[102] Requiem der Liebe

1.

[103] [107]I.

An einem milden, sonnigen Septembermorgen schritt Leo Bruchfeld die weitläufige Gasse hinunter. Er erinnerte sich noch der Zeit, wo hier nur zwei Reihen unansehnlicher Häuser gestanden, durch eingeplankte schattige Gärten voneinander getrennt, was gerade diesem Teil des ehemaligen Wiener Vorortes ein sehr ländliches Aussehen verliehen hatte. Aber das rief in ihm keine elegische Stimmung hervor; er ging vielmehr ohne weitere Erwägungen an den stattlichen Gebäuden vorbei, welche sich, mehrere Stockwerke hoch, im Laufe der Jahre rechts und links erhoben hatten. Die meisten Fenster standen offen; Teppiche und Bettzeug waren zum Lüften ausgelegt, und dahinter kamen ab und zu mit halbem Leibe sorgliche Hausfrauen im weißen Morgenhäubchen oder dralle Mägde zum Vorschein. Unten aber regte und bewegte sich in buntem Durcheinander das beginnende Leben des Tages. Fuhrwerke aller Art: Stellwagen und klingelnde Trams, Fiaker und Equipagen, die ihre Insassen aus den nächstgelegenen Sommerfrischen nach der Stadt brachten, rollten auf dem eben bespritzten Fahrwege dahin, während zahlreiche Fußgänger, männliche und weibliche, mehr oder minder eilig ihren Berufsarbeiten entgegenschritten. Nur Kinder sah man wenige; sie waren bereits in der Schule, die erst in den letzten Tagen wieder begonnen hatte.

In diesem Gewimmel nahm sich Bruchfeld, einen leichten Havelock um die Schultern geworfen, ganz stattlich aus. Obgleich [107] er schon ein Fünfziger war und sich etwas vornübergebeugt hielt, erschien seine ziemlich hohe Gestalt trotz einer gewissen Beleibtheit doch noch stramm und beweglich, und seine blauen Augen leuchteten hell aus dem kräftig gefärbten Antlitz, das ein kurzer, stark ergrauter Vollbart eher jünger als älter erscheinen ließ. Mancher Vorübergehende betrachtete den bekannten Tonmeister, der seit kurzem als Gast einer vornehmen Familie in dieser Gegend wohnte und auch schon in früheren Jahren hier gelebt hatte, mit Aufmerksamkeit oder grüßte ihn sehr zuvorkommend.

So war er auf den kleinen Platz angelangt, zu welchem sich die Gasse erweiterte, als er plötzlich den Schritt anhielt. Er hatte eine Frauengestalt erblickt, welche jenseits, einen blauen Sonnenschirm über sich ausgespannt, langsam vor einem villenartigen Hause auf und nieder ging. Die Dame war nicht mehr jung, aber ihr Wuchs glich dem eines zarten Mädchens, und ihr feines, scharfgeschnittenes Profil zeigte auffallende Schönheit. Nun erblickte sie auch ihn, und eine dunkle Röte schoß in ihr schmales Gesicht. Den Schirm tiefer anziehend, tat sie noch einige Schritte und blieb dann, den Kopf abwendend, stehen.

Bruchfeld empfand das Unziemliche seines Hinstarrens und setzte sich wieder in Bewegung. Aber nicht weiter als bis zur Ecke einer nahen Seitengasse; denn er war fest gewillt, die Erscheinung nicht aus den Augen zu verlieren. Die größere Entfernung ließ diese Absicht weniger auffallend erscheinen, und da er, wie die meisten älteren Männer, sehr gut in die Weite sah, so konnte er wahrnehmen, daß auch die Dame unter dem Schirm hervor scheue Blicke nach ihm warf. Die plötzliche Röte war aus ihrem Antlitz gewichen und hatte einer fahlen Blässe Platz gemacht, jener Blässe, welche Frauen eigen ist, die an Blutarmut leiden. Erst jetzt bemerkte er, daß sie in der Linken ein zierliches Körbchen trug, das ihr offenbar zu schwer wurde. Denn sie stellte es nunmehr auf das Mäuerchen des Gitters, das den schmalen Vorgarten des Hauses umfriedete. [108] Dann blickte sie ungeduldig vor sich hin. Sie wartete gewiß auf einen vorüberfahrenden Stellwagen, der ihr schon zu lange ausblieb. Endlich kam einer von der Stadt aus in Sicht. Schwerfällig rumpelte er beim lahmen Trott der Pferde heran. Wie die Tafel auswies, fuhr er nach Grinzing. Die Dame langte nach dem Körbchen und machte ein Zeichen mit dem Schirm. Der Wagen hielt, und ihr Kleid vorne leicht aufnehmend, stieg sie ein.

Bruchfeld hatte einen Augenblick gezögert, denn er wurde in der Stadt erwartet. Aber schon eilte er mit raschem Entschlusse herbei und schwang sich in das Rauchkupee. Es war dort nur mehr ein Platz frei gewesen, und so saß er jetzt neben einem dicken, vierschrötigen Manne, seines Zeichens offenbar Wirt oder Fleischer. Diesem gegenüber hielt ein vollbusiges Weib vom »Hof« zwei leere Marktkörbe auf dem Schoß, während er selbst mit den langen Beinen eines hageren Jünglings zu kämpfen hatte, der unter seinem großen Schlapphute in ein zerlesenes Heftchen »Reclam« vertieft war.

In der vorderen Abteilung saßen nur drei Personen. Als die Dame eingestiegen war, hatte sich ein alter Herr mit mißmutiger Galanterie vom Rücksitz erhoben, um ihr neben einer bürgerlich aussehenden Frau bequemeren Platz zu schaffen. Bruchfeld sah also nur die zarten Schultern, das schmächtige, in den modisch hohen Kragen gezwängte Hälschen, den dichten Ansatz der dunklen Haare und den aufgestülpten Rand eines flachen Strohhutes mit stahlblauem Aufputz. Sie selbst saß regungslos da, die schmalen Hände in schwedischen Handschuhen über ihrem Körbchen gekreuzt. Nur einmal wandte sie den Kopf zur Seite, wobei sie, gewissermaßen aus dem Augenwinkel heraus, nach rückwärts zu blicken versuchte. Und da kam auch die geschwungene Nase, das leicht vorgeschobene Kinn, die langen, kohlschwarzen Wimpern samt dem ungewöhnlich stark entwickelten Brauenwuchs zum Vorschein, der diesem Antlitz stets einen so auffallenden Reiz verliehen hatte. Freilich, [109] der leuchtende Schmelz der Jugend war daraus entschwunden. Die Züge hatten eine scharfe Deutlichkeit angenommen, die Wangen zeigten sich eingesunken, und mißfarbige Ringe lagen um die großen, lang und weit geschlitzten Augen. Und doch – wie schön, wie unsäglich schön war dieses Antlitz noch immer! Ja, in seiner Verfallenheit, seiner krankhaften Blässe noch interessanter, noch ergreifender als damals ......

Der Wagen war inzwischen bei den Häusern in der Nähe des alten Friedhofes angelangt, und der dicke Mann Zog an dem Ring der Klingel, um auszusteigen. Nun hatte Bruchfeld den Raum frei – und sofort rückte er in die Ecke, so daß, wäre die trennende Glaswand nicht gewesen, seine Schulter die ihre berührt haben würde. Dennoch war es ihm, als spüre er ihre Körperlichkeit warm an der seinen – und auch sie schien leicht durchschauert zu werden. Zaghaft wandte sie den Kopf nach ihm zurück – und beider Blicke tauchten zum ersten Male voll ineinander.

Er aber, mit klopfendem Herzen und in selige Empfindungen aufgelöst, wünschte nichts anderes, als daß diese Fahrt kein Ende nehmen – daß sie ewig dauern möchte! Doch schon war rechts die weitläufige Restauration mit ihren Gartenanlagen sichtbar geworden, schon senkte sich die Straße, und die ersten Häuser Grinzings kamen zum Vorschein. Am Eingange des Ortes ließ die Dame halten und stieg aus. Bruchfeld tat dasselbe und folgte ihr in angemessener Entfernung. Sie bog bald ab und bewegte sich mit anmutig ruhigem Gange einer entlegenen Seitengasse zu, die eigentlich nur aus vereinzelten Gehöften bestand, deren Eigentümer zu mäßigen Preisen Sommerwohnungen zu vermieten pflegten. Eines dieser niederen Gebäude sah vornehmer aus und machte den Eindruck eines kleinen Landhauses. Darauf schritt sie jetzt zu, erstieg zwei Stufen, die zum Eingang emporführten, öffnete, an der Klinke drückend, das Tor und verschwand, nachdem sie noch einen schüchternen Blick zurückgeworfen hatte.

[110] Bruchfeld ging bis an das Ende der Gasse, die ins freie Feld leitete und sich als offener Weg gegen Heiligenstadt schlängelte. Nun bemerkte er auch, daß hinter den Häusern eine Reihe von Gärten hinlief und ein schmaler Fußpfad daran vorüberführte. In diesen Pfad bog er ein und suchte den Garten des Hauses ausfindig zu machen, in welches die Dame getreten war. Das gelang ihm auch; aber eine ziemlich hohe Umplankung und dichtes Heckengebüsch verwehrten den vollen Einblick. Seine Hoffnung, sie hier zu erspähen, erfüllte sich nicht.

Er schritt also den Pfad zurück, um neuerdings in die Gasse einzulenken; vielleicht konnte er sie an einem Fenster erblicken. Und in der Tat, als er an dem Hause vorüber kam, sah er sie, wie in Gedanken versunken, hinter einem zurückgeschlagenen Vorhange sitzen, der die Scheiben des letzten Fensters halb verhüllte. Jetzt hob sie den Kopf, und als sie Bruchfeld gewahrte, kehrte sie rasch die Augen von ihm ab.

Er aber war eigentümlich ergriffen. Die verödete ländliche Gasse, der stille, gleichsam in sich verschlossene Wohnsitz, das schöne, blasse, verfallene Gesicht, in dem er Trauer und Müdigkeit wahrgenommen zu haben glaubte: das alles erfüllte ihn mit tiefer Wehmut. Was führt sie in dieses Haus? Wohnte sie darin – oder in jenem, vor welchem er ihr heute begegnet war? Aber wozu diese Fragen? Genug, daß er sie wieder gesehen – wieder gefunden hatte! Und in diesem Bewußtsein jubelte er jetzt plötzlich so laut auf, daß ihn zwei barfüßige Kinder, die am Wegrain spielten, erschreckt und verwundert ansahen.

Nun befand er sich wieder auf der Straße und trat, seinen Empfindungen nachhängend, den Rückweg an. Bald gewahrte er die Restauration. Er hatte heute noch nichts genossen, da er erst in der Stadt frühstücken wollte. Nun lud es ihn hier dazu ein. Er fand die Gartenräume ganz leer; nicht einer der zahlreichen Tische war besetzt. Er pochte nach dem Kellner, der endlich in Hemdärmeln erschien. Bruchfeld bestellte Tee und einen leichten Imbiß, den er mit gutem Appetit verzehrte. Dann [111] zündete er eine Zigarre an und blickte mit leuchtenden Augen in den sonnigen Tag hinaus – auf die Rebenhügel hinter den bereits brachliegenden Feldern – auf die grünen Höhenzüge des Kahlengebirges. So selig, wie heute, hatte er sich noch nie im Leben gefühlt. In den Tagen vielleicht, an welchen er als Komponist seine ersten Erfolge errungen. Doch nein! Ein so unsäglich wonniges, fast körperlich schmerzendes Gefühl des Glückes hatte er auch damals nicht gekannt. Und wieder jubelte es in ihm: Gefunden! Gefunden – nach mehr als zwanzig Jahren!

2.

II.

Ja, über zwanzig Jahre war es her, daß er sie zum ersten Mal erblickt. Und zwar an einem Fenster des Hauses, welches man neben dasjenige hingebaut hatte, in dem er selbst wohnte. Es war damals eine Zeit des allgemeinen Bauens. Wer einiges Vermögen besaß, erstand ein Fleckchen Erde, um sich darauf anzusiedeln, und das nahe, anmutige Döbling war in dieser Hinsicht sehr gesucht. Mit Mißvergnügen hatte Bruchfeld das Gerüst aufführen sehen. Seine Wohnzimmer lagen dicht daran, und so hatte er im Frühling und Sommer den Lärm der Arbeit samt den rötlichen Ziegelstaubwolken in unmittelbarster Nähe. Aber der Neubau, der ein Familienhaus werden sollte, gedieh mit überraschender Schnelligkeit; als die Herbstnebel einfielen, stand er fertig da, ein Stockwerk hoch, vornehm, geschmackvoll. Und im ersten Sommermonate des nächsten Jahres wurde er von den Eigentümern, einem Hofrate im Ruhestande und seiner Frau, bezogen. Das hochbetagte Ehepaar besaß zwei Töchter, welche auch schon längst verheiratet waren. Die ältere mit einem Oberst, der bei einer Militärbehörde in Verwendung stand; die jüngere mit einem Beamten des Ministeriums, in welchem der Hofrat früher selbst gedient. Beide Frauen hatten ihr Heim in der Stadt, besuchten aber mit ihren [112] Kindern oft das elterliche Haus, woselbst sie auch ab und zu mehrere Tage verweilten. Ein ständiger Gast jedoch war eine schon herangewachsene Enkelin, die Tochter des Oberst. Sie schien der erklärte Liebling des alten Paares zu sein; auf Bruchfeld hatte sie sofort einen tiefen Eindruck gemacht. Auch das junge Mädchen schien ihm gegenüber nicht ganz gleichgültig geblieben zu sein. Denn sie zeigte sich öfter, als sie es vielleicht sonst getan haben würde, am offenen Fenster, die ungewöhnlich reiche und schwere Fülle ihrer tiefschwarzen Haare in sichtlicher Vorliebe fast immer mit einer blaßgelben Schleife geschmückt. Auch konnte er wahrnehmen, daß sie sich, nicht ohne Verlangen, von ihm gesehen zu werden, vormittags allein im Hausgarten aufhielt, in den er von seinem Arbeitszimmer sehr bequem hineinblicken konnte. So entspann sich zwischen ihnen eine Art zarten Einverständnisses, ein unschuldiger und doch reizvoller Flirt, der Bruchfeld in die glücklichste Stimmung versetzte.

