[200] Conte Gasparo

1.

[201] [205]I.

Ich sehe ihn noch vor mir, wie er ins Regiment kam: eine stramme Gestalt über Mittelgröße, knochig, sehnig, mit breiten Schultern und einem wahren Stiernacken, aus welchem ein verhältnismäßig kleiner Kopf saß. Das Gesicht kräftig gefärbt, hervorragende Backenknochen, stark entwickelter Unterkiefer und eine zwar nicht niedrige, aber schmale und zurückweichende Stirn. Ein mächtiger, fuchsroter Schnurrbart verlieh diesem Gesicht ein höchst martialisches Ansehen, bei näherer Betrachtung jedoch erkannte man, daß die Züge, die sich beim Sprechen stets zu einem freundlichen Grinsen zusammenzogen, sehr sanftmütig waren und daß die kleinen vergißmeinnichtblauen Augen ungemein wohlwollend, ja zärtlich blickten. Auch die Stimme des neu angekommenen Hauptmanns hatte durchaus nichts Kriegerisches, Rauhes. Sie klang vielmehr in einem weichen, modulationsfähigen Tenor, der sich besonders im Italienischen sehr angenehm anhörte. Und das Italienische war ja die Muttersprache des Conte Gasparo Nardini, der als letzter Sproß eines verarmten Adelsgeschlechtes im ersten Dezennium dieses Jahrhunderts zu Bologna das Licht der Welt erblickt hatte. Über seinem bisherigen Leben lag ein gewisses Halbdunkel, das selbst der hartnäckigste Vorwitz nicht vollständig aufzuhellen vermochte. Jedenfalls hatte er bereits gegen Ende der dreißiger Jahre als Offizier in einem Kavallerieregimente gedient, aber – wahrscheinlich infolge einer unangenehmen Affäre – seine [205] Charge quittiert. Hierauf war er in päpstliche Dienste getreten. In welcher Eigenschaft, stand dahin. Soviel aber war gewiß, daß er sich während der italienischen Wirren im Jahre achtundvierzig als Kommandant einer Gendarmerieabteilung um eine sehr hohe österreichische Persönlichkeit in außerordentlicher Weise verdient gemacht. Die Tatsache selbst war nicht recht bekannt; man sprach von Entdeckung und Vereitelung eines mörderischen Anschlages. Wie dem auch gewesen sein mochte: durch Vermittelung jener Persönlichkeit wurde Nardini als Oberleutnant wieder in die Armee übernommen und im Laufe der fünfziger Jahre als Hauptmann in das venezianische Regiment versetzt, bei welchem ich diente.

Der Empfang, den er fand, war in Ansehung des erwähnten Protektors äußerlich weit zuvorkommender, als es sonst, ähnlichen »Einschüben« gegenüber, der Fall zu sein pflegte; im übrigen wartete man ab, wie sich der Ankömmling in seinem Wesen entpuppen würde. Und da zeigte sich denn sofort, daß er nicht etwa, auf jene Beziehungen pochend, hochfahrend und selbstbewußt auftrat, sondern im Gegenteil eine fast übertriebene Bescheidenheit an den Tag legte. Allerdings verstand er vom Infanteriedienst soviel wie gar nichts und mußte in seinen Wirkungskreis erst eingeführt werden, wobei er überdies keine sehr hervorragende Intelligenz verriet. Da er sich aber als liebenswürdiger Vorgesetzter und guter, ehrlicher Kamerad erwies, so erfreute er sich bald allgemeiner Beliebtheit. Außer seiner Gage bezog er von dem hohen Gönner eine intime Zulage, welche dem vermögenslosen Grafen sehr zustatten kam. Dennoch trieb er keinerlei Aufwand; er hatte, wie die meisten Italiener, nur sehr geringe Bedürfnisse, ja er rauchte nicht einmal. Dabei war er keineswegs ein Knauser; bei ihm fand jeder offene Hand, und manchem von uns hatte er wiederholt aus arger Not geholfen. Aber er befand sich oft genug selbst in Geldverlegenheit, was mit einer persönlichen Schwäche im Zusammenhang stehen mochte, welche ihn nach und nach [206] in Verruf zu bringen drohte. Er wurde nämlich von einem ungewöhnlich starken Hange zum anderen Geschlecht beherrscht, dem er gewissermaßen im allgemeinen, das heißt fast ohne jede Auswahl, sehr augenfällig huldigte. In der kleinen mährischen Stadt, wo wir uns befanden, wurde dies natürlich sehr bald bekannt und man fing an, über den ältlichen Hauptmann zu spötteln, der auf der Straße jeder Schürze nachschmachtete. Zuweilen gab sein Benehmen in dieser Hinsicht auch Ärgernis, und es mußte dahin kommen, daß man ihm eine zwar wohlwollende, aber immerhin ernste Verwarnung zuteil werden ließ. Diese schien auch Wirkung zu tun; Conte Gasparo – so wurde er von uns genannt – schlich eine Zeitlang sehr niedergeschlagen und kleinlaut umher, ohne seine Blicke nach den mehr oder minder verführerischen Schönen zu werfen, welche an ihm vorüberkamen, so daß sich manche von ihnen über diesen plötzlichen Wandel sichtlich verwundert zeigte.

Da aber ereignete sich etwas, das die übelsten Folgen nach sich zu ziehen schien.

In dem Hause, in welchem Nardini wohnte, war eine Rasierstube eröffnet worden. Der Eigentümer, ein verlebt aussehender junger Mensch hatte aus der benachbarten größeren Stadt, wo er sich früher aufgehalten, ein weibliches Wesen mitgebracht, das als seine Frau galt. Diese Person saß zu gewissen Tagesstunden an der Kassa, was dem Geschäft einen höheren Anstrich verleihen – und wohl auch Kunden heranziehen sollte. Denn sie konnte eigentlich für hübsch gelten, hatte ein fein geschnittenes, sehr blasses Gesicht, auffallend reiches nußbraunes Haar und große dunkle Augen. Aber man erkannte bald, wie verblüht sie bereits war und daß sie eine bewegte Vergangenheit hinter sich haben mochte, daher man sie auch nicht weiter beachtete und ihr höchstens beim Kommen und Gehen einige Artigkeiten sagte. Auf Nardini jedoch schien sie Eindruck gemacht zu haben. Er war weit öfter, als es Bart- und Haarwuchs erforderte, in dem Laden anzutreffen [207] und benahm sich, wenn er sich vor beobachtendem Blick sicher glaubte, als feuriger Anbeter. Schließlich kam es auch dahin, daß ihm eine Zusammenkunft in seiner Wohnung bewilligt wurde. Nardini hatte seinen Diener weggeschickt und den Eingang abgesperrt. Plötzlich erhob sich draußen heftiges Gepolter. Es war der Gatte, der an die Tür pochte und Einlaß begehrte. Da nicht aufgetan wurde, steigerten sich seine eifersüchtigen Wutausbrüche derart, daß das ganze Haus zusammenlief. Nun aber, da schon die Tür gesprengt zu werden drohte, öffnete sich diese, und der Hauptmann erschien auf der Schwelle, die blanke Waffe in der Hand. Der betrogene Ehemann wollte trotzdem eindringen, wobei er einen Säbelhieb über den Arm und einen anderen in das Gesicht erhielt, der sich allerdings später als belanglose Schramme herausstellte, in diesem Augenblick aber die versammelte Nachbarschaft Blut erblicken ließ. Nun brachen allgemeine Verwünschungen und Drohungen los, und wer weiß, was noch geschehen sein würde, wenn nicht jetzt die Treulose, dicht an ihrem Ritter vorüber, mit aufgelösten Haaren hervor und an die Brust des Verwundeten gestürzt wäre, der sich auffallend rasch beschwichtigen und von ihr fortziehen ließ. Nicht so leicht gab sich die Entrüstung der übrigen zufrieden; es wurden noch immer gegen den sittenlosen Gewalttäter, der sich inzwischen wieder eingeschlossen hatte, Schmähworte laut, bis man endlich mit dumpfem Murren das Feld räumte.

