Rainer Maria Rilke
Ohne Gegenwart
Drama in zwei Akten

Personen

[829] Personen.

    • Frau Gerth

    • Sophie, ihre Tochter kurz verheiratet mit

    • Ernst Erben, Ingenieur

1. Akt

1. Szene
Erste Szene
Frau Gerth, Sophie.

MUTTER.

Immer wieder möcht ich durch das ganze Haus gehn. Liebes Kind, du hasts wirklich gut. Wenn ich denk, unsere Böden in den alten Häusern, da in der Spornergasse. Du weißt ja: wenn man herunterkommt, wie aus dem Kamin kommt man. Bei dir? Strudelteig könnt man auf den Dielen rollen, nicht ein Stäubchen ... Sie unterbricht sich plötzlich. Aber das hab ich dich fragen wollen, Sophie. Gefällt dir das da? Sie weist nach der Couchette. Ich kann nicht daran vorübergehn. Es steht mir überall im Weg. Was ich mich herumgestritten hab mit dem Tapezier. Er hat halt immer behauptet, sowas muß schief stehen. Nicht sehn kann ichs.

SOPHIE.

Gott, so schlimm ist das ja nicht. Gar so weit muß es ja auch nicht vorstehn, und wenn dann erst alles in Ordnung ist, kann mans ja noch überlegen, vorläufig laß ichs so ...

MUTTER.

Denk dir nur, Kind, auch den Schreibtisch hat er so stellen wollen; so quer in die Stube herein. »Mann,« sag ich ihm, »sind Sie denn ...« Na, offenbar war er so ein bißchen Macht eine Handbewegung vor der Stirne. Einen Schreibtisch stellt man doch an die Wand.

SOPHIE.
Er dachte wohl wegen des Lichts.
MUTTER.

Ja richtig; die dumme Ausrede hat er gehabt. [830] 's ist kein Licht so. Wozu denn auch? Man sitzt ja sowieso 's ganze Jahr keine zweimal beim Schreibtisch.

SOPHIE
mit drolligem Entsetzen.
Aber, Mama ...
MUTTER.

Ja tun Sie nur nicht so – bald hätt ich Fräulein gesagt – so 'ne Beleidigung. Aber man sieht dirs wirklich schon an, daß man zu dir ›gnädige Frau‹ sagen muß. Du bist ja ganz stolz und ordentlich groß geworden.

SOPHIE
schmiegt sich an die Mutter.
Ich bin so glücklich.
MUTTER.

Versteht sich. Und drum sag ich ja auch: du wirst auch nicht oft bei dem Zeug da sitzen, seit du mit dem Herrn Ernst jede Weile – soMacht die Mundbewegung des Küssens. reden kannst. Was? Früher da sind wohl die heimlichen Brieferl nur so hin und her. Da war der Schreibtisch wichtiger wie's Bett. Hm?

SOPHIE
schweigt verlegen.
MUTTER.

Noh jetzt ist ja der Kampf zu Ende. Jetzt habt ihrs ja durchgesetzt! Jetzt kann mans ja sagen. Ich habs ja lange gewußt und hab ja den Papa nicht mehr losgelassen.

SOPHIE
zögernd.
Ich hab dich schon oft fragen wollen, warum hat eigentlich der Papa den Ernst solange nicht mögen?
MUTTER.
Gott, das ist seine Art so. Du kennst ihn ja. Übrigens den Ernst hat er immer mögen.
SOPHIE.
Aber? ...
MUTTER.
Die Verwandtschaft in Wien war ihm halt nicht ganz recht.
SOPHIE
sieht fragend auf.
MUTTER
beschwichtigend.

Es werden ehrliche und achtbare [831] Leute sein – gewiß – wenn auch vielleicht nicht sehr gebildet. Das stört den Papa. Du weißt ja. Rasch abbrechend. Aber es ist doch umso schöner von Ernst, daß er sich so hinaufgearbeitet hat. Nicht? Immer war er Vorzugschüler, und jetzt ist er auch in der Fabrik der Fleißigste. Alle haben ihn gern. Er wird Karriere machen ... aber – erzählich dir von den Tugenden deines einzigen Ernst. Als ob du das nicht am Besten könntest!

SOPHIE
mit kindlichem Stolz.
Er ist aber auch!
MUTTER
lachend.

Ja, ja – ich weiß. – Aber ich will doch lieber erst gehn, Kind. Wenn ich dieses Tugendregister zuende anhöre, so verhungern sie zu Hause: der Papa und die Agla. Das heißt die Agla denkt wohl nicht ans Essen. Aber der Papa muß pünktlich sein Abendbrot auf dem Tisch haben, und ich habe der Köchin noch nichts herausgegeben. – Belehrend. Und das mußt du dir auch so einteilen. Pünktlichkeit. Das ist die Hauptsache. Um ein Uhr wird gegessen: Punkt Eins muß die Suppe auf dem Tisch sein. Um acht Uhr wird genachtmahlt – und auch mit dem Frühstück ... Na, das hab ich dir ja Alles schon zehntausendmal gesagt ... Diese alte pedantische Mutter, wirst du dir denken. Aber – es muß so sein. Wo keine Ordnung ist, ist das Geld doppelt so rund als anderswo ...Macht Anstalten zu gehn.

SOPHIE.

Nein, wart noch. Ernst muß ja gleich da sein. Er versprach um fünf zu kommen, und Ernst ist Mit besonderer schelmischer Betonung. eben auch ›pünktlich‹.

MUTTER.

Das will ich doch gleich mal sehen. Die paar [832] Minuten wart ich also. Sie setzt sich auf das Ende der Couchette, Sophie neben sie. Man weiß gar nicht, wie und wo man sitzen soll auf solch einem Ding. Umblick haltend. Aber trotzdem: schön ist es bei dir – so hell und heimlich. Und auch, daß ihr den kleinen Garten habt ... Das ist doch tausendmal besser wie eine Hochzeitsreise, nicht?

SOPHIE
nickt.
MUTTER.
Du wärst wohl gerne fort?
SOPHIE.

Weißt du – nach Venedig. Ja. Wie ich gehört hab, daß der Ernst jetzt keinen Urlaub bekommt, hat mirs eine Weile wirklich leid getan. Aber nur eine Weile. Da hab ich ja noch gedacht, wir werden in der Stadt wohnen müssen. Du hast uns ja so überrascht damit.

MUTTER.

Du sollst nichts entbehren. Später sollt ihr ja hinunter, nach Italien. Ihr Schwärmer. Die Tauben auf dem Markus-Platz werden bis dahin nicht verhungert sein.

SOPHIE.

Oh jetzt bin ich ja so zufrieden hier. Es ist ja so schön, und man ist doch gleich im Eigenen. Ernst meint auch: wenn man sich erst so recht eingewohnt hat.

MUTTER.
Ja, das würde für mich heißen, bis die Sofas fein säuberlich an den Wänden stehn. Sie lachen.
2. Szene
[833] Zweite Szene
Personen: Vorige und Ernst Erben.

Ernst und Sophie umarmen sich. Währenddessen beginnt die Uhr laut fünf zu schlagen. Sophie löst sich aus den Armen ihres Gatten.

SOPHIE
drollig.
Pststst!
MUTTER UND ERNST.
Was ist denn?
SOPHIE.

Du sollst hören, Mama. Gerade der letzte Schlag fünf. Und hier, ich habe die Ehre, dir meinen pünktlichen Gemahl vorzustellen.

ERNST.
Was hast du denn?
MUTTER
Ernst die Hand reichend.
Guten Abend, lieber Ernst. Ein neues Blatt in deinem Lorbeerkranze: deine Pünktlichkeit.
SOPHIE.
Jetzt hast du's bei Mama vollends gewonnen.
ERNST.
Wieso?
MUTTER.