Er hatte sich im Winter des vorigen Jahres hierher zurückgezogen, um an einer Oper zu arbeiten, welche für seine Zukunft entscheidend werden sollte. Nachdem es ihm gelungen war, die Aufmerksamkeit musikalischer Kreise durch einige Tonwerke: Lieder, Sonaten und eine Messe, die in der Augustinerkirche zu Gehör gebracht worden war, auf sich zu lenken, hatte er, kurz entschlossen, eine Stelle im Staatsdienste, die er als Doktor der Rechte bekleidete, niedergelegt, um sich ganz seiner Kunst zu widmen. Ein geringes Vermögen, das ihm durch Erbschaft zugefallen war, erleichterte ihm diesen Schritt, der von mancher Seite mißbilligt wurde – und auch er unterschätzte dessen Gefährlichkeit nicht. Aber er konnte nicht anders. Er fühlte, daß er sonst im Dilettantismus stecken bleiben würde; ihn jedoch drängte es, künstlerisch Bedeutendes zu schaffen. Freilich, wenn ihm das nicht gelang, war er verloren. Denn an eine spätere Umkehr war nicht zu denken, und da er kein Instrument in irgend hervorragender Weise spielte, so blieb ihm auch die Laufbahn eines Virtuosen verschlossen, welche so viele Komponisten nebenher [113] einschlagen. Er hatte eben alles auf einen Wurf gesetzt. In diesem Gefühl der Unsicherheit unterdrückte er das Verlangen, dem schönen Mädchen näher zu treten. In welcher Weise wäre ihm dies auch möglich gewesen? Als Freier gewiß nicht. Was hätte er ihr zu bieten gehabt? Eine vorläufige Anweisung auf seinen künftigen immerhin, fraglichen Ruhm? Und wenn auch sie – was er jedoch sehr bezweifelte – darauf eingegangen wäre: ihre Angehörigen, das fühlte er, würden nie und nimmer zugestimmt haben. Daß er noch einmal so alt war wie sie, hätte ihm kein Bedenken eingeflößt; ja, dieser Umstand kam ihm gar nicht zum Bewußtsein, stand er doch in der Blüte seiner männlichen Jahre. Ein anderes aber hielt ihn desto mehr von weiterer Hoffnung zurück. Denn er nahm, nicht ohne Anwandlung von Eifersucht, bald genug wahr, daß die auffallende Schönheit Paulas (den Namen hatte er ohne Nachfrage erfahren) auch andere Bewunderer heranzog. Man ging, sichtlich ihr zu Gefallen, durch die ziemlich entlegene Gasse, und es war ganz begreiflich, daß sie anfing, diese Huldigungen zu beachten. Zu denen, welche ihr Aufmerksamkeit besonders auf sich zu lenken suchten, gehörte auch der zweitälteste Sohn einer alten Wiener Familie, welche im Laufe der Zeit zu großem Reichtum und Ansehen gelangt war. Ursprünglich einfache Kaufleute, besaßen jetzt die Hardt zahlreiche Industrien, hatten sich in zwei Provinzen angekauft und pflegten stets einen Teil des Sommers in einem stattlichen Landhause auf der »Hohen Warte« zuzubringen. Er selbst mochte zwanzig Jahre alt sein. Groß und schlank, war er in seiner vornehmen Haltung eine höchst anziehende Erscheinung, und Bruchfeld sah den Tag kommen, wo die beiden sich in Liebe finden würden.

So war es August geworden, als ihm eine Einladung aus der Ferne zukam. Einer seiner vertrautesten Studienfreunde hatte sich nach geschlossener Ehe als Notar in einer kleinen Landstadt niedergelassen, ein geräumiges Haus samt Grundstücken erworben und forderte ihn jetzt auf, den Rest des [114] Sommers bei ihm zuzubringen. Bruchfeld überlegte nicht lange. Schien es doch, als wolle das Schicksal ihm den Anblick fremder Erfolge ersparen.

Als er spät im Herbst zurückkehrte, fand er das Haus nebenan verödet. Der Hofrat hatte zu kränkeln begonnen und sich mit seiner Frau nach Bozen begeben. Von den übrigen zeigte sich niemand. Als er aber Erkundigung einzog, erfuhr er: Fräulein Paula habe sich mit dem jungen Ritter von Hardt verlobt; die Hochzeit dürfte schon im Winter stattfinden.

Es war ihm, als habe er das schon lange gewußt. Dennoch zog sich sein Herz schmerzlich zusammen. Aber diese Empfindung dauerte nicht lange; sie ging alsbald in selbstlose, tiefe Befriedigung über. Ja, eshatte so sein müssen! Die beiden waren für einander bestimmt, und Bruchfeld segnete im stillen das schöne junge Paar, das seinem Glück auf den Höhen des Lebens entgegenging.

Dieses Ereignis trug auch dazu bei, daß er nun sofort einen Entschluß ausführte, der schon vor seinem Eintreffen halb und halb zur Reife gediehen war. Der Aufenthalt bei dem Freunde in geregelter Häuslichkeit und anmutiger Gegend hatte ihm sehr wohl getan, und er glaubte zu fühlen, daß er dort mit seiner Arbeit rascher zustande kommen würde, als in Wien, wo ihm bei beginnendem Winter Ablenkungen genug bevorstanden. Er ordnete noch in aller Eile einiges Geschäftliche, gab seine Wohnung auf und reiste wieder ab, ohne Paula noch einmal gesehen zu haben.

Die Hoffnungen, welche er auf seine ländliche Zurückgezogenheit gesetzt, erfüllten sich jedoch nicht ganz; es vergingen fast noch zwei Jahre, eh' er die Partitur fertig vor sich liegen hatte. Nun aber kehrte er auch ohne Verzug nach Wien zurück, wo er vorläufig in einem Hotel abstieg. Sein Werk wurde der Hofoper eingereicht; bis zur Entscheidung jedoch wollte er sich mit Behagen wieder einmal dem großstädtischen Leben hingeben, wollte alte Erinnerungen auffrischen, und neue Eindrücke empfangen.

[115] Während dieser genußfrohen Untätigkeit begab er sich eines Tages auch nach Döbling und schritt der Gasse zu, in der er gewohnt hatte. Er fühlte sich eigentümlich ergriffen, als er den zwei Häusern, die ihm so vertraut entgegenblickten, näher kam, und war sehr erstaunt, in jenem des Hofrats an offenen Fenstern – es war im Juni – zwei ihm völlig unbekannte Frauen und ein rosiges Kinderantlitz zu gewahren. Später, im Kaffeegarten des Kasinos, das er so oft besucht hatte, stieß er auf eine Gruppe von Bekannten, die ihn sogleich aufs herzlichste begüßten. Nach diesem und jenem fragend, erfuhr er, daß der Hofrat bald nach Bruchfelds Abreise gestorben sei. Das Haus habe man sofort verkauft, da sich herausgestellt, daß der alte Herr nicht nur kein Vermögen, sondern infolge verfehlter Kapitalsanlagen Schulden hinterlassen. Das sei auch mit ein Grund gewesen, daß die Verlobung seiner Enkelin mit dem Herrn von Hardt rückgängig geworden. Dessen Familie habe sich eigentlich seit jeher dieser Verbindung im stillen widersetzt und den unerwarteten Zwischenfall benützt, um den Sohn zur Wahl einer ihm längst zugedachten reichen Erbin zu bestimmen. Allerdings habe auch der Vater der Verlobten, der mittlerweile in Pension getreten und jetzt mit den Seinen in Graz lebe, durch stolzes und hochfahrendes Wesen einige Schuld an dem Bruche getragen. Doch das sei nur Wasser auf die Mühle der Hardts gewesen, bei welchen sich trotz äußerer Vornehmheit noch immer der alte Krämergeist offenbare, wie denn der ganze Vorfall hierorts, wo jedermann das so einzig schöne und liebenswürdige Mädchen gekannt, allgemeine Entrüstung hervorgerufen habe.

Diese Entrüstung teilte nun auch Bruchfeld, und vor allem hätte er dem jungen Manne eine solche Herzens- und Gesinnungsschwäche nicht zugetraut. Was mochte Paula, die er sich längst als glückliche Gattin gedacht hatte, dabei empfunden haben? In seiner eigenen Familie war ein ähnlicher Fall vorgekommen. Die Verlassene, ein körperlich sehr zartes, nervöses [116] und empfindsames Mädchen, war in Schwermut verfallen, die sie einem frühen Tode entgegentrieb. Und wenn er auch für Paula ein derartiges Los keineswegs befürchtete, so hatte sie doch, wofern sie Hardt wirklich geliebt – und daran war ja nicht zu zweifeln, – eine jener Enttäuschungen erlitten, welche ein Frauengemüt kaum jemals ganz zu verwinden imstande ist.

Aber auch über ihn brachen jetzt schwere Enttäuschungen herein. Nachdem man ihn mit einer Entscheidung über alle Gepflogenheit lange hingehalten, erhielt er eines Tages seine Oper mit der einfachen Bemerkung zurück, daß sie zur Aufführung nicht geeignet sei.

Dieser Schlag traf ihn allerdings nicht mehr unerwartet. War er doch scharfsichtig genug gewesen, in dem langen Zögern die bevorstehende Ablehnung zu erkennen; auch waren ja in gewissen Kreisen Worte gefallen, die darauf hindeuteten. Und schließlich sah er ein, daß es so habe kommen müssen. Mit Richard Wagner hatte sich im Stil der Oper nach und nach eine vollständige Wandlung vollzogen. Sein leuchtendes Vorbild aber war Mozart gewesen. Somit hatte er sich in der dramatischen Musik als Epigone gekennzeichnet. Und nach anderen Richtungen hin, wo er sich in seiner tiefsten Eigenart hätte bekunden können, drohte ihn Johannes Brahms, dessen Ruhm eben im hellen Aufleuchten begriffen war, lange Zeit hinaus – wenn nicht für immer in den Schatten zu stellen. Was nun beginnen? Wieder den Doktor der Rechte hervorsuchen, wozu man ihm von mancher Seite ganz unverhohlen riet? Nein! Er durfte sich nicht selbst aufgeben, mußte wohl oder übel auf der Bahn weiter schreiten, die er eingeschlagen ......

Und nun kam eine Reihe von Jahren, die er, von den Verhältnissen im Kampfe ums Dasein hin und her geworfen, größtenteils ferne von Wien zubrachte. Jahre voll fruchtloser Arbeit, zunehmender Entmutigung und bitterer Selbstqual. Eine Kette von Not und Sorgen, von Entbehrungen und Demütigungen [117] aller Art, wie sie den Künstlern von heute kaum mehr begreiflich sind – und von denen er sich noch in der Erinnerung schaudernd abwandte. Endlich aber war auch ihm der Sieg der Beharrlichkeit beschieden. – Im Laufe der achtziger Jahre wurde man wieder auf ihn aufmerksam. Man brachte seine Kompositionen, die in den Konzertsälen mehr und mehr Beifall fanden. Hervorragende Verleger boten sich ihm an – und als er zuletzt mit einem Zyklus ergreifender Symphonien hervortrat, war sein Name in aller Munde. Dieser entscheidende Erfolg fiel mit seinem erreichten fünfzigsten Lebensjahre zusammen. Man wetteiferte, dem Meister – wie man ihn jetzt nannte – die wärmsten Ovationen darzubringen. Ja, man führte sogar die damals zurückgewiesene Oper auf. Sie gefiel, und man pries allgemein den langentbehrten Melodienreichtum, der das immerhin etwas veraltete Werk auszeichnete.

So sah sich Bruchfeld plötzlich auf einer Höhe, welche einst zu erreichen der Traum seiner Jugend gewesen. Aber es berauschte ihn nicht. Er hatte viel gelitten, viel erfahren und dabei eine Selbstkenntnis erworben, die ihn fühlen ließ, daß ihm diese späten Ehrungen eigentlich mehr boten, als er verdiente. Er war kein Bahnbrecher gewesen, ein Spätgeborener war er, in dessen Werken die Musik einer großen Vergangenheit gewissermaßen den letzten elegischen Nachhall gefunden. Und das genügte ihm auch. Denn in dieser Art zu schaffen, war ja, das wurde ihm jetzt vollständig klar, die Aufgabe seines Lebens gewesen, und er hatte sie, gleichsam unbewußt, erfüllt. Nun wollte er sich in seiner Vaterstadt dauernd niederlassen; früher aber noch eine Reise nach Italien unternehmen, das er einst nur flüchtig hatte durchwandern können, und wohin ihn die Sehnsucht der Erinnerung trieb. Vielleicht empfing er dort die Anregung zu einem größeren Werke, mit welchem er seine Laufbahn würdig abschließen konnte ....

Und nun war ihm Paula begegnet! Paula, die er niemals hatte vergessen können – selbst nicht während einer mehrjährigen, [118] durch den Tod gelösten Beziehung zu einer geistvollen Frau, die sein Schaffen aufopfernd gefördert. In dem Salon eines fürstlichen Schlosses, wo ihm einst gastliches Asyl geboten war, hing ein weibliches Porträt, von dem niemand wußte, wen es eigentlich vorstellte. Es trug keine Signatur, stammte jedoch entschieden aus der Zeit des Flors englischer Malerkunst. Die Ähnlichkeit der jungen Dame mit Paula war ganz unglaublich. Dieselben Züge, dieselben Augen – derselbe rote, gleich einer Knospe leicht geöffnete Mund! Bruchfeld trieb stille Abgötterei mit diesem Bilde; ein junger Maler kopierte es auf seinen Wunsch. Nicht ganz glücklich; aber er ließ es doch sofort in seinem Zimmer anbringen. Und auch gesehen hatte er sie im Laufe der Jahre – zweimal gesehen. Das erste Mal ganz flüchtig im Profil an einem Fenster in der Währingerstraße Sie war sofort wieder verschwunden; aber es konnte keine Täuschung gewesen sein, und er fühlte sich versucht, im Hause nähere Erkundigung einzuziehen. Aber wozu? Es war ja noch in seiner schlimmsten Zeit, und er trug sich damals gerade mit der Absicht, Wien dauernd zu verlassen. Lange nahher, als er eben seine Triumphe feierte, begegnete er ihr im Stadtpark, den er in Gesellschaft einiger Herren durchschritt, um in die Reisnerstraße zu gelangen. Bei der Karolinenbrücke kamen zwei weibliche Gestalten in Sicht, welche Bruchfeld, im Gespräch begriffen, nicht weiter beachtete. Erst ganz in der Nähe erkannte er Paula, die Arm in Arm mit einem halbwüchsigen Mädchen rasch einher schritt. Die Blicke begegneten sich, und eine flammende Röte trat in ihr schönes Antlitz, das, wie die ziemlich hagere Gestalt, bereits leichte Spuren des Alterns aufwies. Bruchfeld konnte sich von seinen Begleitern nicht trennen und mußte es aufgeben, ihr zu folgen. So war sie ihm wieder entschwunden! Es schien ihm zwar, daß sie unweit des Parkes wohnen müsse; aber zu Nachforschungen fand er nicht mehr Gelegenheit, da ihn eine künstlerische Verpflichtung, die er in diesen Tagen übernahm, neuerdings auf unbestimmte Zeit in die Ferne trieb. Jetzt endlich, da [119] er sich dauernd in Wien niederlassen wollte – jetzt hatte er sie gefunden!


