Von der Landschaft

Man weiß so wenig von der Malerei des Altertums; aber es wird nicht zu gewagt sein anzunehmen, daß sie die Menschen sah wie spätere Maler die Landschaft gesehen haben. In den Vasenbildern, diesen unvergeßlichen Erinnerungen aus einer großen Zeichenkunst, ist die Umgebung (Haus oder Straße) nur genannt, gleichsam abgekürzt, nur mit dem Anfangsbuchstaben angegeben, die nackten Menschen aber sind alles, sind wie Bäume, die Früchte tragen und Fruchtkränze, und wie Büsche, die blühen, und wie Frühlinge, in denen die Vögel singen. Damals war der Leib, den man bestellte wie ein Land, um den man sich mühte wie um eine Ernte und den man besaß wie man ein gutes Grundstück besitzt, das Angeschaute und Schöne, das Bild, durch welches [516] in rhythmischen Reihen alle Bedeutungen gingen, Götter und Tiere, und alle Sinne des Lebens. Der Mensch, obwohl seit Jahrtausenden dauernd, war sich selbst noch zu neu, zu entzückt von sich, um über sich fort oder von sich abzusehen. Die Landschaft, das war der Weg, auf dem er ging, die Bahn, darin er lief, alle die Spiel-und Tanzplätze waren es, auf denen der griechische Tag verging; die Täler, in denen das Heer sich versammelte, die Häfen, aus denen man zu Abenteuern fuhr und in die man unerhörter Erinnerungen voll und älter zurückkehrte; die Festtage und die geschmückten, silbern klingenden Nächte, die ihnen folgten, die Aufzüge zu den Göttern und der Umgang um den Altar –: das war die Landschaft, in der man lebte. Aber der Berg war fremd, auf dem nicht menschengestaltige Götter wohnten, das Vorgebirge, auf dem sich kein weithinsichtbares Standbild erhob, die Hänge, die kein Hirte gefunden hatte, – sie waren keines Wortes wert. Alles war Bühne und leer, solange der Mensch nicht auftrat und mit seines Leibes heiterer oder tragischer Handlung die Szene erfüllte. Ihn erwartete alles und wo er kam, trat alles zurück und gab ihm Raum.

Die christliche Kunst verlor diese Beziehung mit dem Körper, ohne deshalb der Landschaft sich wirklich zu nähern; Menschen und Dinge waren wie Buchstaben in ihr und sie bildete lange, gemalte Sätze mit einem Alphabet von Initialen. Die Menschen waren Gewänder und nur in der Hölle Leiber; und die Landschaft durfte selten die Erde sein. Fast immer mußte sie, wo sie lieblich war, den Himmel bedeuten, und wo sie Schrecken [517] erregte und wild und unwirtlich war, da galt sie als der Ort der Verbannten und für ewig Verlorenen. Man sah sie schon; denn die Menschen waren schmal geworden und durchscheinend, aber es lag in ihrer Art, die Landschaft ebenso zu empfinden, als eine kleine Vergänglichkeit, als einen Streifen von übergrünten Gräbern, unter denen die Hölle hing und über denen der große Himmel sich auftat als die eigentliche, tiefe, von allem Wesen gewollte Wirklichkeit. Nun da es auf einmal drei Orte gab, drei Wohnungen, über welche viel Redens war: Himmel, Erde und Hölle, – war eine Bestimmung der Örtlichkeit dringend notwendig geworden und man mußte sich sie ansehen und sie darstellen; in den frühitalienischen Meistern wuchs diese Darstellung, über ihren eigentlichen Zweck hinaus, zu großer Vollkommenheit, und man muß sich nur der Malereien im Campo santo zu Pisa erinnern, um zu fühlen, daß die landschaftliche Auffassung damals schon etwas Selbständiges geworden war. Man meinte zwar noch einen Ort anzugeben und nichts mehr, aber man tat das mit solcher Herzlichkeit und Hingabe, man erzählte mit so hinreißender Beredsamkeit und so sehr als Liebender von den Dingen, die an der Erde hingen, an der von den Menschen verleugneten und verdächtigten Erde –: daß jene Malerei uns heute wie ein Loblied auf sie erscheint, in welches die Heiligen einstimmen. Und alle Dinge, die man sah, waren neu, so daß mit dem Schauen sich ein fortwährendes Staunen verband und eine Freude an unzähligen Funden. So kam es von selbst, daß man mit der Erde den Himmel pries und sie kennen lernte, da [518] man Sehnsucht war, ihn zu erkennen. Denn die tiefe Frömmigkeit ist wie ein Regen: sie fallt immer wieder auf die Erde zurück, von der sie ausging, und ist Segen über den Feldern.