Ja, mein lieber Schwiegersohn, ich habe viele gute Eigenschaften an dir entdeckt, auch, daß du nicht rauchst usw. Aber seit ich weiß, daß du pünktlich bist – ich sag dir: du kannst mich um den Finger wickeln.

ERNST.
Ja – das ist kein Verdienst; das ist eine alte Gewohnheit.
MUTTER.

Und Scherzhaft. was liegt auch an dem Beifall der Schwiegermutter. Die kommt ja ohnehin nur auf des Teufels Geheiß jeden Augenblick ins Haus ...

ERNST.
Das glaubst du doch selbst nicht, Mama, du weißt, wieviel wir dir zu danken haben.
[834]
MUTTER.

Ach was danken. Im Glück ist man undankbar und soll es sein. Ja, ja. Aber ich muß mich eigentlich wirklich entschuldigen, daß ich schon wieder da bin.

SOPHIE
vorwurfsvoll.
Mama.
MUTTER.

Nicht bei dir, bei deinem Herrn Gemahl. Und besser als alle Entschuldigung ist wohl, wenn ich mich jetzt zusammenpacke.

ERNST.

Du darfst uns nicht die Ruhe wegtragen, und du kränkst mich auch, wenn du gehst, eben, da ich eintrete.

SOPHIE
drückt sie zärtlich in die Couchette zurück.
Sooo.
ERNST
holt einen Fauteuil und setzt sich vor die beiden Frauen.
Wie gehts dem Schwiegerpapa?
MUTTER.

Wie immer: gut, bis auf seine Launen und seine Gicht. Die macht ihm jetzt im Frühjahr wieder mehr zu schaffen, und er ist gleich ganz klein, wenn er Schmerzen hat. Zudem weiß er nicht was anfangen, seit er nicht mehr in die Kanzlei geht. Ich kann ihm auch nicht grade was Munteres erzählen, das ihn herausreißt und aufheitert, na und ... wir sind halt beide altes Eisen.

ERNST.

Darüber bin ich beruhigt. Wer so tätig ist, wie du, Schwiegermama, der kommt nicht zum Rosten. Und schließlich ist das die Hauptsache: daß man nicht rostet.

MUTTER.

Ja, das mit dem Rosten wird vielleicht auch nicht mehr lange dauern. Mir mags gar nicht mehr behagen in meinen vier Mauern, seit ich bei euch alles gesehen hab. Und dann ist auch das mit der Agla.

ERNST
steht auf und geht ans Fenster.
[835]
SOPHIE.
Weis ist denn schon wieder mit ihr?
MUTTER.

Immer die alte Geschichte. Ich versteh das nicht: sie liegt über Büchern den ganzen Tag, oder sie läuft auf den Gassen herum. Weiß ich warum? Entweder sie spricht gar nichts, oder so, daß ich nichts begreife. Ich frag mich: ist das so gescheit was sie sagt, oder ist es ganz Unsinn.

SOPHIE.
Oh das ist ganz Unsinn.
MUTTER.

Aber, das was du kennst, das war ja noch gar nichts. Jetzt solltest du sie hören. Seit du verheiratet bist. Ganz furchtbar ist das seither. Bis es dem Papa zuviel geworden ist, und der ist doch immer voller Nachsicht mit ihr. Und denk dir nur, das muß ich euch erzählen: Neulich sag ich ihm, er soll doch mal mit dem Kind reden, energisch, mein' ich. Wie ich nach zwei Stunden hineinkomme, sitzt euch der alte Mann da, mit leuchtenden Augen sitzt er euch da und horcht und die Agla spricht. So übertrieben wie immer. Ich glaube gar, sie hat ihm irgendeine Lehre gegeben. Ich weiß nicht, es ist etwas in dem Mädel – wenn ich mich und dich anschau – Sophie, – ich kanns gar nicht glauben, daß das meine Tochter ist. Du bist doch so vernünftig, so häuslich ...

ERNST
nachlässig, vom Fenster her.
Vielleicht solltest du sie nicht so viel allein herumlaufen lassen?
MUTTER.
Sag ihr das Einer. Sie will selbstständig sein.
SOPHIE.

Ach was, ich war doch auch selbstständig und ihr hättet mich schön angeschaut, wenn ichs so getrieben hätte.

MUTTER.

Nehm ich sie mal vor und sag ihr: Agla, das [836] schickt sich nicht. Gut. Sie sperrt sich in ihr Zimmer ein, und bleibt drin, ganz folgsam, bis ich sie endlich bitten muß, wieder auszugehen. Wie sieht sie denn aus. Sie wird achtzehn jetzt und ist doch noch so zart. Sie muß ja an die Luft. – Wenn sie schon sonst nirgends hin will. Längst hätt ich sie einführen können. Die Verbindungen in der Gesellschaft hat man noch gehabt. Alle deine Tänzer hätten sich für deine Schwester interessiert. Das ist nun alles vorbei. Ja, das sind so Sorgen.

SOPHIE
ernst.

Sag ihr nur, ich laß ihr sagen, daß sie ein Kind ist, daß – – – sie weiß schon, was ich ihr sagen lasse.

MUTTER.

Dabei sieht sie wirklich so elend jetzt aus, daß man kaum wagt, ihr was zu sagen. – Da ist halt auch noch die Stadtluft obendrein. Ich hab mir schon gedacht, jetzt, wo die Sonne Wunder tut, für zwei oder drei Tage, natürlich nur für zwei oder drei Tage irgendwo hinaus ....

ERNST
sich umwendend.
Ja, – ja, Eifrig. das wäre vielleicht das Beste.
MUTTER.

Länger könnts ja nicht sein – aber vielleicht kann sie, damit sie nicht unter Fremden ist, im Garten bei euch zwei bis drei Tage? ...

SOPHIE
hastig.
Nein.
ERNST
ebenso.
Nein.

Sophie und Ernst tauschen unwillkürlich einen erstaunten Blick. Die Mutter sieht sie, verwundert über das Entschiedene des Tones, an.
ERNST
etwas verlegen hinzutretend.
Ich meine – – bei uns ist – – doch noch nicht – – –
[837]
SOPHIE.
Ernst meint – unsere – Wohnung – –
MUTTER
hat sich gefaßt, lachend.

Nein, bin ich aber auch – Mit mir ist doch nichts mehr anzufangen. Einem jungen Ehepaar Gäste anzutragen. Nein, und so verrückte Gäste. Und in den ersten Flitterwochen. – – Lachend. Schau mal, Mäuschen, ich glaube gar dein Mann wird für dich rot. Was? oder bist du's am Ende auch – richtig. Du auch! Nein, was ihr herzig seid. Wie zum Spielen. Beide werden sie rot. Sie liebkost Sophien. Nun, nun – diese ungeschickte Schwiegermutter. Denkt daß zwei, drei Tage ein kleiner Verlust wären, zwei, drei Tage – eine Ewigkeit. Nein, das kommt davon: ich werde wieder jung bei euch, Kinder. Und gründlich gleich so jung, daß ich ganz naiv bin. – Aber so werde doch nicht schon wieder rot. Gott, Gott. Jetzt schau ich aber, daß ich fortkomm. Weiß der Himmel, was ich sonst noch anstell. Bitt dich,Packt den Ernst zärtlich am Arm. sie ist ganz rot. Schau zu, wie du's abwaschest ... Schau zu ... Sie küßt Sophien rasch, zwinkert Ernst zu und geht zur Tür. Zu Ernst, der sie begleiten will. Geh nur, ich find schon. – Wirst du zum Frauchen! Lacht. Ab.

3. Szene
[838] Dritte Szene
Sophie. Ernst.

SOPHIE
steht in Nachdenken etwas verlegen da.
ERNST
tritt herzu.
Die Mama hat recht. Nun küß mich erst mal schön.
SOPHIE
aufatmend.
Küßt ihn. Ja.
ERNST.
Nicht mehr?
SOPHIE.
O ja immer wieder. Hast du mich auch recht lieb?
ERNST.