Die Kunde von diesem Vorfalle verbreitete sich natürlich sehr rasch nach allen Seiten hin, und es erübrigte nichts, als eine militärgerichtliche Untersuchung einzuleiten. Dabei aber stellte sich durch die Zeugenschaft eines verräterischen Lehrjungen unzweifelhaft heraus, daß das saubere Pärchen alles von vornherein abgekartet habe, um an dem verliebten Grafen Erpressungen verüben zu können. Um weitere kompromittierende Verhandlungen niederzuschlagen, zahlte dieser nun freiwillig als Schmerzensgeld für den körperlich Verletzten eine nicht unbeträchtliche [208] Summe, welche die aufgeregten Gemüter vollständig beruhigte – und somit nahm das Abenteuer für Nardini noch einen leidlichen Ausgang. Trotzdem konnte seines Bleibens am Orte nicht länger sein; er wurde zum vierten Bataillon versetzt, das sich damals in Treviso befand.

2.

II.

Seitdem hatte ich von Nardini nichts Wesentliches mehr erfahren. Einmal noch war ich während des Feldzuges 1859 flüchtig in Verona mit ihm zusammengetroffen; bald nachher verließ ich den Militärdienst, und mehr und mehr ging die Erinnerung daran in den neuen Verhältnissen unter, in die ich mich begeben. Erst im Jahre 71, als ich mich nach mancherlei Kreuz- und Querzügen wieder in Wien befand, sollte ich durch folgenden Brief eindringlicher an jene Zeit gemahnt werden.

»Lieber Freund! Durch einen Zufall habe ich in Erfahrung gebracht, daß Du hier bist, und lade Dich ein, nächsten Donnerstag abends acht Uhr zur ›Blauen Flasche‹ in Lerchenfeld zu kommen. Du wirst dort viele finden, die zu unserer Zeit im Regiment gedient haben – das heißt so ziemlich alle, welche gegenwärtig vom Schicksal in Wien wieder zusammengewürfelt wurden. Deinem Erscheinen mit Bestimmtheit entgegensehend, grüßt Dich herzlich Dein alter Kamerad Hauptmann Lenhardt.«

Selbstverständlich folgte ich dieser Aufforderung mit Freude und begab mich am bestimmten Abend in das bezeichnete Lokal, welches damals noch die volle »Gemütlichkeit« eines allbekannten, vielbesuchten Vororte-Gasthauses bewahrt hatte. In dem weitläufigen Sommergarten fand ich an einer langen, durch mehrere aneinander gerückte Tische hergestellten Tafel schon einen Teil der Versammlung vor. Da gab es denn gleich ein herzliches Umarmen, ein hastiges Fragen und Antworten – und dieser frohe Empfang wurde allen zuteil, die sich jetzt in rascher Nacheinanderfolge [209] einfanden. Man fühlte sich eigentümlich ergriffen beim Anblick der vielen altvertrauten Gesichter, denen freilich die Zeit schon mehr oder minder arg mitgespielt hatte. Aber das Wesentliche darin war doch unverändert geblieben, oder hatte sich vielmehr bei den meisten erst jetzt zu voller Deutlichkeit entwickelt. Es war eine ganz stattliche Gesellschaft von verschiedenartigen Gestalten in militärischer und bürgerlicher Kleidung. Viele waren bereits in Pension getreten; andere hatten gleich mir den bunten Rock für immer an den Nagel gehängt. Karriere hatten die wenigsten gemacht, ja einige bekundetet durch ihr Aussehen, daß sie ein kümmerliches Dasein führten. Aber es waren doch zwei Stabsoffiziere – und sogar ein General darunter. Dieser bezeigte sich etwas zurückhaltend, und es kostete ihm sichtlich große Selbstüberwindung, allseits das vertrauliche »Du« anzuwenden. Doch auch er taute allmählich auf und wurde zuletzt ganz redselig, als Teller und Biergläser fortgeschafft waren und duftender Gumpoldskirchner die geschliffenen Kelchgläser durchgoldete, in welche ab und zu eine Blütenflocke von den alten Kastanienbäumen fiel, unter denen wir saßen.

Somit war alles bereits im besten Zuge, als Lenhardt, der als »Einberufer« gewissermaßen den Vorsitz führte und schon mehrmlas mißmutig um sich geblickt hatte, die Stirn runzelte und mit seiner wuchtigen Baßstimme ausrief: »Der Teufel hole diesen Conte Gasparo! Jetzt ist es bald zehn – und er ist noch immer nicht da.«

»Nardini, meinst du?« fragte ich über den Tisch hinüber »Ist er denn in Wien?«

»Freilich. Schon seit zehn Jahren lebt er hier in Pension.«

»Und wie geht es ihm?«

»O ganz gut. Das heißt, er könnte zufrieden sein. Denn er hat inzwischen eine unerwartete Erbschaft gemacht – von einem entfernten Anverwandten in Bologna, wenn auch keine [210] sehr große. Aber die Weiber lassen ihn auf keinen grünen Zweig kommen.«

»Die Weiber?« rief man jetzt von allen Seiten. »Noch immer? Er muß doch schon ein Sechziger sein?«

»Gewiß. Aber das hindert ihn nicht, sich nach wie vor ›wurzen‹ zu lassen. Und jetzt will er gar noch heiraten. Eine Französin, die er, weiß Gott wo, aufgegabelt. Es soll eine Marquise sein – oder so was. Aber ich glaub's nicht. Schon seit einigen Monaten zieht sich die Geschichte, und nun hat er nicht einmal die Kraft, sich von dieser Circe für ein paar Stunden loszumachen, um seine alten Kameraden wiederzusehen. Doch halt! Mir scheint, da kommt er endlich!«

In der Tat bewegte sich ein stattlicher alter Herr durch die lange Flucht des nun auch schon von zahlreichen anderen Gästen besuchten Gartens auf uns zu. Es war Nardini, sehr vornehm gekleidet, auf dem Kopf einen funkelnden Zylinder, den er, schon vom weiten grüßend, abnahm.

»Verzeiht,« sagte er unter dem allgemeinen Tschaurufen und Händeschütteln in seinem hastigen, stark gebrochenen Deutsch, dessen er sich seit jeher mit hartnäckiger Vorliebe bedient hatte, obgleich er wußte, daß wir anderen alle mehr oder minder geläufig italienisch sprachen, »verzeiht, daß ich so spät erscheine – aber ich konnte nicht früher abkommen – –«

»Natürlich, deine Marquise«, brummte Lenhardt. »Du hast sie gewiß vorher noch samt dem Herrn Bruder ins Theater führen müssen – oder sonstwohin. Aber wir wollen Gnade für Recht ergehen lassen. Setz' dich!«

Nardini errötete und suchte mit verlegenem Lächeln an der dicht besetzten Tafel unterzukommen. Dabei entstand ein unwillkürliches Zusammenrücken, und es traf sich, daß er seinen Platz neben mir erhielt. Wir hatten früher sehr gut mit einander gestanden, denn ich war eine Zeitlang sein Kompagnieoffizier gewesen. Er bezeigte sich daher ausnehmend freundlich gegen mich, und auch ich fühlte mich aufrichtig erfreut, [211] ihn wiederzusehen. Er war einer von den wenigen, deren Äußeres sich im Laufe der Jahre vorteilhaft verändert hatte. Vor allem stand ihm die Zivilkleidung besonders gut, denn sie ließ das Aristokratische seiner Erscheinung, welche vormals durch die Uniform verallgemeinert wurde, in voller Eigentümlichkeit hervortreten. Das stark gelichtete rötliche Haar und der fuchsige Schnurrbart waren jetzt reich mit Silberfäden durchzogen, was von den frischen Farben des eigentlich unschönen, aber markanten Gesichtes sehr angenehm abstach. Wie er so dasaß mit den breiten Schultern, dem mächtigen Brustkasten, in noch immer stramm militärischer Haltung, mahnte er an einen alten Condottiere der Renaissance.

