Die verzauberte Jungfrau

Die Jungfrau, die verzaubert dort
Sitzt in der Höhle Grunde,
Hat auf Erlösung fort und fort
Gewartet bis zur Stunde;
Wer sich an die Erlösung wagt,
Muß einen Kuß nur unverzagt
Aufdrücken ihrem Munde.
Allein beim Küssen ziert sie sich,
Und gar nicht hold jungfräulich,
Verwandelnd umgebiert sie sich
In viel Gestalten greulich,
Daß nur ein unerschrockner Mann
Es ansehn und sie küssen kann,
Wie sie sich stellt abscheulich.
Da war ein Schneider jung und keck,
Der kühnste Mann auf Erden,
Dem saß das Herz am rechten Fleck:
»Magst du dich nur gebärden!
Und was du thust und was du sagst,
Und wie du dich verwandeln magst,
Du sollst erlöset werden.«
Die Jungfrau ward von Angesicht
Zum schrecklichsten der Drachen;
Der tapfre Schneider zittert nicht
Und küßt sie auf den Rachen;
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Die Jungfrau wird ein grimmer Leu,
Schon will der Schneider, auch nicht scheu,
Zum Kuß sich fertig machen.
Die Jungfrau wird zum Krokodil,
Er will zum Kusse schreiten;
Und wie sie sich verwandeln will,
Er wird sie doch erstreiten.
Zuletzt wird sie ein Ziegenbock,
Da rennt er über Stock und Block:
»Dich mag der Teufel reiten!«

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Rückert, Friedrich. Gedichte. Lyrische Gedichte. Viertes Buch. Haus und Jahr. Dritte Reihe. Des Dorfamtmannsohns Kinderjahre. Die verzauberte Jungfrau. Die verzauberte Jungfrau. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-A23D-D