[O Herz! Du sollst an diesem letzten Tage]

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O Herz! Du sollst an diesem letzten Tage
Von deinen Banden muthig dich befrei'n;
Doch hörst du nicht was ich dir warnend sage,
Siehst du es morgen; doch zu spät wird's seyn.
Zu Rüste geh'n musst du dein Leben schauen,
Doch schaffe diess dir nicht vergeb'ne Pein;
Und solltest meinem Worte du misstrauen,
Siehst du es morgen; doch zu spät wird's seyn.
»Ich stamme – prahlst du – von moslim'schem Stamme,
Kein Kerker schliesst den freien Geist mir ein;
In meiner Seele loht des Glaubens Flamme.«
Du siehst es morgen; doch zu spät wird's seyn.
Es sehnt dein Herz sich stets nach Honigraube,
Allein versüsst er dir die Lippe? Nein.
Stets auf der Zunge nur wohnt dir der Glaube;
Du siehst es morgen; doch zu spät wird's seyn.
Fünf bis sechs Worte nur hast du gelesen,
Und schon entsagst du milder Hoffnung Schein;
Ungläubig bleibst du, wie du's stets gewesen;
Du siehst es morgen; doch zu spät wird's seyn.
Zum Schein nur sprichst du die Bekenntnissworte,
Und fädelst nie der Thaten Perle ein,
Und schläfst beständig an der Trägheit Pforte;
Du siehst es morgen; doch zu spät wird's seyn,
Von Wahrheit fern, umkreisest Ungeweihtes
Bald näher und bald ferner du; allein
Diess heisst Gebet wohl nur in deinem Wahne;
Du siehst es morgen; doch zu spät wird's seyn.
Wenn nun der Fastenmond herangerücket,
Lockt das Verborg'ne dich im heil'gen Schrein;
Die rohe Gierde ist's, die dich berücket;
Du siehst es morgen; doch zu spät wird's seyn.
Du hast den Weg der Kaba eingeschlagen,
Geld sammelnd nur, und funkelndes Gestein;
Nur desshalb mag die Wallfahrt dir behagen;
Du siehst es morgen; doch zu spät wird's seyn.
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Von Gott verirrt, hast du nur Schmach erworben;
Dich hüllen hunderttausend Schleier ein;
Du nährst den Leib, doch ist dein Herz erstorben;
Du siehst es morgen; doch zu spät wird's seyn.
Du liessest, falscher Richter, dich bestechen;
Doch frommten wohl dir freche Räuberei'n?
An deinem Brote klebet das Verbrechen;
Du siehst es morgen; doch zu spät wird's seyn.
Du sollst der Waisen Habe nicht berühren
– Lehrt das Gesetz – denn sie ist nimmer dein.
Durch schnödes Silber liesst du dich verführen;
Du siehst es morgen; doch zu spät wird's seyn.
Als Pred'ger sprichst du von der Menschheit Schwächen,
Und birgst dich hinter'm Vorhang härchenfein;
Wo sind die Thaten die dem Wort entsprächen?
Du siehst es morgen; doch zu spät wird's seyn.
Du predigst auf der alten Kanzel Zinne,
Man hört dich Perlen in die Worte streu'n;
Wohlan! doch handle auch in gleichem Sinne;
Du siehst es morgen; doch zu spät wird's seyn.
O Greis, der nach dem alten Weibe schmachtet!
Sprich einmahl wahr in deiner Freunde Reih'n:
Hast rühmlich nach dem Rechte du getrachtet?
Du siehst es morgen; doch zu spät wird's seyn.
Der Arme wird fürwahr in beiden Welten
Der Erste seyn in jeglichem Verein;
Für einen Bettler wird ein Fürst dir gelten.
Du siehst es morgen; doch zu spät wird's seyn.
Du Gier'ger, dürstend nur nach ir'dscher Ehre,
Gott gab dir Reichthum und du nennst ihn dein;
Doch glaubst du, Thor, dass er wohl ewig währe?
Du siehst es morgen; doch zu spät wird's seyn.
Mit Unrecht häufst du, was der Zehend spendet,
Durch Jahre auf; doch kann es wohl gedeih'n?
Wenn rings um dich sich Alles dreht und wendet
Siehst du es morgen; doch zu spät wird's seyn.
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O armer Thor, der du dich selbst verrathen!
Sprich, weisst du nicht dass wir dem Tod uns weih'n?
Die Bahre ist die Arche uns'rer Thaten;
Du siehst es morgen; doch zu spät wird's seyn.
Der Lebensräuber sehnt sich nach der Seele,
Der Teufel reizt; ihn kann nur Böses freu'n;
Beständig ruft er, spornend dich zum Fehle:
Du siehst es morgen; doch zu spät wird's seyn.
Der Erbe sinnt, dass er stets reicher werde;
Das Weib will einen ander'n Gatten frei'n;
Im Leichentuch, das Haupt voll Staub und Erde,
Siehst du es morgen; doch zu spät wird's seyn.
Die Knoten lösend, die dein Thun beschweren,
Mög'st du auch Ander'n deine Schätze leih'n,
Will's gleich der böse Satan dir verwehren;
Du siehst es morgen; doch zu spät wird's seyn.
Im Leben sollst du Freude dir erlesen,
Denn, bist du todt, was nennst du dann noch dein?
Du bist der Ander'n Anwalt nur gewesen;
Du siehst es morgen; doch zu spät wird's seyn.
Willst du beglückt auf dieser Erde leben,
So lass' dich nie des argen Frevels zeih'n,
Du wollest über'm Grab nach Reichthum streben;
Du siehst es morgen; doch zu spät wird's seyn.
Horch des Tebriser's Wort; er biethet Frieden;
Horch schweigend ihm, sein Wille ist so rein;
Wo nicht, so sind auf immer wir geschieden;
Du siehst es morgen; doch zu spät wird's seyn.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Rumi, Ǧalāl o’d-din. Lyrik. Gedichte des Sams aus Täbris (Auswahl). [O Herz! Du sollst an diesem letzten Tage]. [O Herz! Du sollst an diesem letzten Tage]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AC71-7