Sein Erscheinen hatte der Unterhaltung neuen Schwung verliehen. Ernste und heitere Tischreden wurden gehalten, Witzworte flogen hin und her, man zog längst vergangene Erlebnisse wieder hervor – und schließlich war die halbe Nacht vorüber, ohne daß man sich dessen bewußt geworden. Die übrigen Gäste hatten nach und nach den Garten verlassen – wir aber saßen noch immer, so daß die Kellner schon ein recht bedenkliches Gesicht machten, als wieder neue Flaschen bestellt wurden. Endlich entschloß man sich zum Aufbruch, und nachdem der ganze Schwarm auf dem Wege nach der Stadt noch in ein Kaffeehaus eingefallen war, zerstreute man sich mit lauten Abschiedsrufen nach allen Richtungen hin.

Nun zeigte es sich, daß Nardini gleich mir auf der Wieden wohnte; wir traten also den Heimweg gemeinsam an, und schließlich bestand der Conte darauf, mich bis zu meinem Hause zu begleiten. Als wir uns am Tor die Hände schüttelten, sagte er mit der einschmeichelnden italienischen Höflichkeit, die ihn stets ausgezeichnet: »Du wirst mir wohl erlauben, daß ich dich einmal besuche.«

Obgleich ich den Verkehr mit beschäftigungslosen Menschen fürchtete, weil sie es lieben, die vielen müßigen Stunden des Tages bei ihren Bekannten abzusitzen, erwiderte ich diesmal [212] doch ganz aufrichtig, daß ich seinem Besuch mit Vergnügen entgegensähe.

Sehr überrascht aber war ich, als mir schon am nächsten Vormittage sein Erscheinen angemeldet wurde.

»Sei mir nicht böse,« sagte er eintretend und einigermaßen betroffen beim Anblick meines ziemlich kahlen Zimmers, »sei nur nicht böse, wenn ich dich vielleicht störe –«

»Du störst mich nicht – und wenn auch, so doch nur angenehm.« Damit ließ ich ihn auf meinem kleinen harten Sofa Platz nehmen und setzte mich an seine Seite.

»Du wirst dich wundern,« fuhr er nach einer Pause fort, indem er verlegen umher blickte und an seinem Schnurrbart zupfte, »du wirst dich wundern, daß ich so rasch gekommen bin. Aber wir sind alte Kameraden – daher ohne Umschweife – ich habe ein Anliegen an dich.«

Ich sah ihn fragend an.

»Ich befinde mich nämlich in momentaner – höchst dringender Geldverlegenheit –«

Ich machte unwillkürlich eine nicht ganz unzweideutige Bewegung.

»Mißversteh' mich nicht, lieber Freund«, setzte er, die Hand auf meinen Arm legend, rasch hinzu. »Ich weiß ja – ich kann mir ja denken – – Allein es wäre ja vielleicht doch nicht unmöglich, daß du Beziehungen hättest – daß dir jemand bekannt wäre, der sich herbeiließe, mir so rasch wie nur möglich – längstens bis heute abends – dreihundert Gulden vorzustrecken. Gegen Zinsen natürlich. Koste es was es wolle, ich muß das Geld haben.«

Ich schwieg einen Augenblick, betroffen über diese Zumutung, die ich keineswegs vorausgesehen. Aber Nardini hatte sehr gut erraten, daß ich in Kenntnis gewisser Geldquellen sei; war ich damals doch selbst darauf angewiesen, hin und wieder Darlehen aufzunehmen. Daß er sich jedoch dermalen gezwungen sah, meine Vermittlung in Anspruch zu nehmen, befremdete [213] mich. Doch wie dem auch sein mochte, ich konnte und wollte ihn, der einst seinem Leutnant oft genug Vorschüsse bewilligt hatte, nicht im Stiche lassen, und erwiderte daher: »Nun, ich kenne allerdings einige Leute, die dir vielleicht zu Diensten sein möchten. Da ist zum Beispiel der Juwelenhändler Höbinger – oder auch ein Herr Pettirsch –«

»Nein! Nein!« unterbrach er mich hastig und bis unter die schütteren Stirnhaare errötend. »Das sind stadtbekannte Wucherer – mit ihnen will ich nichts zu tun haben –«

Diese Äußerung ließ mich vermuten, daß er diese beiden sehr wohl kannte – ihnen möglicherweise schon verpflichtet war. – Aber ich wollte ihm nun einmal behilflich sein und fuhr nach einiger Überlegung fort: »Da wäre auch noch ein gewisser Treulich, ein höchst rechtschaffener Jude, der das ehrsame Handwerk eines Posamentierers betreibt. Er sträubt sich zwar gegen alle Geldgeschäfte, aber seine Frau macht sie für ihn. Es sind eigentlich ganz arme Leute, die den mühsam zurückgelegten Sparpfennig vermehren wolle. Wenn sich – was freilich nicht ganz sicher ist – gerade Geld im Hause befindet und ich Bürgschaft übernehme –«

»Das kannst du mit gutem Gewissen«, rief er, freudig meine Hand fassend. »Ich bin ja nicht ohne Vermögen – das heißt – – und außerdem habe ich noch über ein kleines Kapital in Bologna zu verfügen, das ich lange nicht kündigen wollte, um dem Privatmanne, bei welchem es steht, keine Schwierigkeiten zu bereiten. Aber ich habe mich nun doch dazu entschließen müssen. Und bis die Sache erledigt ist – du begreifst – –«

»Immerhin!« erwiderte ich, wieder ganz in den goldenen Leichtsinn meiner Offizierszeit zurückfallend. »Für die genannte Summe werden wir unter allen Umständen noch aufkommen.«

Wir begaben uns ohne Verzug in die entlegene Vorstadt, wo das Ehepaar Treulich wohnte, und nach langwierigen Verhandlungen [214] mit der ziemlich zähen schöneren Hälfte konnte Nardini endlich ein Päckchen abgegriffener Banknoten in seiner Brieftasche bergen.

Auf der Treppe umarmte er mich. »Mein teurer Freund, du hast mir da einen außerordentlichen Dienst erwiesen. Aber ich habe noch eine Bitte: speise heute abend um sechs Uhr mit mir im ›Goldenen Lamm‹.« Und da er an mir eine ablehnende Gebärde wahrnehmen mochte, fuhr er errötend fort: »Du wirst doch nicht etwa glauben, daß ich dich – – du erweisest mir vielmehr eine zweite sehr große Gefälligkeit, wenn du meine Einladung annimmst. Vielleicht hast du schon davon gehört – oder auch nicht, gleichviel: ich werde mich demnächst verheiraten. Mit einer hochadeligen Dame aus Frankreich, die sich gegenwärtig mit ihrem Bruder in Wien aufhält und in jenem Hotel wohnt. Sie stammt aus einer Bonapartistischen Familie, die sich jetzt nach dem Sturze des Kaiserreiches stark kompromittiert und gezwungen sieht, einige Zeit im Ausland zu verweilen. Ihre übrigen Angehörigen befinden sich in London – aber schon morgen soll eine Persönlichkeit aus Paris hier eintreffen, welche inzwischen einige schwierige Angelegenheiten – vor allem die Vermögensverhältnisse ins reine zu bringen bestrebt war, und unter ihren Auspizien soll dann fürs erste die Verlobung stattfinden. Nun sind mir – du weißt, wie das bei nicht gewöhnlichen Umständen zu gehen pflegt – hinsichtlich der Dame einige unliebsame Bemerkungen zu Ohren gekommen. Natürlich leg' ich gar kein Gewicht darauf, aber es wäre mir doch höchst erwünscht, den Eindruck wahrzunehmen, den meine Braut auf dich macht.«

Ich konnte jetzt nicht umhin, mein Erscheinen zuzusagen, und damit schieden wir voneinander.