* * *


Das Rollen eines Stellwagens, der von Grinzing kam, drang an sein Ohr. Er zog die Uhr und sah, daß er vielleicht noch Zeit fände, der Sitzung beizuwohnen, zu welcher ein musikalischer Verein sein Erscheinen erbeten hatte. Er pochte heftig nach dem Kellner, und da dieser nicht gleich kam, legte er einen Gulden auf das Teebrett und eilte zu dem Wagen, der eben vor der Restauration anlangte.

3.

III.

Er war in der Tat noch rechtzeitig eingetroffen; aber seine Gedanken schweiften derart von den Verhandlungen ab, daß er einmal, zur allgemeinen Verwunderung, eine ganz verkehrte Antwort gab. Er befand sich in einer Art von Trunkenheit, die erst dann ruhiger Besinnung wich, als er nach gesellig verbrachtem Tage in seinem stillen Zimmer zu Bette lag. Was war denn über ihn gekommen? Was wollte er eigentlich? Er hatte sie wiedergesehen. Welche Hoffnungen knüpfte er daran? Er wußte ja gar nichts von ihr und über sie! War sie noch Mädchen – oder verheiratet? Das letztere schien ihm nicht wahrscheinlich, denn sie sah gar nicht danach aus. War sie also noch frei – nun, dann konnte er jetzt um sie werben. Wie alt war sie denn? Er vermochte es zu berechnen. Sie stand in ihrem siebenunddreißigsten – er in seinem fünfundfünfzigsten Lebensjahre. Allerdings ein Unterschied. Aber war ihm denn nicht gerade in letzter Zeit von verschiedenen Seiten ganz wohlwollend geraten worden, zu heiraten? Er dürfe sich nur nicht an die Jüngste machen; etwa an eine zwischen dreißig und vierzig. Das stimmte ja. Hatten doch schon weit ältere Männer, als er, noch ganz glückliche Ehen geschlossen! [120] Und wie lange war es denn her, daß sich ihm eine junge Dame förmlich an den Hals geworfen? Freilich, sie hatte die Absicht, sich zur Virtuosin auszubilden – und da lag die eigentliche Triebfeder wohl klar zutage. Aber es war doch auch seine Persönlichkeit mit im Spiele gewesen bei dieser raschen, enthusiastischen Neigung, welcher er, da er sie nicht erwidern konnte, mit aller Entschiedenheit aus dem Wege gegangen. Er hatte überhaupt keine Vorliebe für Künstlerinnen und solche, die es werden wollten; er wußte, warum. Und nun erinnerte er sich, daß er Paula nie Klavier spielen gehört habe, und das war ihm damals ganz recht gewesen; es würde ihn ja nur im Arbeiten gestört haben. Aber wenn sie wirklich verheiratet war? Er fühlte einen raschen Schmerz am Herzen. Bliebe immer noch die Frage: ob auch glücklich? Und wenn nicht? Nun, dann – – Er lächelte jetzt über sich selbst. Wie weit ins Blaue hinein verstieg er sich! Was war da auszudenken? Es lag ja noch alles wie unter dichten Schleiern verborgen. So überkam ihn endlich wieder nur die selige Gewißheit, daß er sie gefunden – und daß er sie morgen wiedersehen müsse. Aber wo? Sollte er nach Grinzing fahren? Sollte er sich zur selben Stunde wie heute an den Ort begeben, wo er sie getroffen? Das letztere, schien ihm, als weniger auffallend, vorzuziehen; auch war er fast überzeugt, daß sie in dem Hause wohne, vor welchem sie auf und nieder gegangen. Dort also wollte er sie erwarten. Mit diesem Entschlusse schlief er ein.

Am nächsten Morgen trieb ihn die Ungeduld schon lange vor neun Uhr hin. Mit klopfendem Herzen ging er, vorsichtig nach den Fenstern spähend, an dem Hause vorüber. Dabei nahm er wahr, daß sich der Eingang in der schmalen Seitengasse befand, deren Ecke das hübsche, zweistöckige Gebäude bildete. Da heraus also mußte sie kommen. Er stellte sich in einiger Entfernung auf und harrte. Langsam verstrich eine halbe Stunde; schon gab er die Hoffnung fast verloren, daß sie erscheinen würde. Jetzt aber sah er den blauen Sonnenschirm – und die zarte [121] Gestalt bog um das Gitter, an dessen Rand sie wie gestern das Körbchen stellte. Als sie ihn erblickte, wendete sie langsam das Haupt ab.

Nun zeigte sich auch schon der Wagen. Bruchfeld verzichtete darauf, mitzufahren. Sie sollte erkennen, daß er gekommen war, sie zu sehen, daß er aber nicht die Absicht habe, sich aufzudrängen; nur in zartester, rücksichtsvollster Weise wollte er vorgehen. Er wartete, bis sie eingestiegen war, und ließ dann den Wagen an sich vorüberfahren.

So war er fürs erste ganz zufrieden. Wenn er nur noch gewußt hätte, wem ihre Fahrten nach Grinzing galten. Aber auch das würde sich ja zeigen.

Mit solchen Gedanken bog er in die Hauptstraße ein und trat in eine Trafik, um Zigarren zu kaufen. Dabei stieß er auf die Zeitungsträgerin, die eben den Laden verlassen wollte. Sie betrieb ihr Geschäft schon viele Jahre, und Bruchfeld erinnerte sich ihrer noch als eines hageren, starkknochigen Mädchens, das damals auch die Briefe austrug, denn es gab noch kein eigentliches Postamt in dem ländlichen Bezirk. Jetzt war sie eine stattliche, beleibte Vierzigerin mit klugen, freundlichen Augen. Sie begrüßte Bruchfeld sofort als alten Bekannten.

»Das ist schön, Herr Doktor, daß Sie wieder hier sind! Habe Sie schon ein paarmal auf der Straße gesehen. Bleiben Sie jetzt bei uns?«

»Einige Zeit gewiß. Aber wie ist es Ihnen seither ergangen? Ganz vortrefflich, wie man sieht. Sie sind gewiß verheiratet?«

»Freilich, freilich. Dem entgeht man nicht, habe mich lange genug gesträubt. – Aber auch Sie, Herr Doktor, sehen sehr gut aus. Bißchen grau, im übrigen fast ganz so, wie damals, als ich Ihnen die Briefe in die Donaugasse brachte. Das war freilich noch eine andere Zeit. Erinnern Sie sich an das schöne Fräulein nebenan?«

»Im Hause des Hofrats? Was ist mit ihr?«

[122] »Die lebt jetzt auch wieder in Döbling – als Frau.«

»So.«

»Sie muß leidend sein, denn sie sieht elend aus – ist aber noch immer sehr schön. Wahrscheinlich ist sie wegen der Eltern herausgezogen; die bereits seit drei Jahren hier in der Hauptstraße wohnen. Der Herr Oberst ist schon sehr alt und gebrechlich. Darum haben sie ihn über den Sommer nach Sievering oder Grinzing gebracht, wo er bessere Luft hat.«

»Und wen hat denn die Tochter geheiratet?«

»Das kann ich eigentlich nicht sagen. Die Leute halten kein Blatt. Aber der Mann ist jedenfalls nichts Besonderes, sonst wüßt' ich's. Ziemlich bejahrt ist er auch schon. Wird wohl so eine Notehe gewesen sein – nach der verunglückten reichen Partie.« Damit nahm sie ihren Pack Zeitungen auf und verließ mit einem eiligen Gruß den Laden.

Also verheiratet! Und der Mann nichts Besonderes. Auch schon ziemlich bejahrt. Bruchfeld wiederholte sich das, während er jetzt seinem Wohnhause zuschritt, das am äußersten Ende der Straße lag, von einem großen Park umgeben. Er sah im Geiste, wie alles gekommen sein mochte. Zuerst eine Zeit der Kränkung und des Harms. Dann vielleicht allmähliches Anknüpfen neuer Beziehungen, die wieder in anderer Weise von den Umständen nicht begünstigt waren und abermals gelöst werden mußten. Dumpfes, verdrossenes Dahinleben, langsames Verblühen – und endlich, so hatte ja die Frau gesagt, die Notehe mit einem nicht geliebten Manne. Kein ungewöhnliches Mädchenschicksal, dem seltsamerweise gerade die Schönsten und Anziehendsten so häufig zu verfallen pflegen!

Und diese Überzeugungen bestärkten sich in ihm, als er am nächsten Morgen im Rauchcoupé des Stellwagens saß. Sie hatte diesmal nur auf dem Vordersitze Platz gefunden, und so war sie ihm vollständig vor Augen. Sie sah heute nicht ganz vorteilhaft aus. Ein hohes, dunkles Hütchen mit schmalem Rande ließ ihr ohnehin gestrecktes Gesicht etwas zu lang erscheinen. [123] Und wie fahl, wie verwittert war dies Gesicht! Er nahm deutlich alle Schäden wahr, die Zeit und gewiß auch Krankheit darin hervorgebracht; nur der leicht geschwellte Mund hatte sich frisch erhalten. Und einen eigentümlichen Zug entdeckte er, der um diesen Mund sowie um die Nasenflügel lag – und von dem er sich unangenehm berührt fühlte, er wußte nicht warum. Erst als sie den Kopf zur Seite wendete, kam ihr Profil – und damit wieder ihr ganzer Reiz zum Vorschein, der ihn auch wieder ganz gefangen nahm. Mit Wehmut betrachtete er jetzt das Kleid, das sie trug. Es war zu bauschig für ihren zarten Leib, und der gelblich-graue Stoff sah verschossen aus. Er verkehrte jetzt so viel in Kreisen, wo die Frauen eine fast frevelhafte Kleiderpracht entfalteten. Und sie – sie mußte sich einschränken, mußte sich, das sah man, behelfen, wie es anging. Sein Blick verweilte auf dem einzigen Schmuckstück, das sie trug: auf einer kleinen, abgenützten Filigran-Silberbrosche, die eine Marguerite vorstellte. Er dachte dabei an das Gold-und Juwelengefunkel, das ihm so oft bei anderen vor Augen kam. Zwar wußte er gar wohl, daß auf derlei das Glück des Lebens nicht beruhe, und dennoch machte es ihm Schmerz, daß er Paula in Verhältnissen fand, die sie zwangen, im überfüllten Omnibus zu fahren, und, wie er jetzt erkannte, der Hauswirtschaft ihrer Eltern ein gefülltes Körbchen zuzutragen ....

Und auch des Gatten sollte er am nächsten Tage ansichtig werden. Es war Sonntag, und Bruchfeld hatte dem Verlangen, Paula zu sehen, nicht nachgegeben. Seit er wußte, daß sie verheiratet war, wollte er doppelt zurückhaltend sein. An ihr lag es nun, ihm in irgendeiner Weise kund zu geben, ob ihr eine Annäherung erwünscht sei oder nicht.

Um drei Uhr fand in der Villa, die ihn beherbergte, ein Diner statt; es waren einige hervorragende Persönlichkeiten, Herren und Damen, geladen worden. Beim Kaffee beschloß man, da das Wetter herrlich war, eine Ausfahrt zu unternehmen. Es wurde der Weg gegen Weidling durch die Wälder bei Sievering [124] vorgeschlagen. Die Gäste hatten Wagen mitgebracht, zwei Hausequipagen standen zur Verfügung – und so setzte sich die Pierutschade nach fünf Uhr in Bewegung. Bruchfeld, der mit der Gattin eines hohen Würdenträgers im zweiten Wagen saß, war sehr zerstreut. Er dachte an Paula, und es war ihm, als sollte er sie während der Fahrt irgendwo erblicken. Als man an der abzweigenden Grinzinger Straße vorüberkam, spähte er unwillkürlich nach dieser Richtung hin.

Nun fuhr man in das langgestreckte Sievering ein, das sich von sonntäglichen Ausflüglern äußerst belebt zeigte. Aus den überfüllten »Buschenschänken« klang lustige Musik; die Tische in den Kaffeegärten waren dicht besetzt. Trotzdem stieß man auf ganze Reihenzüge von Menschen, die bereits den Heimweg antraten, denn die Dämmerung brach schon allmählich herein. In diesem Gewühl, das sich auf dem schmalen Fußweg fortbewegte, entdeckte Bruchfeld plötzlich Paula, die am Arm eines Herrn, wie in sich versunken, langsam dahin schritt. Sie trug heute ein sehr hübsches dunkles Kleid und einen sichtlich neuen Hut, der mit roten Blumen geputzt war. Bei dem raschen Heranrollen der Gefährte hob sie den Kopf und faßte den ersten Wagen so aufmerksam ins Auge, daß der zweite ihrem vollen Blick entging und Bruchfeld nicht wußte, ob er von ihr gesehen wurde oder nicht. Desto eindringlicher jedoch hatte er selbst den Herrn an ihrer Seite betrachtet. Er mochte ein Vierziger sein, war schon leicht ergraut, wies aber ein angenehmes, wenn auch unbedeutendes Gesicht. Mit einer gewissen modischen Eleganz gekleidet, machte er den Eindruck eines behaglichen, selbstbewußten Mannes in mittlerer Lebensstellung.

Bruchfeld blickte, solange er konnte, dem Paare nach, das nun wieder gleichmütig schweigsam weiter schritt. Ein eigentümliches Gefühl überkam ihn: Eifersucht mit einer Art von Bedauern gemischt. Das also war ihr Mann! Und sie hatte mit ihm von Grinzing aus höchst wahrscheinlich das bekannte Gasthaus zur »Agnes« besucht, in dessen Garten eine Militär-Kapelle [125] spielte. Mitten in dem banausischen Schwarm zu sitzen, schlechten Kaffee zu trinken und triviale Musik anzuhören, war jetzt ihr Sonntagsvergnügen. Wäre sie sein Weib, welch edle Freuden und Genüsse des Daseins ständen ihr zu Gebote – in welcher Umgebung könnte sie sich bewegen! Aber woher wußte er denn, daß sie danach verlangte? Vielleicht war sie vollständig zufrieden – und nur seine Eigenliebe, seine Eitelkeit hatten ihn zu all diesen Reflexionen bewogen!

Dennoch saß er Montags wieder im Rauchcoupé. Und zwar allein mit einem Herrn, den er dort schon angetroffen hatte, als er und Paula eingestiegen waren. Sie selbst, auf dem Rücksitze, wandte nicht einmal den Kopf. Der Herr aber, dessen Äußeres den älteren begehrlichen Lebemann bekundete, faßte sie durch seinen Kneifer fortwährend ins Auge. Bruchfeld empfand das sehr unangenehm, da er aber nichts dagegen tun konnte, so wünschte er der Fahrt diesmal ein rasches Ende. Als Paula an der gewohnten Stelle ausstieg, blieb er sitzen, um jenem, der ihr noch mit den Blicken folgte, keinen Anlaß zu Vermutungen zu bieten. Auf dem Standplatze verließen beide den Wagen; der Herr wandte sich nach links, Bruchfeld nach rechts – und eilte der bekannten Gasse zu.