Richtig, davon haben wir noch gar nie gesprochen. Küßt sie auf die Stirn. War mein kleines Frauchen auch fleißig?

SOPHIE.

Und wie. Es ist auch eine Freude mit allen diesen Dingen zu schaffen. Du, ich muß dir auch mal die Küche zeigen. Alles ist neu und blitzblank. Zu ihm, der eine Bewegung macht. Nein, noch nicht; Zu dieser festlichen Gelegenheit muß erst Alles ganz fertig sein. Soweit bin ich noch nicht. Die Küche darfst du nicht sehen, solange sie nicht ebenso glänzend ist, wie deine Schreibstube staubig ist. Sag mal, muß denn das so sein?

ERNST.

Du vergißt, Kind, daß in unserer Kanzlei nicht so liebe Hände, wie die deinen, sondern irgend ein paar faule Diener aufräumen, welche obendrein nichts anrühren dürfen auf den Tischen.

SOPHIE.

So, die dürfen nichts anrühren. Hm. Also so geheime Dinge treibt ihr dort. Weißt du, wenn ich dir nicht zu dumm bin, so nimm mich mal mit in[839] deine graue Kanzlei und sag mir Sie faßt ihn beim Arm. das muß so liegen und das so und das, was du nicht sehen kannst vor lauter Staub, so ...

ERNST.
Du Wildfang.
SOPHIE.

Nein ganz im Ernst, dann räum ich dir auf. Es ist nicht nur so. Du mußt ja auch krank werden, wenn du sowas einatmest Tag für Tag. Du siehst mir ja auch schon ganz gelb aus!

ERNST.
So? Grade hat mir Jemand das Gegenteil gesagt.
SOPHIE.
Der versteht gewiß nichts davon.
ERNST.
Oh doch, Einer von dem du sagst, daß er Alles versteht.
SOPHIE.
Geh..
ERNST.
Nun?
SOPHIE.
Am Ende gar der Hochwürden?
ERNST.
Gleich geraten. Ich werde eifersüchtig werden auf deinen alten Lehrer.
SOPHIE
wichtig.

Hmmm! Auf den kannst du wirklich ein bißchen eifersüchtig sein. Das schadet dir auch sicher nicht. Wenn der Hoch würden so ungefähr um vierzig Jahre jünger war, und wenn er nicht Hochwürden war und wenn du nicht auf der Welt wärst, – hätt ich ihn gewiß geheiratet. Na – da hat doch nicht viel gefehlt?

ERNST.

Nein. – Eine Kleinigkeit, die ja vielleicht auch noch auszubessern geht. Deswegen hab ich ihm gesagt, er möchte nur recht bald kommen. Ich wollt ihn gleich mitbringen.

SOPHIE
aufrichtig.
Schade –
[840]
ERNST.
Er war grade unterwegs in die Stadt, hat dort irgendwas zu tun –, wollte auch zu deinen Eltern. – –
SOPHIE.

Das ist lieb. Mama wird wohl gleichzeitig mit ihm zuhause ankommen. Ja ich vergeß ganz, willst du Tee – Ernst?

ERNST
aus Nachdenken heraus.
Nein, danke – – – – Aber nicht wahr, sonst kommt kein Besuch zu uns außer dem Pfarrer?
SOPHIE
zögernd.
Nein, warum fragst du?
ERNST
leichthin.
Ists nicht am schönsten allein?
SOPHIE
verschüchtert.
Oh ja – ich kann ja auch Hochwürden bitten jetzt nicht ...
ERNST.
Aber nein, Kind, ich meinte doch nur ... ich meinte nur Fremde ... nur ...
SOPHIE
beunruhigt.
So.
4. Szene
Vierte Szene
Vorige

Ernst setzt sich auf die Couchette, Sophie geht einen Augenblick in schlecht verhehlter Ungeduld auf und nieder.

SOPHIE
bleibt vor Ernst stehen.
Ich muß dich etwas fragen.
ERNST
scheinbar gelassen.
Nun?! –
SOPHIE.
Früher, wie Mama vorschlug, daß meine Schwester – herauskommen sollte – Sie zögert.
ERNST.
Ja – Gereizt. nun was denn? – –
SOPHIE.
Bist du böse?
ERNST
gezwungen lachend.
Nun so sag schnell was denn?
[841]
SOPHIE.
Wie Mama das vorgeschlagen hat, da hast du so seltsam ›Nein‹ gesagt. So ...
ERNST
mit dem Versuch zu scherzen.

Du Kindskopf. Was du auch Alles hörst. Wie kann man seltsam ›nein‹ sagen. Man sagt eben ›ja‹ oder ›nein‹. – Nun ich hab mir in Anbetracht verschiedener Umstände, die ich dir Er zieht sie auf den Schooß. gern näher erklären will, erlaubt, das letztere zu wählen. Du hast doch genau dasselbe gesagt?

SOPHIE
mechanisch.
Ja freilich – ich hab genau das selbe gesagt.
ERNST
ablenkend.
Nun also. Nun hab ich doch die Absolution. Hm? Küßt sie.
SOPHIE
abwehrend.
Nicht.
ERNST.
Nun? –
SOPHIE.
Verzeih, ich war so in Gedanken. Da, küß mich viel.
ERNST.
Du, Kind; kannst du auch in Gedanken sein.Küßt sie.
SOPHIE
unter seinen Küssen, zaghaft.
Ich hab etwas auf dem Herzen, Ernst, – ich habs dir nicht sagen wollen, aber –
ERNST
wieder unruhig.
So arg wirds ja nicht sein.
SOPHIE.

Arg ist es vielleicht nicht. Ich kanns nur nicht verstehen. Sie steht von seinem Schooß auf. Du wirst ja verstehen, was es ist. Sie steht sinnend vor ihm.

ERNST
schweigt.

Kämpft mit einem Entschluß und reicht Sophieen dann einen Brief. Lies das da übrigens. Das wird das beste sein.


Sophie nimmt hastig den Brief an sich, knittert ihn mit zitternden [842] Fingern auf und liest ihn in atemloser Spannung; plötzlich beginnt sie ihn zu zerreißen, mit heftigem Haß, in kleine Fetzen, dann tritt sie die einzelnen Restchen, die zu Boden fallen, nieder, als ob es Flammen wären, – ihr Gesicht ist ganz verzerrt.
ERNST
erschrocken.
Aber, Kind, Kind.
SOPHIE
stößt seine beruhigenden Arme fort.
Und du?
ERNST.
Fasse dich, Liebling. – Du siehst ja – ich war um fünf Uhr da.
SOPHIE
allmählich ruhiger werdend.
Ja, ja, du warst ja da.
ERNST.
Solche Briefe, wie den da, hat mir die Agla oft geschrieben.
SOPHIE.
Das ist gemein, das ist ...
ERNST.
Das ist krank.
SOPHIE.

Die eigene Schwester. Plötzlich in jähem Mißtrauen. Und bist du nie, nie hingegangen, auch nicht einmal?

ERNST.
Nie.
SOPHIE
ängstlich.
Geh nie hin – versprich mir.
ERNST.

Ich versprech es dir. Und nun hör zu. Wir wollen jetzt ruhig darüber reden. Setz dich. Sie sitzen nebeneinander auf der Couchette.

SOPHIE
aufatmend.
Und du hast mich lieb?
ERNST.

Sehr lieb, Sophie. Nun gieb mal acht. Alle diese wahnsinnigen Briefe, welche deine Schwester mir geschickt hat, habe ich verbrannt, die meisten ohne sie zu lesen. Das war unrecht. Wir hätten sie zusammen lesen sollen und irgend etwas dagegen tun – zusammen.