* * *


Das »Goldene Lamm«, das sich noch heute in der Wiedener Hauptstraße befindet, gehörte damals zu den besten [215] Gasthöfen zweiten Ranges und zeichnete sich durch stille, bescheidene Vornehmheit aus, so daß angesehene, aber nicht allzu bemittelte Fremde gerne dort abstiegen.

Der Speisesaal, in den ich gegen sechs Uhr trat, war den Wiener Eßstunden gemäß ganz leer; aber in einer Ecke stand bereits ein Tisch für vier Personen aufs sorgfältigste gedeckt. Und schon trat auch Nardini aus einer Seitentür, in glatt sitzendem schwarzen Leibrock, eine Rose im Knopfloch und stark nach Moschus duftend. Er hieß mich mit strahlendem Antlitz willkommen und sagte, daß seine Braut ihre Toilette noch nicht beendet habe, aber sehr bald erscheinen würde. Sie ließ auch wirklich nicht allzulange auf sich warten. Als sie jetzt eintrat, in einem lichten, die ganze Gestalt eng umschmiegenden Foulardkleide, eine Wolke durchdringend scharfen Parfüms um sich her verbreitend, erschrak ich. Das war die Pariser Kokotte, wie sie im Buche steht: gefärbt und gemalt vom goldgelben Scheitel bis zum Gürtel – und von jener nicht zu bezeichnenden Magerkeit, welche schon damals anfing, Mode zu werden. Auch der ziemlich beleibte Herr, der ihr unmittelbar folgte, sah trotz seiner eleganten Geschniegeltheit nicht sehr vertrauenswürdig aus. Er wies ein bleiches, aufgeschwemmtes Gesicht, müde und trotzdem lauernde Augen; Wuchs und Füße waren plump und gemein.

»Le Marquis et la Marquise D'Orioville«, sagte Nardini vorstellend. »Mein alter Freund und Kamerad –.«

»Je suis enchantée, Monsieur«, sagte die Marquise, ihre zinnoberroten Lippen öffnend, und streckte mir die eine unbehandschuhte, skelettartige Hand entgegen, die kreidig weiß war und an welcher, sowie an den durchsichtig dünnen, leicht verkrüppelten Ohren ein paar nicht allzu wertvolle Brillanten funkelten. Der Marquis begnügte sich mit einer Verbeugung.

Man ging nun zu Tisch, wo zwei Kellner in stummer Erhabenheit ein kleines, ausgesuchtes Diner servierten. Nardini machte den liebenswürdigen Wirt in einem ungeheuerlichen [216] Französisch. Ich selbst hatte es in dieser Sprache über das »Verstehen« niemals recht hinausgebracht; die beiden Fremden radebrechten einige deutsche Worte; auch zeigte der Marquis eine gewisse Kenntnis des Italienischen. So entwickelte sich denn ein höchst eigentümliches, stellenweise sehr mühevolles Tischgespräch in drei Idiomen, aus welchem hauptsächlich hervorging, daß ein Comte Garnichaut – »mon oncle«, wie die Mar-guise sagte – morgen mit dem Frühzuge hier eintreffen werde, daher man für ihn bereits Appartements bestellt habe. Nardini, vom Champagner, mit welchem man sehr bald begonnen hatte, erhitzt, gestattete sich einige kleine Zärtlichkeiten, welche seine Braut, die gemalten Brauen emporziehend, mit würdevoll koketter Prüderie abzuwehren suchte. Im übrigen taute auch sie nach und nach auf und bekundete jenes gewisse reizende Etwas, das nun einmal jeder Französin angeboren zu sein scheint. Sie begann ganz allerliebst über Verschiedenes zu plaudern, wobei hin und wieder freche Zügellosigkeit in ihren kalten, grünlichen Fischaugen aufblitzte. Hingegen zeigte sich der Marquis immer schweigsamer, obgleich er dem Sekt, der für ihn offenbar zum vin triste wurde, fleißig zusprach, und nur mühsam raffte er sich endlich zu einem halb pantomimischen brüderlichen Toast auf.

Inzwischen waren einige andere Gäste in den Saal getreten und hatten an entfernteren Tischen Platz genommen. Als jetzt der Kaffee gebracht wurde, nippte die Marquise rasch ihr Täßchen aus und sagte, man möge entschuldigen, daß sie sich jetzt zurückziehe, denn sie habe zum Empfange des Onkels noch allerlei anzuordnen, besonders aber einige wichtige Papiere durchzusehen und bereit zu legen; die Herren möchten sich im Genusse ihrer Zigarren nicht stören lassen.

Nardini bestand trotzdem darauf, ihr den Arm zu bieten und sie nach ihrem Zimmer zu geleiten. Ich blieb also mit dem Marquis allein, der tiefsinnig an einer schweren Havanna kaute und sich endlich notgedrungen in ein schon bei Beginn stockendes [217] Gespräch sur les agréments de Vienne einließ. Zum Glück kam Nardini bald zurück, worauf sich der andere mit der Bemerkung verabschiedete, er müsse nunmehr seiner Schwester behülflich sein.

Somit war jetzt der Augenblick da, den ich fürchtete: ich befand mich mit Conte Gasparo allein. Dieser rückte mir sofort ganz nahe und flüsterte mir, wahrscheinlich der benachbarten Gäste wegen, auf Italienisch zu: »Nun, was sagst du? Ist sie nicht ein süperbes Weib?«

»Das ist Geschmackssache«, erwiderte ich nach einer Pause.

»Ich verstehe. Sie gefällt dir eigentlich nicht – du findest sie zu mager. Aber sieh, gerade das zieht mich besonders an. Doch hier«, fuhr er mit einem Seitenblick auf die Umgebung fort, »läßt sich ja darüber nicht weiter sprechen. Gehen wir.«

Wir verließen also das Hotel und traten in den schwülen Dunst des Juniabends hinaus. Die Straße war sehr belebt. Nardini faßte mich unter dem Arm und lenkte in die nächste stille Seitengasse ein. »Und im übrigen« – fuhr er hastig drängend, jetzt wieder in seinem gebrochenen Deutsch, zu fragen fort, »im übrigen – wie ist deine Meinung?«

»Offen gestanden, keine sehr gute.«

Sein stark erhitztes Gesicht verfärbte sich. »Wirklich? Wirklich? Nun, ich gebe zu – der Bruder – auch mir ist er nicht gerade sympathisch. Aber sie, lieber Freund, sie ist doch in allem und jedem die große Dame – –«

»Das ist nun wieder Ansichtssache und läßt sich nicht so ohne weiteres entscheiden. Wo hast du denn die beiden kennen gelernt?«

»In der Oper. Sie saßen neben mir im Parkett. Ein Gespräch entspann sich. Dabei erfuhr ich, daß sie eben angekommen waren und in der ihnen ganz fremden Stadt einige Zeit zu verweilen gedächten. Ich stellte mich als Cicerone zur Verfügung, was dankbar entgegen genommen wurde. Nach und nach weihte man mich in alle Verhältnisse [218] ein – und dann – dann kam gewissermaßen alles von selbst –«

»Du hast also der – Dame einen Heiratsantrag gemacht?«

»Natürlich – das heißt – ihre Zuneigung hing davon ab. Du begreifst, daß sie in ihrer Stellung nicht anders – –«

»Nun wohl – und doch finde ich es sonderbar, daß sie dich so ohne weiteres zum Manne nehmen will –«

»Wie meinst du das?« sagte er verletzt. »Vielleicht, weil ich in den Jahren schon vorgerückt bin? Auch sie ist nicht mehr jung – gewiß schon über die Dreißig. Und dann« – er warf sich in die Brust – »sie macht keine Mesalliance.«

