[263] Wanderlied

Dem Wandersmann gehört die Welt
In allen ihren Weiten,
Weil er kann über Thal und Feld
So wohlgemut hinschreiten.
Die Felder sind wohl angebaut
Für andre und von andern;
Ihm aber, der sie sich beschaut,
Gehören sie jetzt beim Wandern.
Durch Wiesen schlängelt sich ein Pfad
Wie zwischen Blumenbeeten.
Ich weiß nicht, wessen Fuß ihn trat;
Er ist für mich getreten.
Und neben in das Gras hinein,
Wo sie wohl Futter holen,
Das Grün ist auch beim Wandern mein,
Ein Teppich für meine Sohlen.
Der Baum, der hier am Wege steht,
Wem mag er Frucht erstatten?
Doch weil mein Weg vorübergeht,
So gibt er mir den Schatten.
Sie haben ihn hieher gesetzt
Wohl nicht zu meinem Frommen;
Ich aber glaube, daß er jetzt
Sei eigens für mich gekommen.
Der Bach, der mir entgegenrauscht,
Kommt her, mich zu begrüßen,
Durch Reden, die er mit mir tauscht,
Den Gang mir zu versüßen.
Und wenn ich seiner müde bin,
Er wartet auf mein Winken,
Gleich wendet er sich zur Rechten hin,
Und ich zieh' fort zur Linken.
Die Lüfte sind mir dienstbar auch,
Die mir im Rücken wehen,
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Sie wollen doch mit ihrem Hauch
Mich fördern nur im Gehen.
Und die ins Angesicht mich küßt,
Sie will mir auch nicht schaden:
Es ist die Ferne, die mich grüßt,
Zu sich mich einzuladen.
Der Regen und der Sonnenschein
Sind meine zwei Gesellen,
Die, einer hinterm andern drein,
Abwechselnd ein sich stellen.
Der Regen löscht der Straße Staub,
Die Sonne macht sie trocken;
Daneben wollen Gras und Laub
Sie aus dem Boden locken.
Und spannt in ihrem Wechselspiel
Sich aus ein Regenbogen,
Komm' ich, entgegen meinem Ziel,
Darunter hergezogen.
Der Bogen ist für mich gespannt,
Weil ich darunter walle;
Zu Trägern sind die Berg' ernannt,
Daß er auf mich nicht falle.
Und wo ein Dorf entgegentritt,
Da hör' ich Glocken läuten.
Sie meinen selber mich damit,
Was könnt' es sonst bedeuten?
Sie läuten etwan einer Braut,
Vielleicht auch einem Toten;
Ich aber deut' auf mich den Laut:
Ein Gruß wird mir geboten.
So zieh' ich im Triumphgesang
Entlang die lange Straße;
Und nie wird mir um etwas bang',
Das ich im Rücken lasse.
Wie eines hinter mir entweicht,
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So kommt gleich her das andre;
Und nie hab' ich das End' erreicht
Der Welt, soweit ich wandre.

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TextGrid Repository (2012). Rückert, Friedrich. Gedichte. Lyrische Gedichte. Viertes Buch. Haus und Jahr. Sechste Reihe. Herbst. Wanderlied. Wanderlied. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-A944-7