Man hatte so, ohne es zu wollen, die Wärme gefühlt, das Glück und die Herrlichkeit, die von einer Wiese, einem Bach, einem Blumenhang und von Bäumen, die fruchttragend beieinanderstehen, ausstrahlen kann, daß man, wenn man nun Madonnen malte, sie mit diesem Reichtum wie mit einem Mantel umgab, sie damit krönte wie mit einer Krone und Landschaften wie Fahnen entfaltete, ihnen zum Lobe; denn man wußte ihnen kein Fest zu bereiten, das rauschender war, keine Hingabe kannte man, die dieser glich: alles eben gefundene Schöne ihnen zuzutragen und mit ihnen zu verschmelzen. Man meinte keinen Ort mehr damit, auch den Himmel nicht, man stimmte die Landschaft an wie ein Marienlied, das in hellen, klaren Farben erklang.

Aber damit war eine große Entwicklung geschehen: man malte die Landschaft und meinte doch nicht sie damit, sondern sich selbst; sie war Vorwand geworden für ein menschliches Gefühl, Gleichnis einer menschlichen Freude, Einfalt und Frömmigkeit. Sie war Kunst geworden. Und schon Lionardo übernahm sie so. Die Landschaften in seinen Bildern sind Ausdrucke seines tiefsten Erlebens und Wissens, blaue Spiegel, in denen geheime Gesetze sich sinnend be trachten, Fernen, wie Zukünfte groß und unenträtselt wie sie. Es ist kein Zufall darin, daß Lionardo, welcher zuerst Menschen wie Erlebnisse malte, wie Schicksale, durch die er einsam [519] hindurchgegangen war, auch die Landschaft als ein Ausdrucksmittel empfand für fast unsagbare Erfahrung, Tiefe und Traurigkeit. Diesem Überholer von vielen noch nicht Gekommenen war es gegeben, alle Künste unendlich groß zu gebrauchen; wie in vielen Sprachen redete er in ihnen von seinem Leben und von seines Lebens Fortschritten und Fernen.

Noch hat niemand eine Landschaft gemalt, die so ganz Landschaft ist und doch so sehr Geständnis und eigene Stimme wie jene Tiefe hinter der Madonna Lisa. Als ob alles Menschliche in ihrem unendlich stillen Bildnis enthalten sei, alles andere aber, alles was vor dem Menschen liegt und über ihn hinaus, in diesen geheimnisvollen Zusammenhängen von Bergen, Bäumen, Brücken, Himmeln und Wassern. Diese Landschaft ist nicht eines Eindrucks Bild, nicht eines Menschen Meinung über die ruhenden Dinge; sie ist Natur die entstand, Welt die wurde und dem Menschen so fremd wie der niebetretene Wald einer unentdeckten Insel. Und Landschaft so zu schauen als ein Fernes und Fremdes, als ein Entlegenes und Liebloses, das sich ganz in sich vollzieht, war notwendig, wenn sie je einer selbständigen Kunst Mittel und Anlaß sein sollte; denn sie mußte fern sein und sehr anders als wir, um ein erlösendes Gleichnis werden zu können unserem Schicksal. Fast feindlich mußte sie sein in erhabener Gleichgültigkeit, um unserem Dasein eine neue Deutung zu geben mit ihren Dingen.