»Gewiß nicht. Weit eher könnte das Umgekehrte der Fall sein.«

Ich fühlte, wie er zusammenzuckte. »Du glaubst?« stammelte er. »Sie sollte nicht das sein, wofür sie sich – – Sollte alles, was sie mir mitteilte, erfunden haben? Nein! Nein! Wozu auch? Es wäre ihr ja unter allen Umständen gelungen, mich zu fesseln – wenn ich auch nicht leugnen will, daß so manches mitgewirkt – – du bist zu mißtrauisch, lieber Freund! Bedenke doch, daß morgen ihr Onkel, der Graf Garnichaut, erwartet wird –«

»Richtig, der Onkel. Den hätte ich bald vergessen. Sein Eintreffen wird jedenfalls Licht in die Sache bringen.«

»Gewiß, gewiß«, erwiderte er aufatmend. »Morgen wird alles in Ordnung sein.«

»Ich wünsche es. Aber ich möchte dir trotzdem raten, auch diesem Grafen gegenüber vorsichtig zu sein.«

»Sei ohne Sorge!« rief er aufgebracht, indem er mir seinen Arm entzog. »Ich bin kein Kind mehr – und im übrigen ist ja alles nur meine Sache! Aber verzeih'«, fuhr er begütigend fort. »Ich weiß, daß du es sehr gut meinst – ich habe dich um deine Ansicht befragt und mußte auf alles gefaßt sein. Doch nun muß ich dich verlassen. Ich habe versprochen, noch für einen Augenblick ins Hotel zu kommen. Es dürfte schon spät[219] sein.« Er sah nach der Uhr. »Leb' wohl! Ich werde dich sehr bald aufsuchen und dich von allem weiteren in Kenntnis setzen.« Damit entfernte er sich eiligst.

Mißmutig schritt ich meiner Wohnung zu. Ich hatte ihm, das empfand ich, eine böse Stunde, vielleicht auch eine üble Nacht bereitet. Möglicherweise ganz ohne Grund. Wenn man französischen Schriftstellern trauen dürfte, gab es ja unter dem Adel des zweiten Kaiserreiches auch eine Halbwelt – und dieser Halbwelt konnten die D'Orioville am Ende doch angehören. Und was lag daran, wenn Nardini mit dem Marquis eine Schwägerschaft einging.? Es war wirklich nur seine Sache. Diese Erwägungen ließen mir die ganze Angelegenheit immer gleichgültiger erscheinen – und schließlich begab ich mich mit voller Seelenruhe zu Bett.


* * *


Am anderen Tage, gegen zwei Uhr, hatte ich mich eben angekleidet, um zu Tisch zu gehen, als an die Tür meines Vorzimmers dumpf und hastig gepocht wurde. Ich öffnete – und Nardini, im schwarzen Leibrock, das Bändchen des päpstlichen Ordens, den er besaß, im Knopfloch, taumelte mir entgegen. Er ließ sich, ohne auch nur den Hut abzunehmen, auf das Sofa fallen und schrie mit erhobenen Armen: »Ich bin verloren, lieber Freund! Ich bin verloren!«

»Wieso? Was ist vorgefallen?« fragte ich, vor ihn hintretend.

»Ach, wie recht hast du gehabt! Es waren elende Schwindler! Hochstapler! O maledetti!« Er ballte die Fäuste gegen die Stubendecke.

Und als ich ihn um nähere Erklärungen anging, fuhr er, in der Verzweiflung sich seines reinsten, wie die Sprache Manzonis klingenden Italienisch bedienend, fort: »Man hatte mich gestern gebeten, heute mittags zu erscheinen, um dem Grafen vorgestellt zu werden. Als ich in das Tor trat, sah ich ein Häuflein[220] Menschen um die Portierloge versammelt; dabei gab es ein Hin- und Herlaufen auf den Treppen und Gängen – das ganze Hotel war in Aufruhr. Und nun erfuhr ich, daß die beiden des Morgens in einem Fiaker zur Westbahn gefahren, um den Onkel dort zu empfangen – und nicht wieder zurückgekehrt seien. In ihren Zimmern war alles unberührt, auch eine Anzahl von Koffern, die verschlossen standen. Als man sie anfaßte, bewies ihr geringes Gewicht, daß sie kaum etwas enthalten konnten. Die Gruppe vor der Portierloge aber bestand aus allerlei Geschäftsleuten, die gleichfalls um zwölf Uhr bestellt waren, um ihre rückständigen Rechnungen ausbezahlt zu erhalten. Es ist kein Zweifel: sie sind durchgebrannt – und ich Tor habe noch dazu verholfen, indem ich der Schändlichen die dreihundert Gulden einhändigte, die ich deiner freundschaftlichen Vermittlung verdankte!«

»Nun,« erwiderte ich, »diesen Verlust kannst du ja noch verschmerzen. Sei froh, daß du so leichten Kaufes davongekommen!«

»Leichten Kaufes?!« schrie er mit verzerrtem Gesicht. »Ich habe im Laufe von vier Monaten mein ganzes Vermögen ausgegeben! Mein ganzes Vermögen! Es war allerdings nicht groß – aber doch an die zwölftausend Lire!«

»Aber wie konntest du nur – – –«

»Ja, wie konnte ich nur! Und das geringfügige Kapital, das ich in Bologna gekündigt, wird gerade hinreichen, die Schulden zu tilgen, welche ich außerdem gemacht! Und für die seit Wochen rückständige Hotelrechnung muß ich auch noch aufkommen! Ich bin also jetzt ein Bettler – nahezu ein Bettler! Wie viel eine Hauptmannspension beträgt, weißt du ja – und der Gnadengehalt ist mir vermindert worden, weil ich schon einmal um einen größeren Vorschuß bittlich werden mußte! O sorte fatale!!«

Das Vollbewußtsein seiner Lage überwältigte ihn; er brach in Tränen aus.

[221] Er dauerte mich. Und doch – so widerspruchsvoll sind die menschlichen Empfindungen – konnte ich nur mit Mühe ein Lachen unterdrücken.

»Ja, du hast da ein teures Lehrgeld gezahlt«, sagte ich endlich.

»Wie oft schon!« rief er, mit der Faust vor die Stirn schlagend. »Wie oft schon! O, die Frauen! Die Frauen! Aber das ist mein letztes. Ich kann es ja nicht überleben. Stelle dir nur vor, was jetzt geschehen wird! Die Polizei ist bereits in Kenntnis gesetzt. Man wird das Paar verfolgen, verhaften, nach Wien zurückbringen. Wer weiß, was inzwischen noch alles zutage kommt. Eine öffentliche Gerichtsverhandlung findet statt. Mein Name wird mit hineingezogen, ich werde sogar gezwungen sein, persönlich zu erscheinen. Man wird mit Fingern auf mich weisen. Das kann mir meine Charge kosten. Es bleibt mir nichts übrig, als mir eine Kugel durch den Kopf zu jagen!«

»Im Gegenteil. Es gilt jetzt, den Kopf oben zu behalten und zu retten, was zu retten ist. Fürs erste mußt du dich an einen Advokaten wenden.«

Er glotzte mich, in seinen mutlosen Zustand versunken, mit halb offenem Munde an. »An einen Advokaten – –?«

»Ja, damit er die Angelegenheit, soweit sie dich betrifft, in die Hand nehme. Deine Person muß, wenn möglich, ganz aus dem Spiele bleiben.«

»Ich kenne keinen Advokaten«, lallte er tonlos.

»Aber ich. Er ist sogar einer meiner näheren Freunde und wird dir mit Vergnügen zu Diensten stehen.«

Er starrte noch immer verloren vor sich hin.

»Komm! Komm!« drängte ich, »ihn vom Sofa emporziehend. Es ist keine Zeit zu verlieren.«

Er ließ sich willenlos fortschleppen.