SOPHIE
in inniger Zustimmung.
Ja.
ERNST.

So wäre vielleicht längst schon Alles in Ordnung. Eine Frau findet da eher das Richtige. Ich versteh solche Sachen nicht. Mir graut vor solchen Überspanntheiten. [843] Solche Dinge sind nicht wert, daß man drüber nachdenkt, und doch stören sie einen immer wieder in der Arbeit und in allem Möglichen. Deine Schwester ist krank. Das sind ja alles Worte, die sie gar nicht versteht. Phantasieen, die gewiß mich selbst gar nichts angehen, sie kennt mich ja kaum, sondern irgend einen Traumhelden. Wenn ich mal mit ihr sprechen könnte, wäre sie wohl am schnellsten enttäuscht. –

SOPHIE
macht eine Bewegung.
ERNST.

Nein, das geht indessen nicht. Sie steckt zu tief drin. Und drum wollen wirs so machen. Wir wollen dagegen ankämpfen wie zwei gute Kameraden. Das heißt: Wir wollen ganz aufrichtig sein gegeneinander. Uns Alles ohne Rückhalt erzählen, was diese Sache betrifft. Willst du?

SOPHIE.
Ja Alles. –
ERNST.
So werden wirs zusammen durchmachen. Du kennst ja auch deine Schwester besser wie ich ...
SOPHIE.
Ich fürcht mich vor ihr.
ERNST.
Dazu ist kein Grund da. Schau, wenn wir uns Alles sagen – was kann sie uns denn dann anhaben.
SOPHIE.
Sie ist mir immer so unheimlich gewesen.
ERNST.
Ach, wir werden schon mit ihr fertig werden.
SOPHIE
bange.
Und du glaubst nicht –
ERNST.
Was denn?
SOPHIE.
Daß sie dennoch
ERNST.
?
SOPHIE
verwirrt.
Daß sie das tut
ERNST.
Was?
[844]
SOPHIE.
Das, was im Brief steht ...
ERNST.

Nein, da kannst du ruhig sein, Sophie. So schnell geht man nicht ins Wasser. Das schreibt sich ja sehr schön und paßt ja auch so gut als Schlußkapitel in den Roman. Aber tun – nicht mal sagen –

SOPHIE
erschrocken.
Sagen – oh ja.
ERNST.
Wieso?
SOPHIE.
Sie hat mirs gesagt.

Ernst springt auf.
SOPHIE.

Gott, ich hab dirs ja immer sagen wollen. Aber es war so furchtbar. Verzeih mirs. Ich – – Sie bricht in heftiges Weinen, aus.


Ernst geht erregt auf und nieder.
SOPHIE.
Hätt ich dirs nur gleich erzählt. Aber, mir war immer: ich verlier dich, – wenn ichs sag.
ERNST
hart.
Wann wars?

Sophie ringt mit den Tränen. Ernst beschwichtigt sie ungeduldig.
ERNST.
Wir wollen ja beide jetzt aufrichtig sein. Nicht? Also:
SOPHIE.

Ja. Faßt sich. In der Nacht vor der Hochzeit. Ich war schon im Bett. Da ist sie zu mir gekommen. Die Stimme stockt ihr vor Erregung.

ERNST.
Du hast ja doch keine Schuld dabei; bleib doch vernünftig.
SOPHIE
mühsam.

Sie ist zu mir gekommen und hat gesagt: »... Du ... du darfst ihn nicht heiraten ... ich hab ihn lieb er gehört mir ...«

ERNST
bleibt stehen.
Er – gehört mir?
SOPHIE.

Erst hab ich gelacht; ich hab ja doch gewußt ... Aber die Agla war so zum Fürchten. Ganz groß [845] waren ihre Augen im Finstern, ganz wild. Mir ist schrecklich bang geworden. »Er muß mir gehören« hat sie gesagt.

ERNST
schüttelt den Kopf.
Und du?
SOPHIE.

Ich? Ich weiß nicht mehr. Daß ichs der Mutter verraten würde, – daß wir uns versprochen haben, daß du mich gern hast ... daß du mich sehr gern hast – lieb hast ... und da – Ernst streicht ihr, vor ihr stehend, leise das Haar. Da ist sie fortgegangen. Und bei der Tür hat sie mit ganz anderer Stimme – ganz fremd hat sie gesagt: »Dann geh ich – dann geh ich ...« Sie klammert sich bang an Ernst. Ich hörs noch. – Sie hat nicht mehr gesagt. Aber ich hab gefühlt, sie tuts – sie tuts. Sie geht sterben. Du, das war eine Nacht. Ich hab den Gedanken nicht los werden können: Dir ist was geschehn. Ich war am liebsten zu dir. Ich hab gebetet bis früh. Ich hab so viel gebetet. Und mir ist doch nicht leichter worden. Erst wie ich dich dann früh gesehn hab – froh und gesund .... Sie umarmt ihn leidenschaftlich.

ERNST
in Gedanken.
Ist das Alles?
SOPHIE
aufatmend.

Alles ... Und jetzt ist es von mir. Es war immer noch auf mir gelegen. Jetzt will ich wieder froh sein, wie damals früh. Sie umarmt ihn wieder.

ERNST.
Du Arme.
SOPHIE.
Ach denk du auch nicht mehr daran. Mir ist so froh jetzt seit du's weißt. So frei.
ERNST.
Ja – wir wollen nicht davon sprechen. Und nur das Eine: zusammenhalten und aufrichtig sein.
SOPHIE
steht auf.
Ja.
[846]
ERNST.
Ganz aufrichtig.
SOPHIE
voll fröhlicher Zuversicht.
Bis ganz tief hinein ins Herz wollen wir uns schauen – ja?
ERNST
gerührt, auch wieder froh.
Du Liebe!
SOPHIE.
Du! Sie halten sich bei den Händen und sehen sich treu in die Augen.
5. Szene
Fünfte Szene
Vorige.

ERNST.
Wollen wir nicht Licht machen?
SOPHIE.
Aber es ist ja schön so.
ERNST.
Ich werde doch noch ein wenig arbeiten.
SOPHIE.

Gönn dir doch noch eine Weile. Schau wie schön das draußen ist. Und wenn man jetzt so hinaussieht, meint man da nicht, unser Garten reicht weit, weit bis an die Türme.

ERNST
lächelnd.
Was du schwärmen kannst.
SOPHIE.

Ich lerns jetzt. Zu Hause war nicht recht die Ruhe dazu – aber jetzt. Und dann: ich war auch noch nicht reif genug.

ERNST.
Zum Schwärmen?
SOPHIE.

Ja, man muß dazu reif sein, wenns nämlich wirklich eine Kunst sein soll. Man muß erst Jemanden sehr gern haben, so wie ich dich.

ERNST
warm.
Mein goldenes Glück bist du!
SOPHIE.
Das will ich auch sein. Aber nicht »golden« – bitte. Lieber: – lebendig.
[847]
ERNST.
Also mein lebendiges Glück.
SOPHIE
streicht ihm kosend durchs Haar.
Übermütig. Aber du stichst ja. Was du für kurze Haare hast. Geh!
ERNST
geht lachend ein paar Schritte zurück.
Auf einmal.
SOPHIE.

Ja siehst du, das kommt schon davon, daß ich das Schwärmen lerne. Jetzt möcht ich dich so mit langen, goldenen Locken. Lacht ausgelassen. Aber, Ernst, einmal hast du doch auch Gedichte gemacht. Nicht wahr? Nun – du darfst mich nicht so grimmig ansehen. Ich meine vor langer, langer Zeit. So mit siebzehn? –

ERNST.

