[Eines Augenblickes Dauer]

[97][99]
Eines Augenblickes Dauer
Taucht' ich in der Liebe Meer,
Und im Meer der Liebe schaut' ich
Hunderttausend Perlen hehr.
Plötzlich sandt' ich einen Blick hin
Aus dem Augen reger Kraft,
Und die Welt sah ich verwirret
Durch der Liebe Leidenschaft.
Chiser ward ich, fand des Lebens
Süssen Quell um Mitternacht,
So dass ew'ge Lebensdauer
Mir im Liebesweine lacht.
Moses gleich, sprach ich: »O Schöpfer,
Zeige dich mir klar und hehr!«
Und vom Herrn der Liebe schallten
Hunderttausend: »Nimmermehr!«
Issa gleich, beleb' ich Todte,
Durch des Hauches sanfte Spur;
Dieses sinn'ge Räthsel löset
Dir der Name »Liebe« nur.
Salomonen ähnlich strebe
Nicht nach eitlem Prunk der Welt,
Denn sonst bleibst du schwach und irre
Auf der Liebe weitem Feld.
Mohammeden ähnlich wandle
Immer auf des Rechtes Bahn,
Und zur hohen Liebes-Kanzel
Hebt sich dann der Fuss hinan.
Bleib', wie Joseph, eine Weile
Sitzen in dem finstern Brunn,
Denn dann lässt der Fürst der Liebe
Auf Egyptens Thron dich ruh'n.
Sprich von menschlichem Geheimniss
Nimmer, wie der Molla thut:
Wenn des Meeres Woge brauset,
Wird der Liebe Meer zu Blut.
[99][101]
Sieh des Herzens Wunderwelle,
Die dem Liebesmeer entsprungen;
Sie erhebt sich, um zu zeigen
Wie sich Lieb' empor geschwungen.
Die Gestalt der Freudenwelle
Prangt in unermess'nen Räumen;
Lass von Breite und von Länge
Nichts im Liebesfeld dir träumen!
O Verstand! Erschliess' das Auge
Um zu blicken mit Vertrauen,
Denn du kannst auf meiner Wange
Die Gestalt der Liebe schauen.
Hin zum Lichte drängt das Licht sich;
Doch der Blinde kann's nicht wissen:
Zweifelsohne wird auch Liebe
Stets nur Liebe suchen müssen.
Ungeboren, stirbt die Liebe,
Die von Hefen rein ist, nimmer;
Liebe altert nicht; nein, ewig
Glänzt sie in der Jugend Schimmer.
Wissenschaft, vom Schöpfer stammend,
Ward von früher Huld geleitet.
Wird dem weisen Mann der Liebe
Je des Alters Schmach bereitet?
Huris, Paradiese steigen
Ihm aus Stein und Felsenspalten:
Vor dem Herzensblick der Liebe
Kann sich nichts verborgen halten.
Was da ausströmt inn're Wärme,
Zuckersüsse Früchte spendet,
Leben schenket deinem Leben,
Ist der Strahl, den Liebe sendet.
Ja, Vĕlēd war vor der Schöpfung
Mit dem alten Gott verbunden:
Liebeswein aus Gottes Becher
Musst' ihm ohne Lippe munden.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Rumi, Ǧalāl o’d-din. Lyrik. Gedichte des Sams aus Täbris (Auswahl). [Eines Augenblickes Dauer]. [Eines Augenblickes Dauer]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-ACE3-9