* * *


[222] Das Äußerste, das Nardini gefürchtet hatte, traf nicht ein. Das flüchtige Paar, das sich damals vom Westbahnhofe sofort an einen anderen begeben hatte, wurde in Budapest ausgeforscht, verhaftet und nach Wien vor den Untersuchungsrichter gebracht. Dabei stellte sich heraus, daß die Dame die Mätresse eines Herrn D'Orioville gewesen, der an der Riviera, wohin er sie mit sich genommen, verstorben war. Bald darauf lernte sie, mit noch einigen Geldmitteln versehen, ihren gegenwärtigen Begleiter kennen – einen zugrunde gegangenen Lyoner Kaufmann, der eben im Begriffe stand, sein Letztes dem Teufel des Roulette in den Rachen zu werfen. Am grünen Tische zu Monaco hatten sie sich gefunden, und da sie sich dort nicht lange halten konnten, zogen sie abenteuernd bis nach Wien, wo sie sich, als Geschwister auftretend, sofort des leicht entzündlichen alten Conte bemächtigten. Die Beträge, um welche sie nebenher auch andere geprellt, waren nicht sehr bedeutend, und da Nardini, sowie der Hotelbesitzer, keine Forderung geltend machte, so kam der Fall gar nicht vor die Geschworenen. Die Inkulpaten erhielten eine mäßige Gefängnisstrafe und wurden dann über die Grenze geschoben.

So verlief in dieser Hinsicht, mit Ausnahme einiger Reporternotizen, die auf einen Grafen N ... anspielten, für Nardini alles aufs günstigste, und es war merkwürdig zu sehen, wie rasch sich seine sanguinische Natur von dem erlittenen Schlag erholte. War es doch auch dem Advokaten gelungen, mit den verschiedenen Gläubigern einen sehr günstigen Ausgleich zu treffen, infolgedessen er von dem gekündigten Kapital, das inzwischen eintraf, noch immer ein Sümmchen erübrigte. Conte Gasparo hob also wieder den Kopf, und da sich jetzt begreiflicherweise unser Verkehr fortsetzte, sah ich auch, wie seine erotischen Neigungen neuerdings hervorzubrechen drohten. Ich konnte mich nicht enthalten, ihn zuerst gelinde und scherzhaft darauf aufmerksam zu machen, bis ich ihm zuletzt, auf die jüngsten Ereignisse hinweisend, mit dürren Worten [223] erklärte, daß es endlich an der Zeit sei, derlei Torheiten nicht mehr aufkommen zu lassen.

Mochte ihn nun diese Äußerung verletzt haben, oder gab es andere Abhaltungen – genug: er zeigte sich seitdem immer seltener bei mir, und da ich auch nach ihm kein sonderliches Verlangen trug, so kam er mir schließlich gar nicht mehr zu Gesicht.

Eines Tages hatte ich in der inneren Stadt allerlei zu besorgen. Darüber war es vier Uhr geworden, und ich dachte daran, ein verspätetes Mahl einzunehmen. Nach einiger Überlegung begab ich mich zum »Grünen Anker«, woselbst gute italienische Küche zu finden war, nach der ich, aus früherer Gewohnheit, ab und zu Verlangen trage.

In das um diese Stunde wenig besuchte Lokal tretend, wollte ich ein kleineres Nebenzimmer aufsuchen, prallte jedoch am Eingang zurück. Denn drinnen saß Nardini mit einer Dame, und zwar ziemlich dicht an ihrer Seite. Es war ein rundliches, bürgerlich aussehendes Frauchen mit blonden Haaren und sanften blauen Augen, die erschrocken nach mir blickten. Auch Nardini, der eben im Begriffe war, mit einer zärtlichen Gebärde Asti spumante in ihr Glas zu gießen, hatte mich bemerkt.

Ich ließ mich nunmehr draußen an einem Tische nieder, von welchem aus ich keinen Einblick in das Zimmer haben konnte. Aber es dauerte nicht lange, so kam Nardini herein und rasch auf mich zugeschritten.

»Welch ein Zufall,« sagte er, seine Verlegenheit hinter einem freudigen Grinsen zu verbergen trachtend, »welch ein Zufall, daß wir uns hier finden! Die Dame da drinnen –« er setzte sich leicht auf einen Stuhl mir gegenüber – »die Dame da drinnen ist meine Hausfrau. Du mußt nämlich wissen, daß ich mich, des gänzlichen Alleinseins müde, in Pension gegeben habe. Einen Diener kann ich nicht halten – und so faßte ich den Entschluß – da sich eben die Gelegenheit darbot – mich in eine Familie aufnehmen zu lassen, wo ich in jeder [224] Hinsicht aufs beste betreut und versorgt bin. Du darfst daher nichts Übles denken – –«

Ich zuckte die Achseln.

»Nein, nein, gewiß nicht. Es wird auch gleich der Gatte hier erscheinen, der nur noch eine geschäftliche Angelegenheit in Ordnung zu bringen hat. Er ist Chemiker. Ein ganz aus-gezeichneter Mann –«

»Ich zweifle nicht daran. Und wenn du dort wirklich so gut aufgehoben bist –«

»Das bin ich! Wie gesagt, in jeder Hinsicht. Denn sie ist eine Hausfrau, wie wenige. Und dabei so herzensgut, so sanftmütig –«

»Sie sieht in der Tat so aus. Aber du solltest sie nicht allein lassen –«

»Ja, ja, du hast recht,« sagte er aufspringend. »Wir sehen uns ohnehin sehr bald wieder. Ich wollte dich schon längst aufsuchen. Du wohnst doch noch –?«

»Immer am selben Ort.«

»Also leb' wohl!« Er verschwand.

Es dauerte wirklich nicht lange, daß ein bebrillter Herr mit einem langen Knebelbart erschien. Er schritt auch sofort ins Nebenzimmer, wo er mit lauten Zurufen bewillkommt wurde.

Ich aber trachtete, mein Mahl zu beenden, und verließ den »Grünen Anker« mit der Überzeugung, daß sich da Conte Gasparo wieder auf höchst gefährliche Wege begeben habe.

3.

III.

Nardini war natürlich nicht mehr bei mir erschienen, ich selbst aber hatte nicht lange nach jener Begegnung Wien verlassen, wohin ich erst nach Ablauf zweier Jahre wieder zurückkehrte. Bald nach meiner Ankunft stieß ich eines Morgens in der Schottengasse auf Lenhardt, der in einem Bureau des [225] Kriegsministeriums in Verwendung stand. Er war inzwischen Major und noch umfangreicher geworden, als er schon früher gewesen. Ich schloß mich ihm ein Stück Weges an und erkundigte mich während des Gespräches unter anderem auch nach Nardini.