Mit siebzehn? Ich will dir ganz genau sagen, Kind, was ich mit siebzehn getan hab. Wart mal: Da war ich auf dem Gymnasium und außerdem habe ich faulen Kindern Privatstunden gegeben und nachts – da werd ich wohl um paar Groschen irgendwas abgeschrieben haben, so lange Licht und Augen aushielten. Und wenn dann noch ein Stück Nacht übrig war, hab ich wahrscheinlich doch am liebsten geschlafen – statt Gedichte zu machen. Sophie schweigt verlegen. Ja zum Romantischsein hat mir immer die Zeit gefehlt. Es ist ganz wie mit den langen Haaren. Wer zeitig bei schlechtem Licht aufstehen muß, bleibt auch nicht lang vor dem Spiegel stehn. – Erst du hast mich ja ein wenig eitel gemacht, Kind ... – Sophie steht immer noch in Gedanken. Was denkst du denn?

SOPHIE.

Ich muß daran denken, daß du in den Nächten abgeschrieben hast. – Aber nicht wahr – du hast doch nie – – Hunger hast du doch nie gelitten?

ERNST.
Auch.

[848] Sophie sieht ihn scheu und bewundernd an.
ERNST
traulich.

Nun, ich habs ja ohne Schaden überstanden. – Aber du siehst jetzt ein, meine Zeit war knapp. Wenn ichs so gemacht hatte, wie die meisten, wo war ich jetzt. Für mich hats geheißen, gradaus nicht rechts und nicht links schaun – immerzu. Drum hab ich mich auch so vor allen Frauenzimmern gefürchtet und auch vor dir.

SOPHIE.
Wirklich?
ERNST.

Du warst die Erste, an die ich hab denken müssen. Ja, du Kindskopf, du hast mich furchtbar gestört. Für dich hab ich eben Zeit finden müssen. Aber zum Schwärmen bleibt mir auch jetzt keine übrig. Ich seh ganz deutlich, wo unser Garten zu Ende ist.

SOPHIE
drollig.
Du Armer, sei nicht traurig deshalb. Dann kommt es noch über dich.
ERNST
belustigt.
Was du nicht sagst!
SOPHIE.
Einmal kommts über Jeden.
ERNST
kurz.
Nun – ich bin zu alt dazu. – Und jetzt wollen wir Licht machen.
SOPHIE
tritt an den Spiegeltisch, auf welchem die Lampe steht: Ja, du Ungeduldiger, ich laß dich ja schon zu deinen Plänen.

Ernst läßt sich am Schreibtisch nieder, Sophie stellt die brennende Lampe vor ihn hin, küßt ihn auf die Stirne und geht rechts ab.
6. Szene
[849] Sechste Szene
Vorige.

Ernst liest in Plänen. Nach einer Weile lehnt er sich zurück, steht dann auf, öffnet den Briefkasten an der Erkertüre und entnimmt ihm Zeitungen und Briefe. Er legt alles auf den Tisch. Nur einen Brief beschaut er bei der Lampe, wirft ihn dann mit einem leisen Fluch vor sich hin und setzt sich wieder. – Pause.

SOPHIE
in der Tür rechts.
War Jemand hier?
ERNST.
Nein.
SOPHIE
eintretend.
Stör ich dich, wenn ich hier im Zimmer bleibe?
ERNST.
Oh nein.

Sophie kommt nach vorn.
ERNST.
Du – da ist übrigens schon wieder so ein Brief.
SOPHIE
erschreckt, eilt zu ihm.
Wieder?
ERNST
ohne sie anzusehn.
Da – siehs mal durch.Hält ihr den Brief hin.
SOPHIE
zögert eine Weile.

Dann reißt sie den Umschlag heftig auf und überfliegt den Brief, im Kreise der Lampe neben Ernst stehend, der sehr vertieft scheint. Sie liest ihn dann noch einmal und langsam ein drittes Mal, schiebt ihn zögernd in den Umschlag und legt die Hand auf Ernstens Schulter. Ich glaube, wir müssen nicht mehr kämpfen.

ERNST
ohne aufzusehen, obenhin.
Wieso?
SOPHIE
legt den Brief auf den Schreibtisch.
Lies!
ERNST
unwillig.
Kind, ich hab wirklich keine Zeit.
SOPHIE
sicher.
Es ist der letzte.
ERNST
sieht auf.
?
[850]
SOPHIE.
Sie hat es heute getan.

Ernst lacht gezwungen auf und liest.
SOPHIE.
Ganz anders. Nicht? Ganz ruhig?
ERNST
legt den Brief unwillig fort.
Ach so laß doch.

Pause.
SOPHIE
nach vorn kommend.
Ich weiß nicht, ich möchte am liebsten einen Augenblick nach Hause, zu den Eltern.
ERNST.
Unsinn.

Sophie setzt sich vorn an den Rand der Couchette. Pause.
ERNST.
Ich hab schon tüchtig Hunger, Kind, werden wir nicht bald nachtmahlen?
SOPHIE
ohne zu verstehen, lauschend.
Pst.
ERNST
sieht sich um.
Was ist denn?
SOPHIE.
Jemand geht im Garten. Mama schickt sicher noch her.
ERNST
ungeduldig.
Ich höre nichts. – Du bist aber auch kindisch.
SOPHIE
heftig.
Pst!
ERNST
steht auf.
Keine Spur.
SOPHIE
entschieden.
Aber so hör doch: Jemand sucht die Tür. Bitte, sieh nach. Sie steht, lauschend, auf.
ERNST
zuckt die Achseln, holt die brennende Lampe und geht langsam zur Erkertür.
Er reißt sie auf, tritt einen Schritt hinaus, in die Dämmerung leuchtend. Ist da Jemand?

Vorhang.

2. Akt

1. Szene
Erste Szene
Bühne wie im Ersten Akt, Frau Gerth sitzt vorn, Ernst steht am Fenster neben dem Schreibtisch.

MUTTER.

Es war recht von dir, Ernst, daß du hast den Doktor kommen lassen. So weiß man wenigstens, woran man ist. Merkwürdig. Die Sophie war immer so gesund, ich hätt nicht gedacht, daß diese Zeit sie so arg hernehmen wird. Aber gewiß: wenn sie das überstanden hat, wird sie erst recht aufblühn. Ernst trommelt an die Scheiben. Du mußt wohl bald in die Kanzlei?

ERNST
sieht auf die Uhr.
Ja, gleich.
MUTTER.

Es ist ein rechtes Malheur, daß du gerade jetzt so außergewöhnlich viel zu tun hast. Und nun schon durch Wochen. Wird das noch lange dauern?

ERNST
wendet sich – kurz.
Warum?
MUTTER.
Du siehst nicht gut aus. Das ist kein Wunder. Es ist wirklich zu viel, was man euch aufbürdet.
ERNST.
Nach dem Sommer, da giebts eine Menge Rückstände.
MUTTER.
So. Ich fürchte nur jeden Tag, wenn du jetzt auch noch krank wirst ...

Ernst macht eine unwillig abwehrende Bewegung.
[852]
MUTTER
steht auf, geht zu ihm und legt ihm die Hand auf die Schulter.

Schau, Ernst, ist es nicht möglich, daß du dir ein bißchen mehr Freiheit schaffst – jetzt – du hast ja ohnehin keinen Urlaub genommen?

ERNST
zögernd.

Ich fühle mich ja wirklich ganz gesund Laut und gequält. und ich muß arbeiten, arbeiten. – Aufblickend. Wirklich, Mama, ich bin jaganz wohl.

MUTTER.

Es ist nicht allein deshalb. Ernst sieht sie fragend an. Das macht nämlich auch, verzeih mir, ich bin immer ganz offen, – daß die Sophie gar so elend ist. Sie ist soviel allein. Ernst zuckt die Achseln. Sie braucht dich doppelt in dieser Zeit. Da will dein Frauchen gehegt und gehätschelt sein. Hat ja Schmerzen um dich. Und ist den ganzen Tag allein und kommt auf allerlei Gedanken.