Dort angelangt, mäßigte er den Schritt. Sie mußte, so dachte er, erkannt haben, weshalb er zurück geblieben war, mußte sich ihm, wenn sie auf seine Empfindungen einging, jetzt am Fenster zeigen. Aber statt ihres Gesichtes erblickte er das ernste, sorgenvolle einer bejahrten Frau, die durch eine Brille Weißzeug musterte. Gewiß Paulas Mutter, deren er sich kaum mehr erinnert hatte. Er spähte nach den anderen Fenstern, aber es war niemand sichtbar.

Er schritt bis an das Ende der Gasse. Dort blieb er mit dem drückenden Gefühl der Enttäuschung stehen. Es war ihm, als sollte er jetzt jede Hoffnung verloren geben. Warum, das wußte er selbst nicht; sie konnte ja verhindert gewesen sein, ihn am Fenster zu erwarten. So wollte er denn noch einmal [126] vorübergehen. In einer fatalistischen Anwandlung beschloß er, alles davon abhängen zu lassen, ob er sie jetzt sehen würde. Als er sich dem Hause näherte, ging das Tor auf – und Paula trat heraus. Sie hatte ihn sofort wahrgenommen und schlug die Richtung nach dem Ort ein.

Ihn hatte ein freudiger Schreck durchzuckt. War das Zufall? War es Absicht? Gleichviel: ein entscheidender Augenblick war da – und er mußte benützt werden.

Nun aber überkam ihn eine Zaghaftigkeit, die weder seinem Alter, noch seinen Erfahrungen angemessen war. Er fühlte sich wie gewaltsam von ihr ferne gehalten, obgleich sie einmal leicht nach ihm zurückgeblickt hatte.

So war sie eine ziemliche Strecke weit gegangen, als er endlich mit raschem Entschluß an ihre Seite trat.

»Zürnen Sie mir, daß ich es wage –?« begann er und fühlte sogleich, welch verbrauchte Phrase er da hervorgeholt; aber er hatte in seiner Aufregung keine andere gefunden.

»Warum sollte ich Ihnen zürnen?« erwiderte sie, indem sie den Kopf hob. »Ich kenne Sie ja.«

Er zitterte bei dem Klang dieser tiefen, dunklen, weichen Stimme, die er von früher her kannte; sie war ja oft in kurzen, abgebrochenen Lauten aus der Ferne zu ihm gedrungen.

»Sie kennen mich also noch?« fragte er und empfand sogleich wieder, daß er nichts Einfältigeres hätte sagen können.

»Gewiß. Ich habe mich damals für Sie interessiert. Aber warum wollen Sie jetzt gerade mich?« fuhr sie rasch und unwillig fort. »Sie werden doch als berühmte Persönlichkeit Auswahl genug haben. Und ich bin ja schon vergeben.«

Er hatte sich allmählich gefaßt. »Ich weiß,« sagte er, »daß Sie bereits vergeben sind. Aber ich will ja auch nichts anderes, als Ihnen sagen, daß die Erinnerung an Sie niemals aus meiner Seele gewichen ist – daß ich stets und unter allen Verhältnissen des Lebens an Sie gedacht habe –«

»Eine ideale Liebe!« sagte sie kurzweg.

[127] »Ja, eine ideale Liebe! Und so will ich glücklich sein, wenn ich Sie nur von Zeit zu Zeit sehen, den Klang Ihrer Stimme vernehmen – den Zauber Ihres Wesens in mich aufnehmen darf.«

»O nein! Ich bewillige keine Zusammenkünfte. Das würde meinem Manne höchst unangenehm sein. Denn er liebt mich sehr.«

»Das ist nur zu begreiflich. Aber – verzeihen Sie mir diese Frage – sind Sie in Ihrer Ehe glücklich?«

Sie schwieg einen Augenblick. »O ja! Ich bin meinem Mann sehr gut. Er verdient es auch. Er bringt mir jedes Opfer und trägt mich auf Händen.«

Bruchfeld erwiderte nichts darauf; was sie da sagte, überzeugte ihn nicht. »Und wie lange sind Sie schon verheiratet?« fragte er endlich.

»Sechs Jahre.«

»So lange. Sie waren es also schon, als ich Ihnen – erinnern Sie sich noch – einmal im Stadtpark begegnete?«

»Freilich. Ich bin bei dieser Begegnung über und über rot geworden, so daß mich meine junge Nichte, die mit mir ging, um den Grund fragte.«

»Auch ich habe es bemerkt. Und ich will Ihnen nur gestehen, daß ich dieses Erröten zu meinen Gunsten deutete. Ich war untröstlich, daß ich Ihre Spur nicht verfolgen konnte.«

»Was hätten Sie davon gehabt? Und dann – ich erröte sehr leicht. Es ist eine üble Gewohnheit, für die ich allerdings nichts kann; sie liegt mir im Blute.«

Wie um diesen Ausspruch zu erhärten, errötete sie jetzt sehr stark bei dem ehrerbietigen Gruße eines knabenhaft aussehenden Jünglings, der eilig an ihnen vorüberkam.

»Das ist ärgerlich,« sagte sie, »daß uns der gesehen hat.«

»Warum?«

»Er ist der Sohn des hiesigen Kaufmanns, bei dem wir alles nehmen. Da wird mein Mann erfahren, daß ich mit einem Herrn gegangen bin.«

[128] »Aber wie sollte er denn gleich –?«

»Er kennt den Kaufmann, der ihn besonders verehrt und ihn manchmal um Rat bittet.«

»Ist Ihr Gemahl vielleicht auch –?«

»Nein, er ist Bankbeamter.«

Eine Pause trat ein. Dann sagte Bruchfeld: »Wissen Sie, daß ich Sie gestern mit ihm gesehen habe?«

»So? Wo denn?« fragte sie, wieder leicht errötend.

»In Sievering.«

»Ach ja; wir waren bei der Agnes. Sie auch? Ich habe Sie dort nicht wahrgenommen.«

»Nein; ich bin in Gesellschaft durch den Ort gefahren.«

»In der langen Wagenreihe? Die hab' ich wohl gesehen, aber Sie nicht.«

Sie waren mittlerweile, auf sonnig stillen, vereinsamten Wegen schreitend, in die Nähe des Grinzinger Platzes gekommen, wo sich regeres Leben bemerkbar machte.

»Jetzt dürfen Sie nicht weiter mit mir gehen,« sagte sie. »Hier wohnen lauter Bekannte.«

Ihm war eigentümlich zu Mute. Er fühlte sich enttäuscht, zurückgewiesen – und doch festgehalten. Er konnte den Blick nicht abwenden von diesem fahlen, dunkeläugigen Antlitz, in welchem der knospenhafte Mund rot aufschimmerte. Ihre Stimme berauschte ihn förmlich.

»Ich darf Sie also nicht wiedersehen?« fragte er tonlos.

»Sehen können Sie mich ja. Ich fahre täglich um die gleiche Stunde hierher. Zu meinem kranken Papa.«

»Und ich kann mitfahren?«

»Das steht jedermann frei. Leben Sie wohl!« Sie reichte ihm die Hand.

Er ergriff sie, ohne sie festzuhalten. »Leben Sie wohl!« erwiderte er und entfernte sich.

Alsdann besann er sich, daß er nicht einmal den Hut gelüftet, so in sich versunken war er von ihr weggegangen. Er [129] blieb stehen, um zurück zu grüßen; aber sie war bereits verschwunden. Was wird sie von ihm denken! Doch sie war selbst schuld daran. Ihr seltsames Wesen hatte ihn verwirrt. Er begriff sie nicht. Abweisen konnte sie ihn ja, wenn sie ihn aber schon neben sich hergehen ließ, dann mußte sie auch, nach und nach wenigstens, einen wärmeren Ton finden. Sie hatte ihn behandelt wie einen ihr völlig Fremden – kein Wort, daß sie die ganze Zeit über auch nur einmal an ihn gedacht! Sein Herz zog sich zusammen. Aber wenn er ihr so vollständig gleichgültig war, warum hatte sie ihm zugestanden, daß er sie sehen – daß er mitfahren könne? Das hieß doch nur, die angeknüpften Beziehungen fortsetzen. Freilich, ihre Worte hatten nicht ermunternd geklungen. Aber die Frauen lieben ja solch widerspruchsvolle Kundgebungen – vielleicht lag nur ihr eigener Wunsch dahinter! Ein plötzliches, ungestümes Gefühl der Freude tauchte bei diesem Gedanken in seiner Brust empor – und schon war es ihm, als könne er den morgenden Tag nicht erwarten, der ihm Paula wieder vor Augen führen sollte.

4.

IV.

Als er aber nach Hause kam, fand er eine Einladung vor, die ihn nach einem ziemlich entlegenen Landsitze rief. Es wurde dort in einer ihm befreundeten Familie ein bedeutsames Fest gefeiert, das er, wie man ihm schrieb, durch seine Anwesenheit verherrlichen sollte. Auch wurde er gebeten, zu dieser Feier ein kleines musikalisches Programm zu entwerfen. Er mußte also noch heute aufbrechen und wurde an Ort und Stelle mit Jubel empfangen. Es war schon alles in vorbereitender Bewegung: auch er konnte sich gleich an die Arbeit machen, denn er hatte nun in aller Eile einen Frauenchor zu komponieren – und die Musik zu lebenden Bildern, welche von einem jungen Maler entworfen und gestellt wurden.

Inzwischen füllte sich das weitläufige Haus mit Gästen, [130] so daß es von einer Anzahl schöner Frauen und blühender Mädchen aufs anmutigste belebt wurde. Keine aber von allen – diese Wahrnehmung drängte sich Bruchfeld immer überzeugender auf – konnte sich an eigentümlichem Reiz der Erscheinung mit Paula messen. Imposantere Gestalten, schwellendere Formen, blühendere Wangen sah er wohl: nicht eine jedoch wies jenes unergründliche Etwas auf, das an der krankhaft zarten, verblühten Frau so unwiderstehlich anzog. Am Tage der Feier, wo erlesene und glänzende Trachten die versammelten Schönheiten aufs günstigste hervorhoben, fühlte er, daß Paula, wenn sie jetzt, gleich jenen geschmückt, in den Saal träte, aller Augen auf sich lenken und ungeteilte Bewunderung hervorrufen würde.

So hatte er dort nur immer größere Sehnsucht nach ihr empfunden, und als er zurückgekehrt war, begab er sich gleich am nächsten Morgen mit ungeduldigen Schritten nach dem kleinen Platze. Er war, da er sich vom Hause entfernte, durch eine zufällige Begegnung auf der Straße in ein Gespräch verwickelt worden, das er nicht sofort hatte abbrechen können, und fürchtete nun schon, zu spät zu kommen. In der Tat hatte sich Paula bereits vor dem Gitter eingefunden; als sie ihn jetzt erblickte, glitt ein Lächeln über ihre Züge.

Ihr an dieser Stelle zu nahen, wagte er nicht; stieg aber später gleichzeitig mit ihr in die vordere Abteilung des Wagens, der diesmal fast unbesetzt war. Nur im Rauchcoupé saßen zwei Obsthändlerinnen mit ihren leeren Körben. Sie waren während der Fahrt eingenickt und wurden durch den Ruck des Haltens aus ihrem Schlummer geweckt. Dann aber schlossen sie, sich zurücklehnend, sofort wieder die Augen.

Erst jetzt brachte Bruchfeld seinen Gruß dar, den Paula mit einer gewissen zurückhaltenden Freundlichkeit erwiderte.

»Wir sind heute allein«, sagte sie und warf einen Blick nach den beiden Weibern. »Die zwei beachten uns nicht.«

Er sah sie mit bewundernden Augen an. Sie trug heute [131] wieder den flachen Strohhut mit stahlblauem Aufputz, und ein zarter rosiger Anhauch verklärte ihr Gesicht.

»Wie schön Sie sind!« sagte er bewegt.

»Sie wollen mich mit Schmeicheleien gewinnen«, erwiderte sie trocken. »Darauf geb' ich nichts.«

Diese Äußerung verdroß ihn. »Ich pflege nicht zu schmeicheln,« versetzte er nachdrücklich, fast heftig, »sondern nur zu sagen, was ich empfinde.«

Sie schrak leicht zusammen. »Nun, ich will es ja glauben. Aber ich bin nicht schön. Vielleicht war ich es einmal. Sie wissen am besten, wie weit ich über die Jugend hinaus bin.«

»Was sollte dann ich sagen? Ich bin inzwischen ein alter Mann geworden.«

»Ein Mann ist nie alt. Aber eine Frau in meinen Jahren! Auch bin ich nicht gesund. Ich kann mich nach meinem zweiten Kinde nicht mehr erholen.«

Er blickte sie betroffen an. Daß sie Mutter sein könnte, war ihm gar nicht in den Sinn gekommen.

»Sie haben also Kinder?« fragte er mit gedämpfter Stimme.

»Gehabt. Beide sind gleich nach der Geburt gestorben. Die letzte war eine sehr schwere und hat mich dem Tode nahe gebracht.«

Er schwieg und sie blickte nachdenklich vor sich hin. So wurde es still; nur das Rollen und Ächzen der Wagenräder war zu vernehmen.

»Wissen Sie,« begann sie endlich, »daß ich schon geglaubt habe, Sie würden nicht mehr kommen?«

»Wie konnten Sie das nur denken? Ich wollte gleich am nächsten Tage – ich war jedoch durch Unabweisliches –«

»Entschuldigen Sie sich nicht,« unterbrach sie ihn; »es ist nicht notwendig. Aber, sie waren so verstimmt, als Sie von mir gingen. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich Sie nicht durch irgend etwas beleidigt – –«

»Beleidigt gewiß nicht. Gestehen will ich aber, daß ich verstimmt [132] – oder vielmehr betroffen war. Ich konnte mich in Ihnen gar nicht zurecht finden. Sie waren so kurz angebunden – so unherzlich. Wenn ich auch kein Entgegenkommen erwarten durfte – so doch einige freundliche Worte der Erinnerung –«

»Mein Gott, ich erschrak, als Sie mich ansprachen. Es war mir, als hätten Sie von mir eine schlechte Meinung – hielten mich für sehr leichtfertig –«

»Wie konnten Sie nur –?«

»Und dann – gerade in der Gasse, in der meine Eltern wohnen – so nahe dem Platze, wo mich jeder mann kennt –«

»Gewiß – es war sehr unüberlegt. Doch Ihr Anblick – als Sie aus dem Tor traten –«

»Nun, es hat ja zum Glück keine Folgen gehabt. Aber Sie müssen jetzt sehr vorsichtig sein. Es war klug von Ihnen, daß Sie an jenem Tage nicht gleichzeitig mit mir ausgestiegen sind; ich hatte schon gefürchtet, Sie würden es tun. Dem Herrn, der mit Ihnen im Coupé saß, wäre das sofort aufgefallen. Er hat früher einmal in Döbling gewohnt – und sich sehr um mich bemüht. Ohne Erfolg natürlich«, setzte sie rasch hinzu.

