Ludwig Rubiner
Blätter für die Kunst

[Stefan George]

[213] Das edle Herz Romain Rollands hat in dem Menschlichkeitsbuche Au-dessus de la mélée nicht allein alle Stimmen zu hören gesucht, die sich gegen den Krieg erhoben, sondern Rolland bat auch um die Achtung der Welt für alle, die sich in Trotz oder Trauer mit bewußtem Schweigen fernhielten. Er nannte als solchen schweigenden Gegner des Krieges die Blätter für die Kunst, jene Sammelveröffentlichung, wie man weiß, der Freunde des Dichters Stefan George.

Eine ganze Generation von Deutschen wurde im Kunstdenken Georges erzogen, und wo seit 1900 im deutschen Schrifttum künstlerisch geglückte Beschreibung und edel geschulte Bildungssprache auftauchen, stehen sie unter dem Eindruck Georges. Romain Rolland, wie jeder wirklich großmütige Mensch, nimmt im vorhinein an, daß eine erhobene Sprache nur aus einer erhobenen Menschlichkeit kommen kann. Wäre es nicht schön, zu finden, daß einmal wenigstens die Sprachformer einer Nation für die Menschheit fühlten? Das würde die Erde ihren Kindern in ewiger Dankbarkeit gedenken. Denn seit dieser Krieg herrscht, haben die Dichter von Namen uns Mitmenschen im Stich gelassen, sie haben sich von der Attitüde plumpster Monumentalrepräsentation treiben lassen, und sie wetteiferten mit den Menschen, um den Todeskampf der Völker gewaltsamer noch zu stacheln.

Aber wir, in unserer höchsten Not, wir müssen endlich einmal das Dichterwort anschauen, ob es Rückgrat der einfachsten, unumgänglichsten Menschlichkeit ist.

Der einzige Band, der während des Krieges erschien, der vom Ende des Jahres 1914, sei geöffnet bei einem Verszyklus, der den auffallenden Titel»Staatsgedichte« trägt. Da steht:


Das Menschentum, das deutsches Wesen schafft
Geduldig bis zur Trägheit, schwer vor Fülle,
[213]
Unscheinbar hinter Zucht und Wucht und Hülle,
Bricht nun aus dem bedrohten Herd als Kraft,
Die alle Schlacken auswirft und verschweißt.
O Volk, geprüft durch Feind und eigne Schänder,
Geheimer Kern und Ausbund aller Länder,
Wie bist du wieder Erz und Glut und Kraft!

Also ganz simple alldeutsch-treitschkeartige chamberlainhafte Kriegslyrik (ohne Angabe des Verfassers, wie alle Beiträge des Bandes).

Man fragt, wer sind die »eignen Schänder« des deutschen Volkes. Der namenlose Dichter gibt an einer andern Stelle Auskunft. Er sagt in, von ihm gesetzten, höhnischen Anführungszeichen:


»Ist's nicht die Pflicht der Seher und der Fürsten
Geduld zu haben mit dem untern Dürsten,
Den Tisch zu öffnen für die dumpfen Haufen,
Die sich um Brot mit heftigen Armen raufen,
Gezeugt durch Not; daß Zahl die Not vermehre:
Die Ausgeburten gnadenloser Nächte,
Die für uns frohnden in dem Qualm der Schächte?«

Dieser Dichter meint also: nein, das sei nicht Pflicht. Doch er ist zudem falsch informiert. Er will offenbar den Demokratismus treffen. Aber die von ihm genannte Forderung, nämlich die Gnade, daß Minister und Fürsten »Geduld« mit dem Unterdrückten haben und ihm geschenkweise den »Tisch öffnen« mögen, also das Leben geschenkweise gewähren mögen: Dieses kindliche Programm wagt nicht einmal mehr der bösartigste agrarkonservative Politiker auszudenken. Selbst der ärgste Idiot weiß, daß die allergeringste Forderung Geschenke abzulehnen hat und mit dem Begriff »Rechte« beginnt. Nur der »Dichter« darf bei uns ahnungslos sein!

Aber der Staats-Rhapsode der Blätter für die Kunst findet auch die von ihm zitierte Forderung (die ihm doch nur ein Spaßvogel als Volkswunsch angegeben haben kann) noch abscheulich. Er sagt:


Die Gnade strömt nicht nach Bedarf und Zwecke –
Was kennt ihr sonst? – zur Atzung hohler Magen;
Sie schafft das Heil; doch lindert keine Plagen.

[214] Das heißt: Der Antrag auf Linderung der »Plagen« durch »Atzung« (wie menschlich ausgedrückt!) »hohler Magen«, selbst vermittelst irgendeiner »Gnade« wird von dem georgeschen Anonymismus abgelehnt. Indessen spricht dieser Dichtersmann auch kaltlächelnd aus, was im ganzen kriegführenden Europa niemand laut zu sagen gewagt hat, einen Wunsch, den stets jede kriegführende Macht der ihr feindlichen zugeschoben hat.

Er dichtet frohen Herzens davon, wie der Krieg alle Träger volkshafter Ideen beseitigte:


Nun fegt der Fluch sie wie verwelkte Blätter
In Not und Kot: Ihr Schreien »macht uns sätter«
Ist kein Gebet, das den Erlöser wecke.

Der politische Versemacher der Blätter für die Kunst nenne sich. Er ist uns allen Verantwortung schuldig. Wenn öffentliche Äußerung überhaupt noch einen Sinn hat, dann hat dieser zeitgemäße Dichter nichts anderes getan, als einen Aufruf in Versen erlassen, die Ansage einer durch den Krieg unterstützten Bartholomäusnacht zur Ermordung aller Kameraden der Freiheit.

Aber Ihr, meine Freunde, hat denn einer von uns je an dieser Möglichkeit von der Umgebung des Dichters gezweifelt? Man entgegnet uns, daß der gefundene Sinn hier überraschend und unbeabsichtigt sei. Um so schlimmer; denn der öffentliche Sprecher ist das verantwortlichste Wesen. Man sagt uns, daß die Sprache erst den Sinn im Leser und Hörer bildet; und daß der edle Ausdruck der Form untrennbar von einem edlen Inhalt sei: Sehr richtig! Legen wir Rechenschaft ab, wofür die Ausdrucksform dieser Dichter ein inneres Zeichen ist. Eine so abgetane, spezialistisch verweste und kleine literarische Provinzangelegenheit gegenüber jeder Weltdichtung heute auch die Gedichte des George-Kreises sein mögen: Das haben wir doch schon lange gewußt, daß die Verse des Meisters George selbst nur die Schulung, die Organisation, die Herzlosigkeit und den Musiktakt einer uns wohlbekannten Gesinnung darstellten, den Zwang, die Vergewaltigung der Menschheit und den hochmütigen Haß, selbst in der Idylle noch. Wer von uns den Blick hundert Jahre voraus einstellte, der hat es gewußt, daß nicht Dilettanten, sondern ein Dichter in [215] dichterischen Formen das Manometerzeichen des bourgeoisesten Weltimperialismus war. Diesen Imperialismus gibt es heute nicht mehr. Und nun mögen die Dichter, die jener Epoche angehörten, den Mund halten. Mögen sie endlich offen in die Reklamebureaus der imperialistischen Warenhäuser eintreten, die uns diesen Krieg geliefert haben. Dort ist ihr Platz, als Preistitelschreiber für Massengrabsteine, als Drogenverkäufer von echtem Aasgeruch und als Schmuckhändler an den Leibern ihrer Mitmenschen.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Rubiner, Ludwig. Schriften. Blätter für die Kunst. Blätter für die Kunst. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-9F06-C