[199] [201]Gottselige Betrachtung, wie ein rechtschaffener Christ sich selber müsse hassen, verleugnen und sich Gott, dem höhesten Gute, allein gelassen

1.
Wer Christum recht wil lieben,
Muß selbst verleugnen sich
Vnd gäntzlich von sich schieben
Der alten Schlangen Stich:
Ich meyne solche Lust,
In der wir uns gefallen,
Wie Adams Kindern allen
Dieselb ist wol bewust.
2.
Wer sich nicht selbst wil hassen
Und seiner Wercke schein,
Kan Christum nimmer fassen
Noch auch sein Diener seyn;
Denn wer in Gottes Hauß
Mit gantzer Macht wil dringen,
Der muß vor allen Dingen
Die Hoffart treiben auß.
3.
Wie nicht zur Frucht kan werden
Das edle Weitzen-Korn,
Es sey denn in der Erden
Durch faulen schier verlohrn:
So wil der höchste Gott
Auch keinem nicht erscheinen,
Biß er durch kläglichs weinen
Sich selber wird zum Spott.
[201] 4.
Geh' aus von deinem Lande,
Sprach Gott zu Abraham;
O Mensch', in diesem Stande
Spring' aus dem Sünden-Schlam'.
Ach denck' jetzt, wer du bist
Und wie du Gott betrübest,
Wo du dich selber liebest?
Fürwar, kein rechter Christ.
5.
Gleich wie es nie geschehen,
Daß einer hat zugleich
Gen Himmel auffgesehen
Und nach der Erden-Reich,
So kans auch gar nicht seyn,
Sich neben Gott zu setzen
Und dem sich gleich zu schätzen;
Gott wil die Ehr' allein.
6.
Das höchste Gut im Leben,
Dem Menschen zugewand,
Daß Gott uns hat gegeben,
Ist Liebe nur genandt;
Diß höchste Gut ist Gott,
Dem solt du dich zu kehren,
Allein' jhn zu verehren
Und nicht des Satans Rott.
7.
Was du von Hertzen meynest,
Ist dir an Gottes statt;
Wenn du es gleich verneinest,
So zeugt es doch die That.
Der, so sich liebt zu sehr,
Darff über Gott sich heben,
Dem Schöpffer widerstreben
Und rauben jhm sein' Ehr'.
8.
Ist Gott, wie wir bekennen,
Der Anfang und das Ziel,
Daß A und O zu nennen,
Was zweifflen wir denn viel,
Leib, Leben, Hertz und Muht
Allein' jhm zuzuwenden?
Denn er wil vns ja senden
Sich selbst, das höchste Gut.
9.
Laß dich die Lieb' entzünden,
Nicht die vergänglich ist,
Als die, so leicht zu finden
Im faulen Sünden-Mist.
Ach nein, diß Ungeheur
Sol alle Welt verfluchen.
Wir Christen wollen suchen
Ein besser Liebes-Feur.
10.
Daß Feur bleibt nicht auf Erden,
Es schwinget sich hinauff
Und wil erhöhet werden
Durch seinen schnellen Lauff;
Der Liebe Feur in dir,
Das sol vor allen dingen
Sich in den Himmel schwingen
Mit himlischer Begier.
11.
Noch wil ich ferner lehren,
Wie der, so Christum liebt,
Sich gar nicht sol verehren,
Als der jhm selber gibt,
Was Gott' allein gebührt.
Wer dessen Lob nicht suchet,
Derselb' ist gantz verfluchet,
Der Hellen zugeführt.
12.
Die schöne Leibes Gaben,
Verstand, Glück, Ehr' und Geld
Sampt allem, was wir haben,
Hat Gott uns zugestellt.
Weil diese Brünnelein
Nun sich aus jhn' ergiessen,
So müssen sie auch fliessen
Zum selben Meer hinein.
13.
Gleich wie der Sonnen Strahlen,
Wen sie mit vollem Lauff'
Ein gantzes Land bemahlen,
Viel Blümlein schliessen auff,
Die wiedrumb suchen sehr
Die Sonn' ans Himmels enden:
So solt du alles wenden
Zu Gottes Preiß' und Ehr'.
14.
Als jenner König lobte
Die Babel, seine Macht,
Und gleich für Freuden tobte
Voll Hoffart, Stoltz und Pracht,
Da ward er toll und wild.
Das heist sich selber lieben;
Diß ist, O Mensch, geschrieben
Der Welt zum klaren Bild.
[202] 15.
Ach stelle deinen Willen
Nach Gottes Willen an,
Der deine Bitt' erfüllen
Und dich erhöhen kan.
Doch zeug' es mit der That:
Dein Fleisch must du bezwingen,
Denn wirst du vollenbringen,
Was Gott befohlen hat.

Notes
Erstdruck in: Risten Himlischer Lieder das fünffte und letzte Zehen, Lüneburg (Johann u. Heinrich Stern) 1642.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Rist, Johann. Gottselige Betrachtung. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-99DD-5