Bruchfeld schwieg.

»Und Sie müssen mich auch heute allein aussteigen lassen, dürfen sich überhaupt in unserer Gasse nicht mehr zeigen. Aber ich will Ihnen einen Vorschlag machen«, fuhr sie, wie von einem plötzlichen Einfall ergriffen, fort. »Erwarten Sie mich morgen um neun Uhr hier an der Straße. Ich werde in der Nähe der Restauration den Wagen verlassen und den Seitenweg einschlagen, der zur Sieveringer Kapelle führt. Ich will ein Gebet für meinen kranken Vater verrichten. Sie können mich dorthin begleiten. Sind Sie einverstanden?«

»Sie fragen noch!«

»Nun also, um neun. Die Eltern werden in der nächsten Woche wieder ihre Döblinger Wohnung beziehen. Denn es [133] könnte plötzlich rauhes Wetter eintreten, und da muß Papa schon wieder unter Dach sein.«

»Ihr Papa ist also sehr krank?« fragte Bruchfeld teilnahmsvoll.

»Ach ja. Der Marasmus des Alters. Es ist keine Hoffnung mehr. Aber nun leben Sie wohl; ich bin gleich zur Stelle.«

Er zog einen kleinen Strauß prachtvoller Nelken hervor, die er beim Hausgärtner bestellt hatte. »Nehmen Sie diese Nelken!« bat er.

Sie blickte mit Widerstreben darauf. »Die sind wirklich schön«, sagte sie, »aber ich kann sie nicht nehmen. Man würde mich gleich fragen, woher ich sie habe. Eine aber will ich behalten – da die rote.« Sie löste sie los und führte sie rasch und leicht an die Lippen. Dann barg sie die Blume in der Tasche ihres Kleides.

Sie waren in Grinzing und der Wagen hielt.

»Also Adieu!« flüsterte sie und reichte ihm, schon im Aussteigen begriffen, die Hand.

Bruchfeld blickte ihr nach, so lange er konnte, und sah, daß sie ihm aus der Entfernung einen Gruß zuwinkte.

5.

V.

Er hatte spät Nacht gemacht und war dann in einen unruhigen Schlaf verfallen, aus dem er zeitig erwachte. Als der Diener eintrat, um die Fensterläden zu öffnen, fiel nur mattes Licht ins Zimmer und die herbstlichen Wipfel des Gartens zeigten sich in Nebel gehüllt. Kein günstiges Wetter, dachte Bruchfeld, während er sich ankleidete. Seit vierzehn Tagen ungetrübter blauer Himmel – und gerade heute verhüllt er sich! Er frühstückte; dann verließ er das Haus.

Es war noch früh, und so schritt er langsam durch die Gassen von Unterdöbling und längs der ansteigenden Felder und Weingärten dem Orte des Stelldicheins zu. Eine empfindliche [134] Kühle herrschte, und weithin lag alles im Nebel. Aber die steigende Sonne schien ihn durchdringen zu wollen; von Zeit zu Zeit wurde ein lichtes Schimmern am Firmament sichtbar.

Nachdem er ziemlich lange in der Nähe der Restauration auf und abgeschritten war und wiederholt nach der Uhr gesehen hatte, zeigte sich endlich der Wagen, der Paula bringen sollte. Jetzt hielt er; ihre zarte Gestalt, von einem hellgrauen Regenmantel knapp umschlossen, kam zum Vorschein und schlug den breiten Seitenweg ein. Bruchfeld wartete noch, bis der Wagen eine gewisse Entfernung erreicht hatte, dann eilte er ihr nach.

Beim Geräusch seiner Schritte mäßigte sie die ihren, und bald war er ihr zur Seite.

»Guten Morgen!« sagte sie, mit reizendem Lächeln seinen Gruß erwidernd. »Ich hatte schon gefürchtet, unsere Begegnung würde zu Wasser werden. Als ich heute Morgen – wir stehen sehr früh auf, weil wir abends sehr bald zu Bett gehen – aus dem Fenster sah, erblickte ich alles grau in grau. Aber es heitert sich aus. Sehen Sie nur!« Sie wies mit der Spitze ihres Schirmes gegen den Himmel, der in der Tat über der wallenden Nebelschicht leise zu blauen anfing. »Es wird noch der schönste Tag werden.«

»Der schönste meines Lebens!« rief er aus. »O Paula – verzeihen Sie, daß ich Sie so nenne – Sie wissen nicht, was ich empfinde, nun ich nach so langer Zeit hier an Ihrer Seite gehe! Es ist ein so namenloses Glück, daß ich es selbst gar nicht begreife, nicht fasse!«

Sie blickte nachdenklich zu Boden.

»Es ist merkwürdig, daß man mich immer so liebt«, sagte sie still, wie in Erinnerungen versinkend. »Seit meiner frühesten Jugend. Den Wenigsten hat es Glück gebracht – aber vergessen hat mich keiner. Sie wissen doch wohl« – sie zögerte ein wenig – »von dem Hardt – daß ich mit ihm –«

»Gewiß weiß ich es«, versetzte er, »ich wollte nur nicht –«

»Nun sehen Sie, noch in seiner Todesstunde hat er mein [135] Bild, das zur Zeit unserer Verlobung gemalt wurde, neben sich gehabt.«

»In seiner Todesstunde? Ist er denn gestorben?«

»Ja, vor einem Jahre. Er war sehr unglücklich in seiner Ehe; denn er mochte seine Frau gar nicht.«

»Aber warum hat er dann –«

»Die Familie wollte es nun einmal – was war da zu machen? Es gab viel Gerede darüber und man hat mich von allen Seiten bedauert. Mein armer Papa, der sehr stolz ist, war ganz wütend – ich selbst aber sehr froh, daß es so gekommen ist.«

»Froh? Haben Sie denn Hardt nicht geliebt?«

»O ja; ich hab' ihn sehr gerne gehabt. Aber er hat mich so furchtbar mit Eifersucht gequält.«

»Das ließe sich begreifen.«

»Es war nicht zu ertragen. Denken Sie nur: ich sollte niemanden ansehen, es konnte ihn zur Raserei bringen. Nun gut. Aber auch mich sollte niemand ansehen. Wie war das zu machen? Man hat mich immer sehr viel angesehen. Kann ich dafür, wenn mich jemand ansieht?«

»Nun – allerdings –«

»Und dann – mir paßte auch diese Familie gar nicht. Sie ist sehr eingebildet auf ihren Reichtum – auf ihren erworbenen Adelstitel. Ich gebe auf alle diese Dinger nicht das geringste. Rang und Würden haben mir niemals imponiert. Ich gehe jetzt auch nicht mit Ihnen, weil Sie der Bruchfeld sind.«

»Das wäre mir auch gar nicht recht«, erwiderte er lächelnd.

»Mir muß jemand gefallen«, sagte sie nachdrücklich. »Hardt hat mir in den letzten Jahren gar nicht mehr gefallen. Er war sehr dick geworden.«

»In den letzten Jahren? Haben Sie denn noch mit ihm verkehrt?«

Sie errötete über und über. »Nun ja – in allen Ehren natürlich. Er war so entsetzlich unglücklich – und mich zu sehen, [136] war sein einziger Trost. Sie begreifen – wenn man jemandem so notwendig ist –«

Bruchfeld erwiderte nichts.

»Meinem Manne durft' ich es allerdings nicht sagen, da der auch von dem Früheren nichts wußte. Es wurde ihm nicht mitgeteilt, als er um meine Hand anhielt. Von Ihnen aber weiß er.«

»Von mir

»Das ist ihm gesagt worden. Von meiner Tante, die bemerkt hatte, daß ich mich für Sie interessierte.«

Bruchfeld fühlte sich unangenehm berührt. Es war ihm, als habe man ihn gewissermaßen als Deckmantel benützt. Aber diese Empfindung ging um so rascher vorüber, als Paula plötzlich stehen geblieben war und mit ihrem Schirm nach dem Wegrand deutete. »Da sehen Sie nur hin! Welche Seltenheit im Oktober!«

Der Weisung folgend, gewahrte er einen wilden Rosenstrauch, der bereits seine herben Früchte aufwies. Er blickte sie fragend an.

»Sehen Sie denn die Rose nicht?«

In der Tat, eine späte, halb geöffnete Rose leuchtete aus dem fahlen Blättergrün hervor.

»Ich will sie Ihnen pflücken!« Und sie eilte auf den Strauch zu.

»Sie werden sich stechen!« warnte er.

»O nein! Ich habe starke Handschuhe an.« Und die vollen Lippen zusammenpressend, trennte sie nicht ohne Anstrengung den zähen Stengel mit der Blume vom dornigen Zweig.

»Ihre Liebe!« sagte sie, ihm die Rose überreichend.

»Trifft nicht ganz zu«, erwiderte er und drückte die leicht Duftende an die Lippen. »Meine Liebe blüht nicht erst jetzt.«

Sie waren schon bis an die wenigen Häuser in der Nähe der Kapelle gelangt, und bald kam auch diese in ihrem schlichten, nüchternen Bau zum Vorschein.

[137] »Nun wollen wir andächtig sein«, sagte Paula und trat zu der kleinen Krambude an der Umfassungsmauer. Rosenkränze, Heiligenbilder, geweihte Kerzen waren da zum Kauf ausgelegt.

»Ich werde für meinen Vater eine Kerze anzünden«, sagte sie und erstand eine.

Bruchfeld tat das gleiche. »Ein Brandopfer meines Glückes«, flüsterte er und trat hinter ihr in den stillen, dämmrigen Kapellenraum, wo einige wenige, ärmlich gekleidete Andächtige zu erblicken waren.

Paula nahm ihm die Kerze aus der Hand. »Haben Sie Feuerzeug?« fragte sie mit leiser Stimme.

Er reichte ihr das Schächtelchen. Sie näherte sich dem Altar, über welchem, mit einem Gewinde von Astern geschmückt, das Bild der schmerzhaften Maria thronte, die Brust von sieben Schwertern durchbohrt.

Alle Anwesenden blickten nach der lieblichen Gestalt, die jetzt, nachdem sie leicht das Knie gebeugt, die Altarstufen hinanschritt, die Kerzen in zwei bereitstehenden Leuchtern befestigte und anzündete. Hierauf kehrte sie zurück, händigte Bruchfeld das Schächtelchen ein und kniete im nächsten Betstuhle nieder.

Er stand unweit von ihr und betrachtete sie. Durch die Glasmalerei eines Votivfensters fiel magischer Lichtschimmer auf ihr feines blasses Gesicht. Die langen Wimpern gesenkt, das zarte Kinn auf die gefalteten schmalen Hände gestützt, war sie ein ergreifendes – aber auch entzückendes Bild, das sich immer tiefer in seine Seele prägte.

Sie erhob sich früher, als er erwartet hatte, bekreuzte sich und verließ, von ihm gefolgt, die Kapelle.

Draußen war es mit einmal leuchtender Tag geworden. Die letzten Nebel hatten sich verflüchtet, und das sonnigste Blau spannte sich über dem herbstlichen Gold der Landschaft aus.

»Sie haben nicht lange gebetet«, bemerkte Bruchfeld scherzend.

[138] »Nur ein paar Vaterunser. Meine Zeit ist ja gemessen, und wir wollen doch noch ein bißchen miteinander sein. – Aber wohin wenden wir uns jetzt?« setzte sie, umherblickend, hinzu. »Das Gehen strengt mich sehr an; ich bin schon jetzt müde. Und man kann sich nirgends setzen.«

»Das ist wahr«, erwiderte er in einiger Verlegenheit.

»Wissen Sie was,« sagte sie nach kurzem Besinnen, »dort oben« – sie wies nach zwei kleinen Häusern auf der Wegüberhöhung – »befindet sich eine Kaffeewirtschaft. Auch Heuriger wird geschänkt. Ich war schon einmal dort – mit meinem Manne natürlich.«

Es berührte ihn eigentümlich, daß sie ihm diesen Vorschlag machte. Aber er entschlug sich aller weiteren Gedanken darüber und erwiderte: »Das ist ja herrlich! Wollen wir hin?«

»Wenn es Ihnen recht ist. Ich werde Sie führen.«

So schritten sie denn hinan, und bald hatten sie, durch ein niederes Tor tretend, einen kleinen Garten erreicht, an dessen Ende sich eine Laube befand. Sie wurde von dichten wilden Weinranken gebildet, deren Blätter ihnen in allen Schattierungen von Rot entgegenleuchteten.

»Ist es da nicht hübsch?« sagte Paula, indem sie sich an dem Tisch in der Laube niederließ. »Wir sind ganz ungestört, denn um diese Zeit kommt niemand hierher.«

Inzwischen war am Eingang eine dicke bejahrte Frau erschienen, die Schürze halb aufgenommen, einen Küchenlöffel in der Hand. Offenbar die Eigentümerin der Wirtschaft. Sie hatte das Kommen der Gäste bemerkt und fragte jetzt, was zu Diensten stehe.

»Was werden Sie nehmen?« wandte sich Bruchfeld an Paula.

»Ich? Nichts. Ich will nur sitzen.«

»Nun, so bringen Sie Wein, liebe Frau. Vom besten, den Sie haben.«

»Alten oder heurigen?« fragte die Wirtin, welche inzwischen [139] Paula ins Auge gefaßt hatte und sie mit offenem Munde anstarrte.

»Heurigen. Der Seltenheit wegen.«

Die letzten Worte waren an Paula gerichtet, die nunmehr hinter dem Rücken der abgehenden Frau in ein Lachen ausbrach.

»Was haben Sie denn?« fragte er verwundert.

»Ach, die Alte war zu komisch! Sie erinnerte sich, mich hier schon gesehen zu haben, wußte aber nicht, wann und mit wem. Sie ließ förmlich die Augen in mir stecken. – Aber setzen Sie sich doch zu mir!«

Sie rückte zur Seite, und Bruchfeld ließ sich dicht neben ihr auf die schmale hölzerne Bank nieder.

»O Paula,« sagte er nach kurzem Schweigen, »es ist wie ein Märchen, daß wir beide jetzt so nebeneinander sitzen –«

»Nun, sind Sie nicht zufrieden?« fragte sie, ihn schalkhaft von der Seite anblickend.

