsvollen Knaben, und der unglückliche Vater hatte weiter keinen Trost als diesen, daß er unter seinen Händen starb: denn er war eben im Begriff, ihm das letzte Klistier zu setzen, als er verschied. Sein Vaterland bedauerte er so sehr als sich selbst. War noch etwas vermögend, ihn zu beruhigen, so waren es die vielen Exempel kluger Kinder, welche eben diese frühzeitige Klugheit unter die Erde gebracht hatte. Er prophezeite sich um deswillen ein hohes Alter, und die ganze Stadt glaubt es, daß er über hundert Jahre leben kann, wenn der Verstand der Gesundheit schädlich ist.

Sivart Stärkoter, ein Astronomus, welcher am Tage die Sonne und des Nachts den Mond mit so unermüdetem Fleiße beschaute, daß er zu nichts weiter geschickt war, als an die Gestirne zu sehen. Bei den unaufhörlichen Betrachtungen des Himmels hat er niemals Zeit gehabt, dasjenige zu lernen, was auf der Erde und in dem Umgang mit Menschen zu wissen nötig ist. Er war dadurch so tiefsinnig geworden, daß er seiner selbst vergaß. Mehr als einmal geschah es, daß er des Morgens im Schlafpelz und ohne Hosen ausging. Wer ihm begegnete, dem sah er starr in die Augen, schüttelte mit dem Kopf und redete nicht ein Wort. Aber von allem diesen wußte seine Seele nichts, denn der Körper bewegte sich nur mechanisch. Kurz vor seinem Tode sah er mich in der Kirche; er ging auf mich los, packte mich bei der Halskrause an und sagte mit einer zerstreuten und mathematischen Miene zu mir: »Die excentrische Anomalie ist der Bogen des excentrischen Zirkels zwischen der Linie Absidum; das sollte Er lange wissen, und ich schäme mich, daß ich es Ihm erst jetzt sagen muß.« Darauf ging er wieder von mir und ließ mich voller Schrecken stehen; denn ich hatte, geglaubt, er würde mich zum wenigsten erwürgen wollen. Er hat sich vielmals des Nachts aus den Armen seiner Frau gerissen, wenn ihm eine astronomische Spekulation einfiel. Anfangs kam ihr dieses sehr unerträglich vor, und sie hat zu gewissen Zeiten mehr über [21] die Sterne geseufzt, als mancher Liebhaber es thut. Endlich aber fand sie Gelegenheit, die Abwesenheit ihres Mannes durch den Zuspruch solcher Leute zu ersetzen, welche irdischer gesinnt waren als jener. Je gestirnter der Himmel war, desto ungestörter blieb sie in ihrem Vergnügen; und wenn der Mann eine Mondfinsternis zu besorgen hatte, so konnte sie gewiß glauben, daß er an sie nicht denken würde.


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TextGrid Repository (2012). Rabener, Gottlieb Wilhelm. Eine Totenliste von Nikolaus Klim. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-8B92-B