ERNST
ängstlich.
Glaubst du?
MUTTER.

Ja, sie beobachtet sich und grübelt zu viel. Sie sinnt auf das und dies und warum und wozu. Und zu dem kommt immer die Sorge um dich, ob alles im Hause ist, wie du es brauchst, und ob dir nichts abgeht. Sie möchte gern nach allem sehen und kann es doch nicht und weiß, daß kein Verlaß ist auf die Dienstleute. Das quält sie. Und wenn du dich so wenig um sie bekümmerst, muß sie wirklich glauben, du nimmst ihr übel, daß sie nicht hinter allem her ist. Sie kann doch nicht.

ERNST.
Aber darum handelt es sich ja gar nicht.
MUTTER.

Sie faßt es so auf und grämt sich. – Schau, der Winter ist vor der Tür. – Wenn sie so elend in die kalten Tage hineinkommt – – Pause.

ERNST
schauernd.

Es ist Winter, ja Fährt sich über die Stirne, [853] müde, wie unwillkürlich. und sie ist im Frühling gestorben, – mitten im Frühling ... Rasch. oh ich muß arbeiten – viel arbeiten.

MUTTER
milde.
Laß das, Ernst. Denk nicht daran.
ERNST.
Spricht er noch oft von ihr?
MUTTER.

Der Vater? Er ist noch ganz gebrochen. – Das hab ich dich auch bitten wollen, – wenn du mal zu uns kommst, sprich nicht von Agla mit ihm; es greift ihn zu sehr an. Und denk selbst nicht daran. Ich hab gehofft, du hast es längst vergessen.Pause.

ERNST
geht zur Couchette hin, setzt sich schwer und stützt den Kopf in beide Hände.

Vergessen. Was hab ich denn zu vergessen? Ich hab ja kaum eine Erinnerung an sie. Ich hab sie ja kaum gekannt. Ich weiß ja kaum, wie sie ausgesehn hat. Ich rate ja nur: war sie blond? ja. Ungefähr. War sie klein, war sie ....? Ich rate ja nur. Ich weiß ja nichts. Ich weiß nur, daß sie für mich gestorben ist. Er bricht in Tränen aus.

MUTTER
tritt erschreckt hinzu.
Gotteswillen. Was ist dir denn? Du weißt doch: die Unglückliche war krank, war ...
ERNST
sieht auf und schüttelt den Kopf.
Ich weißgar nichts.
MUTTER
ängstlich.
Sophie ist nebenan. Sie darf nicht ahnen, daß du noch manchmal an Agla denkst.
ERNST
aufstehend.
Ah – drum muß ich arbeiten. Er macht sich bereit, zu gehen.
MUTTER
ruhig.

Noch eine Weile hör mich, Ernst. Du bist doch ein so nüchterner und vernünftiger Mensch, du darfst dich doch nicht hinreißen lassen von solchen Dingen.

ERNST.

Ja. Ich hab mich immer so sicher gefühlt davor, [854] so drüber hinaus ... Aber gerade deshalb. Siehst du, Mama. Ich habe immer Alles verstanden im Leben. Es hat für mich keine Wunder gegeben, nicht einmal Überraschungen. Alles war so klar. Alles war: Arbeit. Sogar meine Liebe, Sophie. Ich hab mir sie still und sicher erworben Schritt für Schritt. Und da auf einmal kommt das Eine, das ich nicht verstehe Laut. es giebt etwas, das ich nicht verstehe. Darüber komm ich nicht hinaus. Ich glaube mir nichts mehr. Ich kann mir ja nichts mehr glauben. Ich bin ja widerlegt. Ich kann von vorn anfangen.

MUTTER.
Du bist nervös.
ERNST
leise.

Also dir ist es nichts Besonderes. Du meinst, das kommt so alle Tage vor. Man spricht nicht weiter darüber. Du hörst zufällig: der und der ist für dich gestorben. Du hast ihn kaum gekannt. Aber du fragst nicht danach. Was war er denn eigentlich? Wie sah dieses Leben aus, das er um deinetwillen zerstört hat; was war drinnen? Du fragst nicht. Es paßt dir so ganz in deine Erfahrungen. Es hält dir einer sein Leben hin, wie ein weißes Blatt, und bittet: schreib deinen Namen drauf. Wenn du's nicht magst – zerreißt er das weiße Blatt natürlich – vor deinen Augen – mitten durch. Das ist ja so einfach. Oh. Schlägt mit einem Seufzer die Hände vors Gesicht.

MUTTER.

Sst! – Ernst, ich bitte dich. Du erschreckst mich. Näher herzutretend. Haben wir nicht früher oft in aller Ruhe darüber gesprochen? Es war doch alles gut. Du bist wirklich überreizt jetzt. Nimm dich doch zusammen. Du kommst darüber weg.

[855]
ERNST.

Ja, wenn ich überm Pult bin. Oder wenn ich in der Fabrik irgendwo mit angreife, wenn ich an der Maschine stehe, und sehe, wie glatt und hart und sicher sich alles dreht. Da ist es fort. Da denk ich, so ist das Leben. Da gehör ich wieder mir – aber ....

MUTTER.

Und wenn du etwas auf eine alte Frau giebst, so will ich dir das beste Heilmittel sagen. Bleib mehr zu Hause. Setz dich zu Sophie. Lies ihr etwas vor, erzähl ihr etwas.

ERNST
macht eine Bewegung der Ungeduld.
MUTTER.

Glaub mir. Sie hat dich so lieb. Sie wird dirs danken. Sie ahnt ja nichts von dem, was dich quält und darfs nicht ahnen. Aber gerade deshalb kann sie dirs so leicht fortnehmen von der Seele. Denkst du denn nie daran, daß sie dir ein Leben unterm Herzen trägt, daß das eine heilige Zeit ist ...


Ernst nickt.
MUTTER.
Willst du denn, daß sie sich grämt, und krank wird, sehr krank ....
ERNST
erschrocken.
Hat der Arzt? ....
MUTTER.
Sie ist so zart.
ERNST
sich aufraffend.

Ich muß jetzt fort. Zögernd. Aber – vielleicht mach ich mich ein wenig frei und bin in einer Stunde wieder da ....

MUTTER
aufatmend.
Ich habs ja gewußt.
ERNST.
Sags ihr.
MUTTER.

Gleich. Wird die sich freuen. Glücklich. Mein lieber starker Junge. Unsereins ist doch auch über manches hinausgekommen und ist doch lang nicht aus so gesundem Holz.

[856]
ERNST
umarmt sie gerührt.
Mama!
MUTTER
Tränen zurückdrängend.
Nun, nun ... geh nur jetzt rasch, damit Sophie nicht lange warten muß. Und du kommst?
ERNST
fest.
Ich versprech dirs.

Durch die Erkertüre ab.
2. Szene
Zweite Szene
Mutter, Sophie.

Mutter geht hin und wieder, rückt die Stühle zurecht, bürstet das Deckchen auf dem runden Tisch ab. Währenddessen tritt von rechts Sophie ein. Sie hat ein weißes lose von den Schultern fließendes Morgenkleid, ist sehr blaß und ängstlich.

SOPHIE
erschrocken.
Gott, Mama, nun räumst du gar auf. Laß mich doch.
MUTTER
sich wendend.
Das fehlte noch. Nun, wie hat mein Frauchen geschlafen?
SOPHIE
müde.
Oh wie immer. Sie will das Deckchen weiter abbürsten.
MUTTER.

Warum nicht gar. Wirst du das lassen, du unvernünftiges .... Wirst du schauen, daß du auf dein schiefes Sofa kommst! Eigentlich hättest du gar nicht aufstehen sollen ....