»Zufrieden? Mein Gott, welch ein armes Wort! Selig bin ich, so selig, daß es mir fast die Brust zersprengt. Und doch – –«

»Nun?«

»Daß wir nicht beisammen bleiben – daß Sie nichtmein sein können – ganz mein – für immer!«

»Das ist nun nicht anders.«

»Aber es könnte anders werden –«

»Nein, nein!« sagte sie rasch und entschieden, indem sie ihm die Hand entzog, die er gefaßt hatte. »Daran ist nicht zu denken.«

Am Tor zeigte sich wieder die Wirtin. Sie trug auf einer Blechplatte eine Flasche Wein, zwei Gläser und ein Körbchen mit Brot. Ein kleiner Junge folgte ihr mit einem Teller voll Trauben.

»So«, sagte sie, während sie alles auf den Tisch stellte. »Und wenn die Gnädige nicht trinken will – ein paar frische Trauben wird sie sich schon gefallen lassen.« Sie lächelte dabei [140] Paula vertraulich zu und entfernte sich, nachdem sie noch einen Blick auf Bruchfeld geworfen hatte.

»Nun, trinken Sie doch!« sagte Paula, als sie jetzt wieder allein waren. »Ich werde Ihnen einschenken.« Sie ergriff die Flasche und füllte eines der Gläser.

»Und Sie werden nicht einmal versuchen?« fragte er.

»Eigentlich sollte ich nicht, obgleich mir die Ärzte beständig empfehlen, Wein zu trinken. Schon ein paar Tropfen steigen mir zu Kopf. Aber ich will Ihnen Bescheid tun.«

Sie goß ein weniges in das zweite Glas.

»Auf Ihr Wohl!«

»Auf unser Wiederfinden!« rief er, mit seinem Glase anklingend.

Der Wein mochte gut sein, aber er mundete nicht recht. Paula, die kaum genippt hatte, verzog die Lippen, und er brach ein Stückchen vom Brot, um dem Geschmack aufzuhelfen.

»Und die Trauben?« fragte er jetzt. »Verlocken die Sie nicht? Die Wirtin hat sie doch eigens für Sie gebracht.«

»Nun, wenn Sie eine mit mir teilen wollen –«

Sie zog die Handschuhe aus, wobei ihre schmalen, mageren, fast abgezehrten Hände sichtbar wurden – für ihn zum erstenmal.

»Sehen Sie nur meine Hände!« sagte sie errötend. »Die hätt' ich eigentlich gar nicht zeigen sollen.«

Er ergriff eine und führte sie an die Lippen. Sie fühlte sich fast leblos an.

»Kalt, nicht wahr?« sagte sie. »Aber es heißt: kalte Hände, warmes Herz.«

»Das stimmt nicht«, erwiderte er. »Sie werden doch fühlen, wie warm die meinen sind.«

»Heiß«, bekräftigte sie.

»Und sie werden die Ihren erwärmen!«

Er nahm ihre beiden Hände in die seinen und bedeckte die Spitzen der blutlosen Finger mit Küssen.

Sie ließ es geschehen.

[141] »Paula!« flüsterte er und legte den Arm um ihren zarten Leib, der jeder Erdenschwere bar schien – und ihn doch alle Wonnen der Berührung empfinden ließ.

Sie senkte das Haupt.

Hingerissen, näherte er seine Lippen ihrem schmächtigen Halse und drückte einen sanften Kuß auf die schimmernde Stelle zwischen dem kleinen Ohr und dem dunklen Ansatz der Haare.

Sie schauderte leicht zusammen und verfärbte sich; sie wurde noch blässer, als sie gewöhnlich war. Ihre Augen schimmerten in einem feuchten Schmelz.

Seiner nicht mehr mächtig, zog er sie rasch an sich und suchte ihren Mund.

Sie machte eine heftig abwehrende Bewegung.

»Verzeihen Sie!« sagte er erschrocken. »Ich wußte nicht, was ich tat –«

Sie erwiderte nichts und strich langsam mit beiden Handflächen über Stirn und Schläfen.

Er hatte den Arm zurückgezogen und blickte sie ängstlich an.

»Versuchen wir die Trauben«, sagte sie jetzt ruhig. Sie nahm eine vom Teller, zerlegte sie in zwei ungleiche Hälften und reichte ihm die größere. »Essen Sie!«

Er konnte nicht und sah schweigend vor sich hin.

»Seien Sie nicht so nachdenklich!« fuhr sie fort, eine Beere zwischen die Lippen schiebend. »Überhaupt nicht so – so – –« Sie rang nach einem Worte. »Solch einen Mann habe ich noch nie kennen gelernt – Sie nehmen alles so ernst –«

»Wie ich es nehmen muß. Denn ich liebe Sie – liebe Sie unsäglich!«

»Ich glaub' es ja!« erwiderte sie halb spöttisch. »Aber mein Gott, wie spät ist es denn schon?«

Er zog die Uhr. »Halb zwölf.«

»Schon! Da müssen wir aufbrechen. Ich wüßte sonst gar nicht, was ich zu Hause sagen sollte.« Und sie machte Anstalt, sich vom Sitze zu erheben.

[142] »Man muß doch erst zahlen«, sagte er.

»Gehen Sie ins Haus, dort finden Sie die Wirtin.«

Er ging und beglich die kleine Rechnung. Als er zurückkam, fand er Paula bereits in der Mitte des Gartens stehen.

»Sie dürfen mich nicht weit begleiten«, sagte sie. »Höchstens bis zur Hälfte des Weges. Es könnte uns sonst jemand begegnen.«

»Und wann werde ich Sie wiedersehen?«

»Ja, wann?« versetzte sie zerstreut und bohrte die Spitze ihres Schirms in den grasigen Boden. »Das ist sehr fraglich. Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, ziehen die Eltern im Laufe der nächsten Woche wieder nach Döbling. Da bin ich sehr in Anspruch genommen. Aber vielleicht können wir uns am nächsten Donnerstag sehen. Ich habe einen Besuch bei meiner Tante vor, die in der Josephstadt wohnt, und werde die Tramway benützen. Sie können mich um halb Zehn beim Hotel Union erwarten, wo ich umsteige. Werden Sie Zeit haben?«

»Sie sollen mich unter allen Umständen dort finden. Aber sagen sie mir noch eines!«

»Nun was?«

»Ob Sie mir verziehen haben?«

»Sie sind ein Kind!« erwiderte sie und fuhr ihm mit der Hand leicht über die Stirn.

Er ergriff diese Hand, die wieder behandschuht war, und drückte sie wiederholt an die Lippen.

»Was haben Sie davon?« sagte sie lächelnd und bog, zu ihm aufblickend, das Haupt zurück.

Und nun zog er sie an sich und küßte den knospenhaften Mund, den sie ihm, halb abgewandt, überließ.

6.

VI.

Bruchfeld befand sich auf dem Gipfel der Glückseligkeit. Was ihm an Paula seltsam erschienen war, was ihn unangenehm, ja schmerzlich enttäuschend berührt hatte, ging unter in der wonnigen [143] Erinnerung an das letzte Zusammensein –: der Zauber ihrer Schönheit ließ ihn alles vergessen. Er dachte nicht einmal mehr daran, daß sie das Weib eines anderen war, und ohne jede weitere Erwägung gab er sich ganz den Entzückungen einer Leidenschaft hin, welche bei ihm, der seine Jugendkraft nicht verbraucht hatte, so spät zum Durchbruch gelangt war.

Diese innere Erregung gab sich jetzt in seinem ganzen Wesen kund und mußte seiner nächsten Umgebung auffallen. Eine Verwandte des Hauses, in welchem er Gastfreundschaft genoß, eine ältere, etwas boshafte Dame, fragte ihn einmal ganz plötzlich: »Sagen Sie mir doch, lieber Bruchfeld, was haben Sie denn eigentlich? Sie kommen mir seltsam vor. Sollten Sie vielleicht gar verliebt sein?«

»Und wenn ich es wäre?« erwiderte er übermütig.

»Dann würde ich Sie bedauern. Denn die Liebe ist eine Krankheit – und in Ihren Jahren doppelt gefährlich.«

Diese Worte berührten ihn höchst unangenehm. Er suchte die Wirkung wegzuscherzen. Aber es gelang ihm nicht; endlich flüchtete er sich im Geist zu ihr, die er nächsten Donnerstag wiedersehen sollte.

Am Mittwoch hatte er, wie gewöhnlich, an dem späten Familiendiner teilgenommen. Gleich nach Tisch kamen mehrere Besuche; diese Art des Empfanges fand jeden abend statt. Man nahm den Kaffee im Salon und plauderte, in zwanglosen Gruppen verteilt, bis zur Teestunde. Heute bestürmte man eine Dame, welche vor Jahren der Oper angehört hatte, mit Bitten, etwas zu singen. Sie ließ sich endlich dazu bewegen, setzte sich ans Klavier und trug mit klangvoller, noch jugendlich frischer Stimme eine alt-italienische Kirchenarie, dann einige Lieder von Schubert und Schumann vor. Auch eines von Bruchfeld, der, im Fauteuil zurückgelehnt, seinen Gedanken nachging, kam an die Reihe. Es wurde pflichtschuldigst beklatscht, und nun erklärte die Sängerin, sie wolle zum Schlusse noch Rubinsteins: »O wenn es doch immer so bliebe!« hören lassen; sie wußte, [144] daß dieses leidenschaftlich bewegte Lied allgemein beliebt war. Auch Bruchfeld schätzte dessen musikalischen Wert besonders hoch, und er lauschte jetzt dem ergreifenden Gesange, der so ganz seine eigene Seelenstimmung ausdrückte:


»Gelb rollt mir zu Füßen der brausende Kur

Im tanzenden Wellengetriebe;

Hell lächelt die Sonne, mein Herz und die Flur –

O wenn es doch immer so bliebe!«


Dieser Refrain, von der Sängerin immer mächtiger zur Geltung gebracht, ließ jede Fieber seines Herzens erzittern, und als die letzte Strophe begann:


»In das schwarze Meer deiner Augen rauscht

Der reißende Strom meiner Liebe –«


da konnte er dem Ansturm seiner Empfindungen kaum mehr standhalten. Rasch dankte er noch der Dame, die sich unter stürmischem Applaus am Klavier erhob – und entfernte sich unbemerkt aus dem Salon, wo es ihn in diesem Augenblick nicht länger duldete. Er ging auf sein Zimmer, nahm Hut und Mantel und verließ das Haus.

Die Nacht war längst hereingebrochen; dunkel und verödet lagen die Gassen vor ihm.

»O wenn es doch immer so bliebe!« hallte es in seinem Innern nach, und ohne es eigentlich zu wollen, nahm er die Richtung nach dem Platze, wo er Paula wiedergefunden. Kaum ein Mensch begegnete ihm; kein Wagen rollte, und seine Schritte klangen einsam auf dem Pflaster.

Da stand er nun vor dem Hause. Die Bäume des Vorgärtchens waren zum Teil schon entlaubt, und er konnte durch die Zweige das ganz schmucke Gebäude wahrnehmen, auf welches der Schein einer nahen Gaslaterne fiel. In beiden Stockwerken waren die Rollvorhänge herabgelassen; kein Lichtschimmer kam zum Vorschein. Nur im oberen, ganz an der Ecke, zeigten sich zwei unverhüllte, matt erleuchtete Fenster. Wohnte sie [145] dort? Er wußte es ja nicht – aber es war ihm, als müsse es so sein.

Er ging jenseits auf und ab, die Augen nach den durchsichtigen Scheiben gerichtet, hinter denen er verschwommene Umrisse des Gemaches und den Strang einer Hängelampe zu erblicken glaubte. Die Nachtluft strich kalt und scharf um sein Antlitz; hin und wieder kam, von der Türkenschanze her, durch die schmale Seitengasse ein heftiger Windstoß.

Aber wurde jetzt nicht eine schattenhafte weibliche Gestalt in der Höhe sichtbar? Er täuschte sich nicht. Sie bewegte sich im Zimmer hin und her.

War es Paula? Sein klopfendes Herz sagte ihm, daß sie es sei. Ein unsäglich wonniges Gefühl durchschauerte ihn. Wenn sie nur ans Fenster träte! Hinabsähe!

Aber es geschah nicht. Die Gestalt verschwand.

Er spannte den Blick.

Wieder der Schatten! Ganz in der Tiefe des Zimmers ....

Er harrte noch eine Weile, dann aber fiel ihm ein, daß er ja nach Hause müsse, wo seine Abwesenheit gewiß schon längst aufgefallen war. Mit einem letzten Blick nach der matten Helle dort oben eilte er fort.

Die Gesellschaft war noch im Salon versammelt, als er eintrat. Aber fast gleichzeitig erschien ein Diener mit der Meldung, daß der Tee serviert sei. Rasch bot er der zunächst befindlichen Dame den Arm. »O wenn es doch immer so bliebe!« intonierte er dabei, im Geiste ganz abwesend, mit halber Stimme.

Die Dame sah ihn überrascht an; dann schritten sie in den Reihen der Gäste durch das helle erleuchtete, mit Azaleen geschmückte Vestibule dem Speisezimmer zu.

7.

VII.

Es war ein unfreundlicher Oktobermorgen, als er sich zur bestimmten Stunde vor dem Hotel Union einfand. Am Himmel jagten, von einem scharfen Nordwest getrieben, dunkle [146] Wolken und drohten sich in Regenschauern zu entladen. Bruchfeld schlug den Kragen seines Oberrockes hinauf. Wie lange schon hatte er derlei Zusammenkünfte nicht mehr gehabt! Und er verwunderte sich unwillkürlich darüber, daß er sich nun wieder auf so abenteuerlichen Wegen fand.

Er hatte nicht lange zu warten, denn schon kam von Döbling her ein Tramwaywagen herangeklingelt. Als er hielt, erschien Paula auf der Plattform und sprang leicht die Stufen hinunter. Bruchfeld stand, um nicht aufzufallen, in einiger Entfernung und ließ sie an sich herankommen.

»War ich nicht pünktlich?« sagte sie, seinen Gruß etwas geziert erwidernd. »Aber wie kalt es heute ist!« Sie schüttelte sich leicht und zog ihre Pelerine fester um die Schultern.

