[752] 4. 1

O dieses ist das Tier, das es nicht giebt.
Sie wußtens nicht und habens jeden Falls
– sein Wandeln, seine Haltung, seinen Hals,
bis in des stillen Blickes Licht – geliebt.
Zwar war es nicht. Doch weil sie's liebten, ward
ein reines Tier. Sie ließen immer Raum.
Und in dem Raume, klar und ausgespart,
erhob es leicht sein Haupt und brauchte kaum
zu sein. Sie nährten es mit keinem Korn,
nur immer mit der Möglichkeit, es sei.
Und die gab solche Stärke an das Tier,
daß es aus sich ein Stirnhorn trieb. Ein Horn.
Zu einer Jungfrau kam es weiß herbei –
und war im Silber-Spiegel und in ihr.

Fußnoten

1 Das Einhorn hat alte, im Mittelalter immerfort gefeierte Bedeutungen der Jungfräulichkeit: daher ist behauptet, es, das Nicht-Seiende für den Profanen, sei, sobald es erschiene, in dem »Silber-Spiegel«, den ihm die Jungfrau vorhält (siehe: Tapisserien des XV. Jahrhunderts) und »in ihr«, als in einem zweiten ebenso reinen, ebenso heimlichen Spiegel.


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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Rilke, Rainer Maria. 4. [O dieses ist das Tier, das es nicht giebt]. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-9463-E