Leichen-Wäsche

Sie hatten sich an ihn gewöhnt. Doch als
die Küchenlampe kam und unruhig brannte
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im dunkeln Luftzug, war der Unbekannte
ganz unbekannt. Sie wuschen seinen Hals,
und da sie nichts von seinem Schicksal wußten,
so logen sie ein anderes zusamm,
fortwährend waschend. Eine mußte husten
und ließ solang den schweren Essigschwamm
auf dem Gesicht. Da gab es eine Pause
auch für die zweite. Aus der harten Bürste
klopften die Tropfen; während seine grause
gekrampfte Hand dem ganzen Hause
beweisen wollte, daß ihn nicht mehr dürste.
Und er bewies. Sie nahmen wie betreten
eiliger jetzt mit einem kurzen Huster
die Arbeit auf, so daß an den Tapeten
ihr krummer Schatten in dem stummen Muster
sich wand und wälzte wie in einem Netze,
bis daß die Waschenden zu Ende kamen.
Die Nacht im vorhanglosen Fensterrahmen
war rücksichtslos. Und einer ohne Namen
lag bar und reinlich da und gab Gesetze.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Rilke, Rainer Maria. Leichen-Wäsche. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-9284-3