»Das hab' ich vorausgesehen«, erwiderte er. »Es war schon gestern abend sehr frostig. Ich bin in der Dunkelheit vor Ihrem Hause auf und abgegangen.«

»So? Wann denn?«

»Etwa zwischen neun und zehn.«

»Da hab' ich schon geschlafen. Aber weshalb waren Sie denn dort?«

»Wie Sie so fragen können? Die Sehnsucht hatte mich hingetrieben. Und mir war es auch, als hätt' ich Sie gesehen. Freilich nur den Schatten Ihrer Gestalt, die sich im Zimmer hin und her bewegte.«

»Zwischen neun und zehn?«

»Ja.«

»Das war ich entschieden nicht. Denn wir sind gestern schon vor neun Uhr zu Bett gegangen. Es brannte um diese Zeit kein Licht mehr in unserer Wohnung.«

»Sie wohnen doch im zweiten Stock?«

»O nein! Im ersten.«

»Da freilich waren alle Fenster dunkel.«

»Sehen Sie! Sie haben sich also großartig geirrt.« Sie lachte.

[147] Dieses Lachen tat ihm weh; er erwiderte nichts.

»Eigentlich sollte ich jetzt nach der Josephstadt umsteigen«, fuhr sie unschlüssig fort; »aber die Wagen sind immer so voll; wir könnten kaum miteinander sprechen. Es wird am besten sein, wenn wir zu Fuß gehen.«

»Wie Sie befehlen.«

»Aber durch das nächste Stück der Währinger-Straße dürfen Sie mich nicht begleiten. Erst in der Spitalgasse können Sie sich mir anschließen. Wir biegen dann in die Lazarethgasse ein, in der immer nur sehr wenige Menschen zu sehen sind.«

Sie setzte sich auch gleich in Bewegung, und er folgte ihr in einiger Entfernung auf der anderen Seite der Straße. Wie gut sie vereinsamte Wege ausfindig zu machen weiß, dachte er im stillen und behielt die graziöse Gestalt im Auge, die mit ruhigen Schritten, das Haupt, ihrer Gewohnheit nach, leicht gesenkt, auf dem belebten Trottoir dahinging. Zwei junge Männer kamen jetzt an ihr vorüber und sahen ihr ziemlich unverschämt unter den Hut. Sie blickten auch nach ihr zurück, und Bruchfeld bemerkte, daß Paula gleichfalls eine Kopfwendung machte.

Diese Wahrnehmung berührte ihn so unangenehm, daß er, endlich ihr zur Seite, keine Worte fand, um das Gespräch wieder anzuknüpfen. Auch sie schwieg. Erst als sie in die nahe Lazarethgasse einlenkten, sah sie ihn plötzlich von der Seite an und sagte: »Wissen Sie, daß ich Ihnen schon schreiben wollte?«

»Schreiben? Und weswegen?«

»Um Ihnen mitzuteilen, daß unser Verkehr nicht weiter geführt werden kann.« Und da sie seine Betroffenheit erkannte, fuhr sie gleichsam begütigend fort: »Aber ich fürchtete, der Brief könnte Sie möglicherweise verletzen –.«

Sie war offenbar in Verlegenheit und blickte unsicher vor sich hin.

»Nun,« erwiderte er nach einer Pause, »es wäre vielleicht besser gewesen, wenn Sie mir geschrieben hätten; ich würde [148] mich wahrscheinlich leichter zurecht gefunden haben. – Aber darf ich fragen, was Sie zu diesem plötzlichen Entschlusse –«

»O, es war kein plötzlicher Entschluß«, versetzte sie rasch. »Sie wissen ja, daß ich gleich im Anfang – – Mit einem Wort: ich kann das meinem Manne nicht antun.«

»Nun denn,« erwiderte er, ärgerlich über diese Abweisung, der er sich so unerwartet ausgesetzt sah, »ich hatte ja auch niemals die Absicht, Sie in Ihrer Pflicht wankend zu machen, und wenn ich gewußt hätte, daß Ihre Ehe eine glückliche ist –«

»Warum haben Sie daran gezweifelt? Ich hab' es Ihnen ja gleich gesagt.«

»Nun wohl; aber ich habe nicht daran geglaubt. Ich hatte Ihre Vergangenheit im Auge und zog daraus, wie ich jetzt zugeben muß, ganz falsche Schlüsse.«

»Ja, Sie haben sich getäuscht. Sie sind eben nicht normal.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie sind so überspannt, so romantisch. Sie haben, wie alle Künstler, ganz sonderbare Ideen. Ich bin eine hausbackene Natur und verstehe solche Männer gar nicht. Auch habe ich in dieser Hinsicht schon eine sehr unangenehme Erfahrung gemacht.«

»An einem Künstler?«

»Es war gerade kein Künstler – aber ein außerordentlich exzentrischer Mensch. Ein sehr wohlhabender Ausländer, der sich hier auf der Durchreise befand. Drei Jahre ist es her. Es war an einem Konzertabend bei Zögernitz, wo ich ihn kennen lernte. Der Saal war überfüllt, und er fand keinen Platz mehr, als an dem Tisch, an welchem ich mit meinem Manne saß. Es entspann sich natürlich ein Gespräch – und er verliebte sich sofort leidenschaftlich in mich.«

»Nun, das wäre doch noch kein Beweis –«

»Nein – aber er setzte alles daran, mich zu erringen – wollte durchaus, daß ich mich von Viktor scheiden lasse und mit ihm nach Hamburg gehe, wo er zu Hause war.«

[149] »Und was empfanden Sie für ihn?«

»Nichts, gar nichts. Denn er gefiel mir nicht. Und wenn er mir auch gefallen hätte, ich würde doch meinen Mann nicht verlassen haben. Denn eine Frau darf sich von ihrem Manne nicht trennen, wenn er sie wahrhaft liebt.«

»Nun, das hängt von den Umständen ab. Es kann Fälle geben, wo die Scheidung zur Pflicht wird. Denn ein ehrlicher Bruch ist immer besser, als eine zweideutige Treue.«

»O nein!« rief sie aus, fühlte jedoch sofort, daß sie sich mit dieser Behauptung bloßstelle, und errötete. »Es wäre denn,« setzte sie hinzu, »daß man einen anderen wirklich sehr liebt. Das war aber, wie gesagt, durchaus nicht der Fall. Auch war Viktor so unglücklich darüber.«

»Er hat also davon gewußt?«

»Natürlich. Der Rasende nahm ja keine Rücksicht. Tagelang hielt er sich unter meinen Fenstern auf – endlich wollte er in unsere Wohnung eindringen. Ich wagte mich gar nicht mehr auf die Straße.«

»Und haben Sie zu einem solchen Benehmen nicht doch Veranlassung gegeben? Nicht vielleicht Hoffnungen erweckt –«

»Nicht die geringsten«, unterbrach sie ihn, errötete aber wieder sehr stark. »Kann ich übrigens wissen, was sich dieser Mensch eingebildet hat? Zuletzt, als er sah, daß alles umsonst sei, hat er sich erschossen. Er war der einzige Sohn seiner Mutter, und diese ist nach Wien gekommen und hat mir die bittersten Vorwürfe gemacht. Was konnte ich dafür?«

»O gewiß nichts«, erwiderte er und sah sie mit einer Art von Grauen an. In ihr schönes Antlitz war etwas unsäglich Kaltes, Brutales getreten – eine erschreckende Verschärfung jenes Zuges, der ihn damals so unangenehm berührt hatte.

»Und auch Sie sind in Ihrer Liebe so exaltiert«, fuhr sie fort.

»Mag sein. Aber ich kann Sie versichern, daß ich mich nicht erschießen werde.«

[150] »Das möchte ich auch nicht«, sagte sie, und erhob, wie um sich gegen jede Schuld zu verwahren, die Hand. »Wir wollen vielmehr gute Freunde bleiben. Bei zufälligen Begegnungen werden wir miteinander sprechen, und Sie können mich immer ein Stück Weges begleiten.«

Er schwieg.

»Auch mein Bild will ich Ihnen geben. Eine sehr gelungene Photographie aus meiner Jugendzeit. Eine Freundin, die in Linz lebt, besitzt sie. Sie wird mir das Bild senden und ich werde es kopieren lassen. Wenn Sie sich in ungefähr vierzehn Tagen, morgens zwischen neun und halb zehn, in der Nähe meiner Wohnung einfinden, können Sie es haben. Um diese Zeit begebe ich mich täglich zu meinen Eltern.«

Sie waren bereits in die Pelikangasse eingebogen und schritten der Alserstraße entgegen.

Paula hielt den Schritt an.

»Nun muß ich allein gehen. Meine Tante wohnt an der Ecke der Kochgasse und könnte uns vom Fenster aus sehen«. Sie schlug die großen, dunklen Augen zu ihm auf und reichte ihm die Hand. »Also leben Sie wohl«, sagte sie langsam.

Ein namenloses Weh ergriff ihn. »Leben Sie wohl«, erwiderte er.

Sie ging. Am Ende der Gasse wandte sie sich um und winkte ihm einen Abschiedsgruß zu.

Bruchfeld verweilte regungslos. Endlich brach er in ein kurzes, bitteres Lachen aus und trat den Rückweg an.

8.

VIII.

Welch ein Tor war er gewesen! Er hatte ja gleich bei dem ersten Gespräch mit Paula erkannt, wie wenig Anklang seine treue Neigung bei ihr gefunden, hatte erkannt, wie wenig sie selbst in ihrem ganzen Wesen der Vorstellung entsprach, die er so lange von ihr gehegt – und dennoch hatte er, die warnenden [151] Stimmen in seiner Brust übertäubend, mit einer Selbstverblendung sondergleichen an dieser sinnlosen Liebe festgehalten, bis er endlich heute entschieden den Laufpaß erhalten! Ein heißer Schauer durchrieselte ihn. Aber was konnte ihm daran liegen? Was machte er sich aus einem Weibe, in dem er sich so sehr getäuscht – in dessen Brust nicht ein Funken edlerer Empfindung glomm! Aus einem Weibe, das nichts anderes war als eine herzlose Kokette – wenn nicht noch Schlimmeres, trotz der sonderbaren ehelichen Treue, die sie ihrem Gatten bewahrte! Sein Stolz, sein Stolzgefühl empörten sich, und unwillkürlich stampfte er im Gehen verächtlich auf das Pflaster.

Dennoch vermochte er nicht des Schmerzes Herr zu werden, der dumpf in seinem Innern fortbrannte, und schon in nächster Zeit mußte er erkennen, wie sehr er dieses Weib liebe. Wo immer er sich auch jetzt befand: in seinem einsamen Zimmer, im belebten Salon, im Theater, in der abendlichen Tischgesellschaft von Künstlern und Schriftstellern bei Gause – überall dachte er an Paula. Auf der Straße fürchtete er eine Begegnung mit ihr – und doch lugte er beständig nach ihr aus, blickte in jeden Wagen, ob er das blasse, dunkeläugige Antlitz darin nicht gewahre. Als er bei einem Konzerte eine seiner Symphonien persönlich dirigierte, forschte er mit scheuen Augen nach ihr im Publikum, obgleich er wußte, daß sie gar nicht daran dachte, hier zu erscheinen. Und er hatte oft die ganze Kraft seiner Seele aufzubieten, um des Morgens nicht an dem bekannten Hause mit dem Vorgärtchen vorüberzugehen ....

Es war ein aufreibender, unwürdiger Zustand, aus dem er sich um jeden Preis befreien mußte. Aber wie? Es gab, das erkannte er, nur ein Mittel: die Reise nach Italien. Aber nicht nach Venedig wollte er gehen, wie es ursprünglich seine Absicht gewesen. Nein, in dieser halbversunkenen Stadt blühte ja die Sumpfblume der Armut, das Laster, und wandelten Frauen, die ihn mit den großen dunklen Augen Paulas anblicken würden. Auch nicht nach Rom, wo alle Leidenschaften der Vergangenheit [152] und Gegenwart wirr ineinander zucken. Nur in dem lichten, sonnigen Florenz, bei den erhabenen Gestalten Michelangelos, vor den unschuldsvollen Bildern Fiesoles würde er vergessen, würde er die Ruhe seiner Seele wiederfinden! Schon bei dem bloßen Gedanken fühlte er seine Brust erleichtert. Also dorthin! Dorthin! Aber er konnte nicht fort. Künstlerische Verpflichtungen, die er eingegangen, hielten ihn hier noch fest.

Inzwischen war auch die Frist abgelaufen, die ihm Paula wegen ihre Bildes gesetzt. Trotz seines Vorsatzes, gar nicht weiter daran zu denken, überlegte jetzt Bruchfeld. Was wollte sie denn eigentlich mit dem Bilde? Doch nichts anderes, als ihn auf wohlfeile Art über die Enttäuschung trösten, die er erlitten. Er sollte sozusagen damit abgespeist werden. Aber verhielt es sich auch wirklich so? Vielleicht tat er ihr unrecht. Es war ihm jetzt, als wäre sie doch einer plötzlichen wärmeren Empfindung gefolgt – als habe ihre Stimme beim Abschied leicht gezittert. Auch hatte sie ja gesagt, daß es sie immer freuen würde, ihn zu sehen. Und er sollte sich jetzt umsonst erwarten lassen? Nein, er mußte das Bild in Empfang nehmen!

Und so schritt er zuletzt wirklich an einem frostigen Novembermorgen die weitläufige Gasse hinunter. Vor ihm, in einiger Entfernung, ging ein junger, schlanker Offizier, dessen hoher Wuchs durch den langen grauen Mantel, den er trug, noch auffallender wurde. Auf dem Platze mäßigte er den Schritt und blickte mit gespannter Aufmerksamkeit nach rechts in die Höhe. Zu den Fenstern Paulas! durchzuckte es Bruchfeld. Aber schon hatte der Offizier den Kopf abgewendet und bewegte sich wieder mit rascherem Schritte vorwärts, bis er, nach der Stadt hin einbiegend, verschwand.

Bruchfeld beschwichtigte die quälende Vermutung, die in ihm aufgetaucht war, und schickte sich an, auf Paula zu warten. Eine eigentümliche Empfindungslosigkeit überkam ihn jetzt; aber er konnte das Pochen seines Herzens vernehmen.

Es dauerte nicht lange, so erschien sie vor dem Hause und [153] schritt über den Platz der Gasse entgegen, an deren Ecke Bruchfeld Aufstellung genommen hatte. Als sie ihn von weitem wahrnahm, schrak sie merklich zusammen und wollte offenbar eine andere Richtung einschlagen. Aber sie besann sich und ging schnell auf ihn zu. Sie trug einen dunklen, leicht mit Pelz verbrämten Überwurf; ein lichtgraues, fast weißes Hütchen, mit schwarzem Sammet und einer kleinen Feder geputzt, stand ihr reizend zu Gesicht, das überraschend frisch und rosig aussah.