»Ach, der!« brummte Lenhardt mit verächtlicher Miene. »Den hab' ich aufgegeben. Er ist in letzter Zeit ganz und gar verkommen.« Und da ich nähere Erklärungen verlangte, fuhr er widerwillig fort. »Die Geschichte mit der Französin kennst du ja. Schon ein paar Monate nachher lernte er ein mit drei Kindern gesegnetes Ehepaar kennen, das in seiner Nähe wohnte. Er vernarrte sich natürlich sofort in die Frau, die so unschuldig und lammfromm in die Welt blickt, als könne sie nicht bis fünf zählen, dabei aber so durchtrieben und abgefeimt ist wie ihr Herr Gemahl – seines Zeichens ein Chemiker, der sich durch allerlei unhaltbare Erfindungen und schwindelhafte Projekte zu grunde gerichtet. Diese Leute, die schon längst von der Hand in den Mund lebten, befanden sich in arger Geldnot und betrachteten daher unseren Gasparo, der noch über eine kleine Barschaft verfügte, Pension und Gnadengabe bezog, als willkommene Beute. Er wurde von ihnen in Wohnung und Verpflegung genommen, was sich anfangs auch ganz gut anließ, so daß der gute Conte im siebenten Himmel schwebte. Bald aber zeigte sich, wie er daran war. Nachdem man ihm unter allerlei Vorwänden zuerst sein Geld, dann seinen Pensionsbogen, den man sofort verpfändete, herausgelockt hatte, behandelte man ihn aufs rücksichtsloseste und gab ihm schließlich kaum mehr zu essen. Dabei wurde er von den Kindern geplagt und gehänselt – und mußte obendrein mit ansehen, wie die Frau mit einem Apothekergehilfen, den man gleichfalls in Kost genommen, ein Liebesverhältnis anfing. Das brachte ihn vollends zur Verzweiflung. Eines Tages kam er zu mir, mit eingesunkenen Wangen, abgemagert bis auf die Knochen, entdeckte mir seine Lage und schloß damit, daß ihm jetzt nichts übrig [226] bleibe, als sich zu erschießen. Er jammerte mich, und ich beschloß, ihn zu retten, denn ich hielt ihn doch nur für einen gutmütigen Schwachkopf, den die Welt mißbrauchte. Ich begab mich daher fürs erste zu dem Kammervorsteher seines hohen Protektors. Aber ich fand, daß man dort auf ihn, seines ganzen Verhaltens wegen, um so übler zu sprechen war, als er im Laufe der Jahre wiederholt ansehnliche Vorschüsse empfangen hatte. Nach vielen Vorstellungen und Bitten ließ man sich zu einem Letzten herbei: man wollte gegen schriftlichen Revers eine runde Abfindungssumme bewilligen; auch stellte man die Aufnahme Nardinis in das Invalidenhaus in Aussicht, wo er seine alten Tage in sorgenloser Ruhe beschließen könne. Nachdem mit vertraulicher Zuhülfenahme der Polizei seine Beziehungen zu dem würdigen Ehepaare, das sein Opfer nicht so leichten Kaufes freigeben wollte, gelöst waren, konnte er auch wirklich seinen Einzug in das, wie es schien, ihm höchst willkommene Asyl halten. Aber was tut der Mensch? Kaum ein paar Monate dort, nimmt er ein junges Mädchen zu sich, das er irgendwo von der Straße aufgelesen. Eine ganz gemeine Person, die in einer Pappschachtelfabrik gearbeitet hatte. Häßlich, pockennarbig, dabei ein Krüppel, denn sie hinkt am linken Bein. Der Teufel weiß, welche Eigenschaften sie sonst haben mochte, um dem alten Satyr den Kopf zu verrücken – genug: er ließ sie nicht mehr von sich. Nun kann man dort einem Kranken oder Bresthaften die Aufnahme einer Dienerin zur Pflege und zur Wartung allerdings nicht verwehren; aber Nardini war kerngesund, und somit lag die eigentliche Triebfeder klar zutage. Das erregte nun im Hause, wo sich viele verheiratete Offiziere mit ihren Familien befinden, das größte Ärgernis, und er erhielt die strengste Weisung, das Ding sofort zu entlassen. Da er aber nicht wollte oder nicht konnte, so kam er einer voraussichtlichen Ausweisung zuvor, indem er eines Tages ohne weiteres das Feld räumte und mit dem Weibsbild irgendwo draußen in Rudolfsheim eine kleine Wohnung bezog, wo er nun, auf [227] seine geringe Pension beschränkt, ein erbärmliches Leben führt. So sagte man mir wenigstens; denn daß ich nicht selbst nachsehe, begreifst du wohl.«

Wir waren inzwischen beim Kriegsgebäude angelangt, in welches nun Lenhardt, sich verabschiedend, einbog, während ich meinen Weg fortsetzte, nicht sonderlich von den Mitteilungen überrascht, die ich ja zum Teil schon damals vorausgesehen.


* * *


In den nächsten Tagen wollte ich einen Bekannten aufsuchen, der in der Gumpendorfer Straße wohnte. Er war nicht zu Hause, ich erhielt jedoch den Bescheid, in einer Stunde wiederzukommen. Ich schlenderte also nach der Mariahilfer Hauptstraße und dort bis zur Linie hinauf. Zurückkehrend, bog ich in den Esterhazy-Garten ein, den ich schon seit vielen Jahren nicht mehr betreten hatte. Es war tief im September und der Tag unfreundlich und kühl, so daß die alte, vernachlässigte Anlage sich ganz unbesucht zeigte. Nur ein bejahrter, ärmlich gekleideter Mann saß auf einer der vielen leeren Bänke unter den herbstlich stark entblätterten Bäumen. Ich mußte nahe an ihm vorüber – und nun hatte ich Nardini erkannt, dessen Haare und Bart ganz weiß geworden waren. Vornüber gebeugt, in Gedanken versunken, beachtete er mich nicht; ich aber fühlte mich wehmütig ergriffen, als ich ihn so vor mir sah, in einem dünnen Überzieher, das niederhangende Haupt mit einem abgegriffenen Hute bedeckt. Ich schritt auf ihn zu. »Nardini!« sagte ich und streckte ihm die Hand entgegen.

Er sah mit einem irren Blick auf und betrachtete mich. »Ach du«, erwiderte er endlich, indem er ohne jegliches Zeichen innerer Bewegung mechanisch meine Hand ergriff.

»Was machst du? Wie geht es dir?« forschte ich teilnehmend.

Er sah mich mit einem unsäglich traurigem Ausdruck an. »Sono infelice« sagte er tonlos.

[228] »Weshalb? Was ist dir widerfahren?«

»M'abbandonato.«

»Wer? Wer hat dich verlassen?« fuhr ich fort, mich an seine Seite setzend.

»Ach ja, du weißt ja von nichts,« sagte er, sich besinnend. »Ich hatte eine Dienerin. Fast zwei Jahre war sie bei mir – und nun wollte sie nicht länger bleiben.«

»Aus welchem Grund?«

»Es ist ihr plötzlich eingefallen. Sie wollte in die Fabrik zurück, in der sie seit ihrem zwölften Jahre gearbeitet hatte. Überhaupt in ihr früheres Leben. Was soll ich nun anfangen!«

»Du wirst doch wohl noch eine Dienerin finden –«

»Eine andere? Ich will keine andere! Nur sie! Die Leute fanden sie häßlich, weil ihr Gesicht von den Blattern entstellt ist. Die dummen Leute! Cosa é la faccia? Niente! Era si formosa, wenn sie auch ein wenig hinkte! Und dann ihre Haare! Ihre Zähne! Ihre Hände und Füße – so klein!« Er bezeichnete das Maß an seinen Fingern.

»Sie war also eigentlich – deine Geliebte?«

Er warf mir einen erbitterten Blick zu. »Ja, das war sie! Ist es dir etwa nicht recht? Willst du mir Vorwürfe machen? Weil sie von niedriger Herkunft ist? Wer bin denn ich jetzt? Ein armer Teufel, der auf seine Hauptmannspension angewiesen ist! Kann ich damit standesgemäß leben? Oder meinst du vielleicht, weil ich alt bin? Man ist so alt, wie man sich fühlt. Und ich fühle mich nicht alt! Non posso vivere senza femina!«

»Du wirst es doch zuletzt müssen.«

»Müssen!« schrie er. »Ich kann nicht! Ich kann nicht!« Er faßte die eiserne Seitenlehne der Bank und rüttelte daran, daß sie fast aus den Fugen ging. »Ich muß sie wieder haben!« Er blickte wild um sich und fing jetzt an, mit seinen harten, knochigen Fäusten die Brust zu schlagen.