SOPHIE
zage.
Bin ich denn so krank?
MUTTER.

Ganz wie sichs gehört gehts dem kleinen Mütterchen – nur unvorsichtig ist sie, und steigt zuviel im Haus herum und faßt zuviel an, und drum sollte sie am sichersten im Bett bleiben.

[857]
SOPHIE.
Nein, nein, nur das nicht. Nur nicht im Bett bleiben.
MUTTER.

Das ist ja auch nicht notwendig. Ich weiß ja, du magst viel lieber dein verrücktes Canapee. Wart, ich hol gleich ein Kissen und eine warme Decke herunter.

SOPHIE
wehrt ab.
MUTTER.

Nichts. Da ziert man sich nicht. Mein Frauchen setzt sich jetzt hier her und schaut sich die Zeitung an – Drückt sie in einen der Fauteuils vorn und legt eine Zeitung auf den runden Tisch. und wartet bis ich wiederkomme und ihr das Lager bereite; und dann stellen wir einen bequemen Stuhl hart an das schiefe Canapee – aber das sag ich erst bis ich komme, – für wen.

SOPHIE
nickt lächelnd.
MUTTER.
Und nur wenn sie recht brav war. Küßt die Tochter, – rechts ab.

Sophie sitzt eine Weile da, reglos, so wie man sie hingesetzt hat. Dann erhebt sie sich, indem sie sich mühsam an den Lehnen des Fauteuils emporstemmt, geht mit tappenden Schritten vor den Spiegeltisch, steckt sich das Haar zurecht, läßt dann die Arme in ohnmächtiger Schlaffheit herabfallen und tritt in das nahe Fenster. Draußen ist der herbstliche Park sichtbar. Der Sturm heult im Kamin. Sie schaut eine Weile hinaus, preßt dann das Tuch vor die Augen und weint leise. Pause.
MUTTER
kommt mit Kissen und Decke unter dem Arme durch die Türe rechts zurück, und sieht zuerst nach dem Fauteuil im Vordergrund, in welchem sie die Tochter zurückgelassen hat.

Erstaunt. Was – spielt das Frauchen Verstecken? Sie wirft [858] Kissen und Decke auf den Stuhl. Ich will sie schon finden, ich ... Bemerkt die Tochter im Fenster; diese kommt mit mattem Lächeln nach vorn.

MUTTER.

Was das aber schon wieder ist; so nah beim Fenster! Wo die kalte Luft hereinkommt. So ein Leichtsinn.

SOPHIE.
Das schadet mir nicht. Ich hab nur sehen wollen.
MUTTER.
Was denn? Es ist ja häßlich draußen.
SOPHIE.
Gestern war noch eine Aster in unserm Garten Mit einer Gebärde der Hilflosigkeit. ist schon – fort.
MUTTER.
Ende Oktober. – Komm, Während sie die Kissen schlichtet. leg dich her, damit ich dich zudecken kann.
SOPHIE.
Schon wieder liegen.
MUTTER.

Du bist ja jetzt wieder eine ganze Weile auf den Beinen gewesen, hast einen großen Spaziergang gemacht bis ans Fenster, und warst leichtsinnig wie, immer. Es ist Zeit, daß du dich wieder ausruhst.

SOPHIE
folgt.
Ausruhen.
MUTTER
legt die warme, grüne Decke vorsichtig über sie.
Gut so?
SOPHIE
nickt.
MUTTER.
Soll ich dir vorlesen aus der Zeitung?
SOPHIE.

Nein, danke. Das interessiert mich nicht. Es ist ja so weit von mir, alles das. Erzähl mir lieber ....

MUTTER.

Also – zuerst das von früher. Rückt einen Fauteuil herbei. Siehst du, da stell ich jetzt einen Stuhl ganz nah zu dir her. Und vorläufig setz ich mich drauf. Aber er ist nicht für mich. Vielleicht schon in einer halben Stunde sitzt wer anderer drin – rat mal wer?

SOPHIE.
Bleib du nur, Mama ...
[859]
MUTTER.

Nein, Kind, ich muß ja nach Hause. Heute bin ich ohnehin ungewöhnlich lang ausgeblieben und der, welcher kommt, ist dir auch viel lieber.

SOPHIE
nachsinnend.
Lieber – nein ...
MUTTER.
Doch, doch, glaub ich. Rat nur erst mal.Pause.
SOPHIE
sich plötzlich aufrichtend.
Nein – nein. Er soll nicht kommen. Er soll nicht kommen. Sag es ihm.
MUTTER
erschrocken.
?
SOPHIE.
Ich mag ihn nicht sehn. Es war doch ein großes Unrecht. Es war sicher eine Sünde.
MUTTER.
Wen meinst du denn, Kind?
SOPHIE
ihren Gedanken folgend.

Er hat sie begraben in geweihter Erde und hat ihr den Segen gegeben. Und er hat doch gewußt, daß sie in Sünden gestorben ist und mit Willen ....

MUTTER.
Du darfst deinen alten Lehrer nicht verdammen.
SOPHIE.
Sie ist mit Willen gestorben.
MUTTER.
Er hat Mitleid gehabt mit ihr, und sie war verwirrt.
SOPHIE
erregt.

Warum lügt ihr denn alle? Ihr wißt es doch. Die Agla war so klar wie ich und wie du, als sie ins Wasser ist ... und der Hochwürden hats auch ganz gut gewußt. Nein – ich kann, ich will ihn nicht sehen. Bitte!

MUTTER.
Beruhige dich, Sophie. Er kommt auch nicht. – Ganz jemand anderer ....
SOPHIE
aufatmend.
Jemand – anderer ....
MUTTER
horcht.
Und ich glaube – da ist er schon.
[860]
SOPHIE
lauscht, setzt sich auf, sieht gespannt nach der Tür, – sie geht auf und Ernst stürmt hastig herein.
Ernst?
ERNST
bleibt ein paar Schritte vorher stehen.
Ah – bin ich gelaufen.
MUTTER
zu Sophie.
Nun ist das nicht eine Überraschung.
SOPHIE
verständnislos.
Ja, – warum? ...
ERNST
begrüßend.

Ja – – guten Morgen, Mama, – guten Morgen, Sophie. Küßt ihr Hand und Stirne. Es giebt heute einmal weniger zu tun ... und da darf ich doch wohl ...? Stockt verlegen.

MUTTER.
Nun, ich kann jetzt beruhigt gehn. Ich weiß dich jetzt in guten Händen.
SOPHIE
umarmt die Mutter sehr innig.
MUTTER.

So mein Kind. Nun schön stille daliegen! Brav sein! Und du Zu Ernst. sei streng mit ihr. Sie reicht Ernst die Hand und sieht ihn fest an; sie tauschen einen Blick des Verstehens – Ernst will sie zur Türe geleiten.

MUTTER.
Bleib nur! Adieu, Kinder.
SOPHIE
nickt.
Mit Gott, Mama. Mutter ab.
3. Szene
Dritte Szene
Sophie, Ernst.

ERNST
im Begriffe sich zu setzen.
Darf ich?
SOPHIE.
Wo du willst.

Pause. – Man hört den Sturm.
ERNST.
Dieser Sturm hat mich heute die ganze Nacht gestört.
SOPHIE.

Ja, sei doch so gut und laß mal oben nachsehen. [861] Es muß irgendwo ein Fensterladen los sein. Es schlägt immer so gegen das Haus. Das ängstigt mich.

ERNST
will sich bereitwillig erheben.
So – ich will gleich.
SOPHIE.
Dann – bis du gehst. Es ist ja nur in der Nacht. Schauert.
ERNST
setzt sich wieder.
Wie du meinst.
SOPHIE
zuckt zusammen.
ERNST.
Dir ist kalt, soll ich dir ein Cape ...?
SOPHIE.
Oh nein – das ist nur so.
ERNST.