Und in diesem Sinn ging die Gestaltung jener Landschaftskunst vor sich, die Lionardo da Vinci vorahnend [520] schon besaß. Langsam bildete sie sich aus, in den Händen Von Einsamen, durch die Jahrhunderte hin. Sehr weit war der Weg, der gegangen sein mußte, denn es war schwer, sich der Welt so weit zu entwöhnen um sie nicht länger mit dem voreingenommenen Auge des Einheimischen zu sehen, der alles auf sich selbst und auf seine Bedürfnisse anwendet, wenn er es schaut. Man weiß, wie schlecht man die Dinge sieht, unter denen man lebt, und daß oft erst einer kommen muß von fern, um uns zu sagen was uns umgiebt. Und so mußte man auch die Dinge von sich fortdrängen, damit man später fähig wäre, sich ihnen in gerechterer und ruhiger Weise, mit weniger Vertraulichkeit und in ehrfürchtigem Abstand zu nähern. Denn man begann die Natur erst zu begreifen, als man sie nichtmehr begriff; als man fühlte, daß sie das Andere war, das Teilnahmslose, das keine Sinne hat uns aufzunehmen, da war man erst aus ihr herausgetreten, einsam, aus einer einsamen Welt.

Und das mußte man, um an ihr Künstler zu sein; man durfte sie nichtmehr stofflich empfinden auf die Bedeutung hin, die sie für uns besaß, sondern gegenständlich als eine große vorhandene Wirklichkeit.

So hatte man den Menschen empfunden zur Zeit, da man ihn groß malte; aber der Mensch war schwankend geworden und ungewiß, und sein Bild floß dahin in Verwandlungen und war kaum mehr zu fassen. Die Natur war dauernder und größer, alle Bewegung war breiter in ihr und alle Ruhe schlichter und einsamer. Es war eine Sehnsucht im Menschen, mit ihren erhabenen Mitteln von sich zu reden wie von etwas ebenso Wirklichem, [521] und so entstanden die Bilder von Landschaften, in denen nichts geschieht. Leere Meere hat man gemalt, weiße Häuser in Regentagen, Wege, auf denen keiner geht, und unsäglich einsame Wasser. Immer mehr entschwand das Pathos und je besser man diese Sprache verstand, in desto schlichterer Weise gebrauchte man sie. Man versenkte sich in die große Ruhe der Dinge, man empfand, wie ihr Dasein in Gesetzen verging, ohne Erwartung und ohne Ungeduld. Und still gingen unter ihnen die Tiere umher und ertrugen wie sie den Tag und die Nacht und waren voll von Gesetzen. Und als der Mensch später in diese Umgebung trat, als Hirte, als Bauer oder einfach als eine Gestalt aus der Tiefe des Bildes: da ist alle Überhebung von ihm abgefallen und man sieht ihm an, daß er Ding sein will.

In diesem Aufwachsen der Landschafts-Kunst zu einem langsamen Landschaft-Werden der Welt liegt eine weite menschliche Entwicklung. Der Inhalt dieser Bilder, der so absichtslos aus Schauen und Arbeit entsprang, spricht uns davon, daß eine Zukunft begonnen hat mitten in unserer Zeit: daß der Mensch nichtmehr der Gesellige ist, der unter seinesgleichen im Gleichgewicht geht, und auch derjenige nichtmehr, um dessentwillen Abend und Morgen wird und Nähe und Ferne. Daß er unter die Dinge gestellt ist wie ein Ding, unendlich allein und daß alle Gemeinsamkeit aus Dingen und Menschen sich zurückgezogen hat in die gemeinsame Tiefe, aus der die Wurzeln alles Wachsenden trinken.

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TextGrid Repository (2012). Rilke, Rainer Maria. Theoretische Schriften. [Aufsätze und Rezensionen]. Von der Landschaft. Von der Landschaft. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-92A3-E