Ich fiel ihm in den Arm und sagte eindringlich: »Aber wenn sie nun einmal nicht will!«

[229] »Ach ja, sie will nicht!« jammerte er, plötzlich wie gebrochen. »Sie will nicht! Und sie hatte es so gut bei mir! Ich trug sie auf Händen – ich vergötterte sie! Ma, é si crudele! Als sie mir ihren schrecklichen Entschluß ankündigte, da fiel ich ihr zu Füßen und beschwor sie, mich nicht zu verlassen. Aber sie lachte nur dazu. Und dann sagte ich ihr, daß ich sie heiraten wolle, wenn sie nur bliebe. Das wäre ja gegangen, wenn ich meine Charge niedergelegt hätte. Doch sie lachte nur noch lauter und meinte, was sie davon hätte!«

»Du siehst, daß alles umsonst ist.«

Er hörte nicht, was ich sagte, und fuhr, vor sich hinstierend, fort: »Nachdem sie weg war, habe ich sie auf der Straße abgepaßt, als sie früh morgens zur Fabrik ging. Da empfing sie mich mit Schimpfworten und wollte nach mir schlagen!« Er brach in Tränen aus.

Ich empfand mich von diesem Anblick aufs unangenehmste berührt. Dennoch sagte ich noch immer teilnehmend: »Und du denkst noch an sie? Das ist eine unwürdige Schwäche, deren du um jeden Preis Herr werden mußt. Du wirst doch nicht dieser Person wegen den Verstand verlieren wollen?!«

»Ja, ja, ich verlier' ihn!« rief er, die Augen rollend. »Ich fühle, daß ich wahnsinnig werde!« Er griff nach der Stirn. Seit sie fort ist, esse, trinke und schlafe ich nicht mehr. Ruhlos irr' ich umher bei Tag und Nacht, bis ich vor Mattigkeit irgendwo hinsinke. »Ich gehe zugrunde!« Er begann wieder mit geballten Fäusten gegen seine Brust zu wüten.

Ich hatte genug und stand auf. Es gingen eben einige Menschen durch den Garten, die aufmerksam wurden und betroffen und neugierig nach uns hinblickten. Es mochte aussehen, als wären wir in einem heftigen Streit begriffen.

»Nun, dann ist dir auch nicht zu helfen,« sagte ich mit unwillkürlicher Härte. »Aber ich will hoffen, daß du doch noch zur Besinnung kommst. Ich muß jetzt gehen.« Ich reichte ihm [230] die Hand hin, die er nicht ergriff; dann entfernte ich mich rasch, ohne mehr umzublicken.

Aber ich war noch nicht weit gegangen, als mich Unzufriedenheit mit mir selbst überkam. Wie? Ich konnte mich so ohne weiteres von dem alten Manne abwenden, konnte ihn mit kalter Verachtung seinem Schicksal überlassen, das er ja doch nicht selbst verschuldet hatte? Jener unglückselige Hang zu den Frauen, der sich durch sein ganzes Leben zog, der ihn seit jeher kaum genießen, aber stets leiden ließ – der nur ihm allein Verderben brachte: mußte er nicht aufs tiefste in seinem Organismus begründet und daher mit unabwendbarer Notwendigkeit zutage getreten sein? Und wenn er diesen Hang nicht zu meistern verstand, so lag das an dem Mangel ethischer Kraft, die doch immer nur eine geistige ist und die er sich selbst nicht geben konnte, da sie ihm von der Natur versagt geblieben. Die Welt, schnell fertig mit dem Wort, mochte ihn immerhin einen alten, schwachköpfigen Satyr nennen: ich aber, der ich mich immer im stillen berühmte, tiefer als andere in das Wesen eines Menschen zu blicken, ich durfte so nicht urteilen. Damals, als es sich um eine Summe Geldes handelte, war ich mit Freuden bereit, ihm zu helfen – und jetzt, da er in seiner greisenhaften Erotomanie dem Irrenhause und dem Selbstmorde nahe stand: jetzt wollte ich ihm einsichtsvolle Teilnahme, freundschaftlichen Beistand versagen, wodurch allein er vielleicht noch zu retten war? ....

Und schon kehrte ich um und eilte wieder dem Esterhazy-Garten zu. Aber Nardini war nicht mehr zu sehen. Wohin mochte er sich gewendet haben? Gleichviel! Noch war die äußerste Gefahr nicht im Verzuge – und ich würde ihn zu finden wissen.

Mein erster Gedanke war nunmehr, mich zu Lenhardt zu begeben. Nach einiger Überlegung aber gewann ich die Überzeugung, daß er, erbost, wie er auf Nardini war, in seiner schroffen Art jeden Beistand verweigern würde. Ich beschloß also, mich [231] beim Platzkommando nach der Wohnung des Conte zu erkundigen. Morgen, in aller Frühe, da ich ihn jedenfalls noch zu Hause treffen mußte, wollte ich ihn aufsuchen.

Nach einer unruhigen Nacht schritt ich schon um sieben Uhr dem bezeichneten Hause in Rudolfsheim entgegen. Ich wollte vorerst beim Hausbesorger Nachfrage halten, fand aber dort die Tür verschlossen. Die Frau jedoch, eine unhold aussehende Alte, traf ich auf der Treppe, eben im Begriff, diese zu reinigen. Ich ersuchte sie, mir zu sagen, in welchem Stockwerk der Hauptmann Nardini wohne.

»Im dritten, Tür 21«, entgegnete sie barsch, ohne aufzublicken und sich in ihrer Beschäftigung stören zu lassen, wobei sie mit dem Kehrbesen meinen Füßen sehr nahe kam. »Aber Sie gehen umsonst hinauf. Er ist seit gestern früh nicht mehr nach Hause gekommen.«

»Aber er wird doch –«

»Na, wer weiß. Seit das Frauenzimmer von ihm fort ist, ist er ganz verrückt.«

»Und macht das niemandem Sorge?«

»Wem denn? Übrigens ist er schon ein paarmal die Nacht weggeblieben, und erst am nächsten Vormittag wiedergekommen.«

»Das wird er wohl auch heute. Ich bitte Sie, ihm dann meine Karte zu übergeben und ihm zu sagen, daß ich um zwei Uhr wieder nachsehen werde. Er möge mich bestimmt erwarten, denn ich habe ihm eine sehr wichtige Mitteilung zu machen.«

Sie schob, mit dem Kopfe nickend, die Karte samt dem unterstützenden Geldbetrag in die Tasche ihres schmutzigen Kleides und fuhr fort, während ich nun ging, Staub aufzuwirbeln.

Als ich wieder kam, weckte ich sie aus einem gelinden Nachmittagsschlaf, in welchen sie samt ihrem grauhaarigen, bläulich benasten Gatten versunken war. Beide sahen mich stumpfsinnig an.

[232] »Nun?« fragte ich. »Ist er gekommen?«

»Kommen ist er, aber gleich wieder fortgangen.«

»Haben Sie ihm meine Karte gegeben?«

»Freilich. Aber er hat sie nicht ang'schaut.«

»Glauben Sie, daß er vielleicht im Laufe des Nachmittags oder Abends –«

»Das wissen wir nicht«, brummte das Ehepaar einstimmig.

Ich war nun ratlos und wußte nicht, was ich beginnen sollte. In dieser Not beschloß ich endlich, mich jetzt doch an Lenhardt zu wenden, den ich auch, obgleich die Stunde schon vorgerückt war, in seinem Bureau antraf; er war gerade im Begriff, es zu verlassen, hatte schon den Säbel umgeschnallt und die Mütze auf dem Kopf. Was ich befürchtet hatte, traf ein. Auf meine dringende und beredte Vorstellung, daß nunmehr für unseren Conte das Äußerste zu befürchten sei, erwiderte er barsch: »Ach was, der alte Narr soll sich erschießen! Es ist das beste, das man ihm wünschen kann!«

Dieser Wunsch ging in Erfüllung. Schon am nächsten Morgen fand man Nardini entseelt in dem Wallgraben nächst der Gumpendorfer Linie. Ein Armeerevolver aus früherer Zeit mit starkem Kaliber lag neben ihm.

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TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Erzählungen. Novellen aus Österreich. 4. Teil. Conte Gasparo. Conte Gasparo. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-ADEE-B