Übrigens wir werden tüchtig frieren hier – im Winter. Wir sind doch halb und halb auf dem Lande, – ganz frei von allen Seiten ... Wenn man das nicht gewohnt ist ...


Pause.
ERNST.
Wenn nur erst der Winter überstanden ist.
SOPHIE
seufzt.
Ja.
ERNST.

Im Frühjahr wird es hier draußen herrlich sein. Wenn man einen kleinen Garten hat, kommt man dem Frühling näher, man ist – – gleichsam verwandt mit ihm ...

SOPHIE
sieht ihn groß an.
ERNST.
Freust du dich auch darauf?
SOPHIE
müde.
Es ist ja schon hinter uns ...
ERNST
zögernd.
Aber doch immer wieder vor uns? ...

Pause.
SOPHIE
streicht ihm durchs Haar.
Du, Armer.
ERNST.
Arm?
SOPHIE
ungeduldig.
Du bist doch so angestrengt die ganzen letzten Wochen. Du mußt ja müde sein.
ERNST.
Das vergeht rasch.
[862]
SOPHIE
schnell.

Ja und diese kurze freie Zeit sollst du nicht hier versitzen. Nicht – hier bei mir. In der dumpfigen Krankenluft.

ERNST
wehrt ab.
SOPHIE.

Wirklich. Wozu? – Wenn du nun auch noch krank wirst. Denk nur. Geh spazieren, oder ins Kaffeehaus. Du wirst Bekannte treffen, wirst dich amüsieren. Ein gesunder Mensch gehört zu Gesunden. Das ist keine Erholung – das.

ERNST.
Warum kränkst du mich, Sophie?
SOPHIE.

Ich sage nur die Wahrheit; es hat ja keinen Sinn. Ich fürchte mich nicht, ich bin kein Kind. Ich kann allein bleiben.

ERNST.
Das sollst du nun wirklich nicht mehr.
SOPHIE.
Hat Mama das gesagt? Die Gute! Laß sie nur reden. Davon versteht sie nichts. Geh nur!
ERNST
warm.
Bitte, Sophie. Er erfaßt ihre Hände.
SOPHIE.
Was?
ERNST.
Bleiben.

Sie sehen sich einen Augenblick in die Augen. Dann stößt Sophie mit plötzlicher Heftigkeit seine Hände von sich und wendet sich ab. In tiefem Schmerze.
SOPHIE.
Du denkst ja an sie. Jetzt denkst du wieder an sie. Warum bittest du mich?
ERNST
verwirrt.
An wen denke ich, an wen? ....
SOPHIE
mit gesteigertem Zorn und Abscheu.

Geh. In deiner Kanzlei kannst du ja denken an sie, den ganzen Tag. Aber mich verschon doch. Mich verschone. In Verzweiflung. Siehst du denn nicht, daß du mich schändest, wenn du mit diesen Gedanken hereinkommst [863] in mein Zimmer, daß du mich erniedrigst, daß du mich elend machst? Sie bricht in Tränen aus.

ERNST
ist aufgestanden.
Ich verstehe dich nicht.

Pause.
SOPHIE
hebt den Kopf; in plötzlicher Wut packt sie den Fassungslosen beim Arm und zerrt ihn zu sich, so daß er neben ihr auf der Couchette sitzt.

Dann streckt sie die Hand aus. Schau. Siehst du sie? Da. Sie sieht gar nicht so klein aus in dem grünen Kleide, was, gar nicht so wie ein Kind. Und ihre schwarzen Augen, wie die glänzen. Siehst du? Warum lächelt sie so? Du mußt es ja wissen, warum sie so lächelt? Lächelt sie immer so? Und das Haar hat sie gelöst. Sie hat so schönes, schweres, schwarzes Haar. Und so blaß ist sie und doch sind ihre Lippen ganz rot. Ganz blutrot. Sie kommt zu dir. Ganz leise. Sie ist doch gar nicht mehr wie ein Kind, – – Ihre Stimme ist ruhiger, sie schöpft Atem und fragt müde. Siehst du sie?

ERNST
er hat erst erschrocken auf Sophie gesehen, dann folgt er ihrer Hand und ihrem Blick und während sie die Agla beschreibt, wird sein Auge immer schauender, immer verständnisvoller, er trinkt gierig ihre Worte, fast in Verzückung, lauscht noch nach, als sie geendet hat und sagt auf ihre letzte Frage – gläubig.

Ja. Sophie sieht erstaunt und entsetzt sein verzücktes Gesicht und macht ein paar abwehrende Bewegungen mit den Händen, ehe sie in tiefem Schmerz zusammen sinkt. Ernst starrt noch immer nach dem Phantom. Seine Züge werden dunkler und dunkler.


Pause.
ERNST
in jäher Erkenntnis.
Oh. – Er fährt sich mit der Hand über die Stirn. – Ganz erwachend. Verzeih mir, verzeih!

[864] Er umfaßt Sophieen.
SOPHIE
aus Tränen.
Nicht, nicht. Ich laß dich. Du liebst sie.
ERNST
sich über sie neigend.
Nein.
SOPHIE
immer ersterbender.
Du liebst sie.
ERNST.
Ich fürchte mich ja nur so. Hilf mir, Sophie.Schreiend. Ich fürchte mich.
SOPHIE
richtet sich auf und schmiegt sich an ihn.
Fürchtest du dich? Ich auch. Sie halten sich entsetzt fest.
ERNST
vertrauend.
Hilf mir.
SOPHIE.
Hilf du mir.
ERNST
beide rasch in stetem Gestehn.
Sie ist immer da, nicht wahr?
SOPHIE
nickt.
Ja immer.
ERNST
bange.
Und in der Nacht?
SOPHIE
hauchend.
Ja.
ERNST.
Auch bei dir?
SOPHIE
ebenso.
Ja.
ERNST.
Und sie war doch so klein?
SOPHIE.
Ja.
ERNST.
Und schwach?
SOPHIE.
Ja.
ERNST.
Und jetzt?
SOPHIE.
Sie ist furchtbar.
ERNST
mit Entsetzen.
Furchtbar.

Pause.
SOPHIE.
Sie hat dich gekauft. Du.
ERNST.
Oh.
SOPHIE.
Sie hat dich gekauft ...
ERNST.
Ich will nicht. Hilf mir.
SOPHIE
voll Bedauern.
Du ...
[865]
ERNST.
Halt mich recht fest. So. Und nun sag, was wollen wir tun?
SOPHIE
matt.
Ich kann nicht mehr.
ERNST.
Kämpfen, zusammen?
SOPHIE
mutlos.
Nein.
ERNST.
Also – dann – –
SOPHIE
sie tauschen einen Blick, – befreit.
Ja.
ERNST.
Zusammen?

Sophie nickt. Sie umschlingen sich fest. Pause.
SOPHIE
richtet sich auf in namenlosem Entsetzen – tonlos.
Du! –
ERNST
steht auf.
SOPHIE.
Wir können nicht sterben.
ERNST.
?
SOPHIE
gläubig.
Sie ist ja dort.

Ernst läßt sich schwer in den Stuhl, zu Seiten der Couchette, fallen, die Hände vor dem Gesicht. – Pause, Sturm.
4. Szene
Vierte Szene
Vorige.

SOPHIE
streicht ihm leise übers Haar.
Lieber.
ERNST
betrachtet sie – sein Aug wird immer heller.
SOPHIE.
Lieber.
ERNST.
Hast du Schmerzen?
SOPHIE
mit kaum merkbarem Lächeln, schüttelt den Kopf.
ERNST.
Es wird uns retten .....
SOPHIE
leise, innig.
Vielleicht.

Vorhang.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Rilke, Rainer Maria. Dramen. Ohne Gegenwart. Ohne Gegenwart. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-90AE-A