»Sie hier, lieber Freund!« sagte sie hastig und sichtlich befangen. »Ich hatte kaum mehr erwartet, daß Sie – – Aber verzeihen Sie! Ich habe heute keine Zeit, mit Ihnen zu plaudern. Ich muß gleich zu den Eltern. Papas Zustand hat sich sehr verschlimmert. Es soll ein neuer Arzt konsultiert werden – er wird gerade um diese Stunde erwartet. Und ich möchte doch dabei sein –«

»O das ist sehr begreiflich«, erwiderte er. »Auch bin ich ja nur gekommen, weil Sie – die Güte hatten, mir Ihr Bild ....«

»Ach ja, das Bild! Das hab' ich noch nicht. Das heißt – ich habe es nicht bei mir. Eigentlich hat mich der Photograph im Stiche gelassen. Wenn Sie sich aber am nächsten Samstag – also in einer Woche – wieder einfinden wollen, so werden Sie es bekommen. Erwarten Sie mich aber nicht hier, wo man Sie bemerken könnte. Vielleicht dort oben in der Nähe der ersten Cottage-Häuser. Ich werde ganz gewiß kommen. Adieu!« Und damit bog sie in die Gasse ein und eilte fort.

Da stand er nun. Er hatte es ja gewollt und durfte sich nicht wundern, daß es so gekommen war. Endlich wandte auch er sich zum Gehen. Wohin sollte er nun? Er hatte zwar mit Bekannten einen Besuch der eben eröffneten Ausstellung im Künstlerhause verabredet. Aber man wollte erst um zwölf dort zusammentreffen, und jetzt war es kaum halb zehn. Er überließ sich also einem ziellosen Schlendergange, wobei er seinen Gedanken und Empfindungen nachhängen konnte. Er bog gleich bei der alten Linienkapelle links ab und nahm den Weg [154] durch die stille, zum Franz-Joseph-Bahnhof führende Straße. Endlich gelangte er an die Brigitta-Brücke. Diese würde ihn zu weit ab geführt haben, und er lenkte in das Gebiet der »Rossau« und des »Althans« ein. Wie lange schon hatte er dieses Gewirr von Gassen und Gäßchen nicht mehr betreten, davon sich einige noch ganz so ausnahmen, wie einst in seiner Jugend! Niedere, jetzt freilich schon dem Verfall nahe Häuser, unscheinbare Läden und Gewölbe, vernachlässigte Gastwirtschaften. Und hart daran, aus jüngster Zeit, unabsehbare Reihen hoher, schimmernder Bauten, die ganz neue Verkehrsadern bildeten und ungeahnte Durchblicke eröffneten. Dennoch wandelte man hier, wo kaum ein Wagen rasselte, und nur wenige Menschen zum Vorschein kamen, wie in fremder, vergessener und verschollener Ferne ....

Aber war das nicht Paula, die dort oben am oberen Ende der alten, langgestreckten Gasse, die er eben betreten hatte, am Arm eines Offiziers herangeschritten kam? Desselben jugendlich schlanken Offiziers, den er heute schon einmal wahrgenommen? O ja, sie war es; ihr weißes Hütchen schimmerte von weitem. Und das Paar, das sich offenbar hier sehr sicher fühlte, hielt sich – sie mit beredtem Augenaufschlag, er das Gesicht zu ihr hinabgeneigt – dicht und zärtlich aneinander geschmiegt.

Bruchfeld wußte nicht gleich, was er beginnen sollte. Die Gasse war sehr schmal; ein förmlicher Zusammenstoß schien unvermeidlich, wenn er nicht sofort umkehrte oder unter ein Haustor trat. Aber eh' er noch zu einem Entschlusse gekommen war, hatte ihn Paula schon erblickt. Sie erschrak derart, daß sie sich, totenblaß wie sie geworden war, an den Arm ihres Begleiters festklammern mußte. Dieser blickte sie betroffen an und ließ dann die Augen forschend vor sich hinschweifen; aber er gewahrte Bruchfeld nicht mehr. Der war bereits in einem kleinen, dürftigen Gasthause verschwunden, das er in nächster Nähe entdeckt hatte.

Drinnen zeigte sich außer einem Manne, der im »Schank« [155] hinter einem leeren Glase saß, nur der Wirt, ein Sammetmützcher auf dem Kopfe. Seine schläfrige Miene drückte Erstaunen über den Gast aus.

Bruchfeld begab sich in das anstoßende »Extrazimmer« und bestellte Wein. Dann setzte er sich mit dem Rücken gegen das Fenster. Er wollte die beiden, wofern sie ihren Weg fortsetzten, nicht vorüberkommen sehen.

So verweilte er eine halbe Stunde mit völlig erstarrten Lebensgeistern. Er fühlte und dachte nichts. Endlich bezahlte er den ungenossenen Wein, erhob sich und ging.

Er hatte noch nicht viele Schritte getan, als er auf einen Trödlerladen stieß, vor welchem neben anderen Gegenständen ein Spiegel ausgehängt war. Unwillkürlich blickte er hinein – und erschrak vor dem Bilde, das ihm entgegensah. Wie festgebannt blieb er stehen. Ja, dieses fleischige, verquollene Gesicht mit dem ergrauten Barte war das seine! Und die ganze Gestalt, wie gedrungen, wie hochschulterig nahm sie sich aus! In so voller, überzeugender Deutlichkeit hatte er noch nie sich selbst wahrgenommen. Und wie eine plötzliche Erleuchtung kam ihm der Ausspruch Schopenhauers in den Sinn:

»Jedes Gut will auf seinem eigenen Gebiet errungen sein. Liebe, Schönheit und Jugend werden nur wieder durch Liebe, Schönheit und Jugend gewonnen.«

Das sah er nun. Freilich traf dieser Satz nicht vollständig zu. Paula war den Jahren nach nicht mehr jung; älter, viel älter als der Offizier. Aber sie besaß den geheimnißvollen, unvergänglichen Reiz gewisser Frauen, deren Schönheit im Verfall sich fast noch verlockender erweist, als in der Blüte. Selbst als Matronen üben sie gefährlichen Zauber, den kein Mund zu verspötteln vermag. Er dachte an Ninon de l'Enclos. Wie viele Leidenschaften wird Paula noch erwecken! Und er – er war ein alter Mann, der eitel genug gewesen, zu glauben, daß man ihn noch lieben könne! –

Diese Erkenntnis, so beschämend sie auch war, hatte für ihn [156] doch etwas Erlösendes. Er fühlte, daß er an allem selbst schuld gewesen, und während er jetzt langsam der Stadt zuschritt, wurde ihm immer leichter, immer freier zumute. So traf er mit fast heiterer Seele im Künstlerhause ein, gab sich mit Aufmerksamkeit der Betrachtung der Gemälde hin, speiste dann mit den Freunden in einem bekannten Restaurant – und abends folgte er einer Einladung in die Oper, wo ein neues Ballett zur Aufführung gelangte. Aber der Anblick der vielen weiblichen Gestalten auf der Bühne bedrückte ihn. Er mußte wieder an Paula denken, und plötzlich fand er, daß ihr eine der jungen Ballerinen oberflächlich ähnlich sah. Der Schmerz erwachte wieder in ihm und trieb ihn fort, ehe noch der zweite Akt zu Ende gespielt war.

Als er nach Hause kam, händigte ihm der Portier ein Briefchen ein. Eine Dame habe es in der Dunkelheit überbracht und die Bestellung dringend ans Herz gelegt.

Bruchfeld ahnte, von wem es war. Mit klopfendem Herzen steckte er es zu sich, und als in seinem Zimmer die Lichter brannten, erbrach er es. Seine Hand zitterte dabei heftig – wie schwach war er noch! In seltsam geschlungenen und gezwungenen Schriftzügen las er jetzt folgendes:


»Mein einzig geliebter Freund! Verurteilen Sie mich nicht, bevor Sie mich gehört. Der Schein ist gegen mich – aber ich bin schuldlos. Es wird Ihnen alles klar werden, wenn Sie sich, wie schon verabredet, nächsten Dienstag oder Mittwoch an dem bezeichneten Orte einfinden. Ich beschwöre Sie, zu kommen. Ohne Ihre Achtung könnte ich nicht leben – mit Ihrer Verachtung noch weniger. Es hat nie jemand anderen geliebt als Sie

Ihre unglückselige

alte Freundin.«


Er warf das Blättchen auf den Tisch. Lüge! Lächerliche, abgeschmackte Lüge! Und doch, wenn es wahr wäre! Wenn sie ..... Ein plötzliches Wonnegefühl tauchte bei diesem Gedanken [157] in seiner Brust empor. Unsinn! Lüge! Abscheuliche, plumpe Lüge, um ihn nunmehr an sich zu locken, seinen Verstand zu umnebeln, ihm den Mund, der ein Geheimnis verraten konnte, mit ihren Lippen zu versiegeln! O sie wußte, daß es ihr gelingen würde, wenn er sich beikommen ließ, ihrem Rufe zu folgen! Er wäre dann für immer der Narr, der Sklave dieses Weibes! Unwillkürlich dachte er an ihren Mann. Welch eine Ehe war das!

Aber wird sie ihn nicht unter allen Umständen zu finden wissen? Sie empfand, das erkannte er, bei aller Verderbtheit Scham und Angst vor ihm; ihrer Ruhe, ihrer Sicherheit willen mußte sie ihn jetzt um jeden Preis wieder zu gewinnen trachten. Daher durfte er auch nicht länger hier verweilen: er mußte fort – sogleich fort.

Schon am nächsten Tage traf er alle Anstalten. Seine Hausgenossen waren sehr verwundert über diese plötzliche Eile und suchten ihn noch hinzuhalten. Er aber erklärte, er dürfe nicht länger zögern, da er ja nicht gerade bei strengstem Winter in Florenz eintreffen wolle. So ließ man ihn denn gewähren. Es war ihm gelungen, die bindendste seiner Verpflichtungen in guter Art zu lösen; alles andere ließ er auf sich beruhen, denn Gefahr war im Verzuge.

Als er nach dem Bahnhofe fuhr, fiel der erste Schnee vom abendlichen Himmel nieder.

9.

IX.

Zwei Jahre waren seitdem verflossen, als der Bankbeamte Herr Viktor Jaksch aus dem Kaffeehause, das er in den späten Nachmittagsstunden zu besuchen pflegte, in seine Wohnung zurückkehrte. Es war ein ganz nettes kleines Heim, ausgestattet mit dem üblichen Einrichtungsprunk aus den großen Möbelmagazinen, und bestand, nebst einer Küche und einem winzigen Vorzimmerchen, aus zwei Gelassen, davon das eine als eheliches [158] Schlafgemach benützt wurde. Ein anstoßendes schmales Kabinett schien das Boudoir der Gattin zu sein.

Es war ein feuchtkalter Abend, und in dem schmächtigen Tonofen des ersten, bereits von einer Lampe erhellten Zimmers brannte ein behagliches Feuerchen. Herr Jaksch legte Hut und Oberrock ab; dann begab er sich in das Schlafzimmer, wo er seine großen und plumpen Füße von den beengenden Stiefeletten befreite und in bequeme Hausschuhe von zartem gelben Leder schlüpfen ließ. Hierauf entledigte er sich seines Jacketts und zog einen ganz neuen Schlafrock an, der vorne an der Brust blau ausgeschlagen war. Auch die Krawatte entfernte er und knüpfte, nachdem er eine Kerze vor dem Toilettespiegel angezündet hatte, ein buntes Seidentuch um den Hals. Er sah nun, wie er fand, ganz malerisch – und vor allem für seine Jahre sehr wohlerhalten aus. Der Scheitel war allerdings schon so weit gelichtet, daß man, wenn man gerade wollte, von einer Glatze sprechen konnte, dafür aber erschien die Stirn bedeutender, und der unternehmend aufgedrehte Schnurrbart gelangte zu größerer Geltung. Kurz, Herr Jaksch war mit sich ungemein zufrieden. Er warf mit einer Seitenwendung den letzten Blick in den Spiegel, blies das Licht aus und kehrte in das erste Zimmer zurück, wo er sich erwartungsvoll in einem Fauteuil niederließ.

Seine Frau hatte ihn, als er nach dem Essen ins Kaffeehaus ging, ein Stückchen Weges begleitet, und sich dann, um Besuche zu machen, mit dem Versprechen von ihm entfernt, zeitig wieder zu Hause zu sein. Nun, das war nicht der Fall, aber sie dürfte gewiß bald kommen.

Herr Jaksch wartete mit einiger Ungeduld. Er hatte sich auf diesen Abend ganz besonders gefreut. Es war ihm nämlich heute morgen im Bureau vertraulich eröffnet worden, daß er zu Neujahr eine nicht unbedeutende Gehaltsaufbesserung zu erwarten habe. Er hatte diese längst gehoffte Kunde seiner Frau schon bei Tisch mitgeteilt, wollte aber jetzt eine kleine intime Feier dieses frohen Ereignisses veranstalten. An einer[159] Weinhandlung vorüberkommend, hatte er sich eine Flasche Refosco, davon die Gattin, wie er wußte, nicht ungern einige Tropfen nippte, in Papier wickeln lassen; beim Abendessen, das von der Magd bereits gekocht wurde, sollte sie entkorkt und durch das süße Feuer des Weines eine vertrauliche Schäferstunde eingeleitet werden, nach welcher er um so mehr Verlangen trug, als er lange genug Strohwitwer gewesen. Seine Frau hatte im Sommer zuerst Franzensbad – und dann in einer berühmten Nerven-Heilanstalt eine endlose Kur gebraucht. Bis weit in den Oktober hinein hatte sie sich gezogen – dafür aber auch Wunder gewirkt. Seine Paula war gesund und blühend wie ein junges Mädchen in seine sehnsuchtsvollen Arme zurückgekehrt. Gleichwohl sollte er sich – nach ärztlicher Anordnung – noch immer einer gewissen Enthaltsamkeit befleißigen. Er war bis jetzt nach Möglichkeit folgsam gewesen. Aber heute sollte und mußte ihm endlich voller Lohn werden!

Halb neun! Und noch immer nicht da! Er erhob sich und schritt im Zimmer auf und ab. Dabei fiel ihm ein, daß er, seiner Gewohnheit nach, auch ein Abendblatt gekauft und zu sich gesteckt hatte; im Kaffeehause kam er ja, von einer fixen Billardpartie in Anspruch genommen, nur selten dazu, die Zeitungen näher anzusehen. Er zog es nun aus der Tasche seines Oberrockes, setzte sich nieder und begann, in das volle Licht der Lampe rückend, zu lesen.

Bei der zweiten Seite angekommen, stutzte er und faßte mit gespannter Aufmerksamkeit eine Stelle ins Auge, die ihn besonders zu interessieren schien.

Da ertönte draußen die Klingel – und die Ersehnte trat herein. Sie war in Halbtrauer; denn sie hatte gegen Ende des vorigen Jahres ihren Vater verloren.

Er stürzte auf sie zu, umschloß sie mit den Armen und küßte sie wiederholt.

»So laß mich doch nur erst den Hut weglegen!« rief sie widerstrebend und begab sich in das Schlafzimmer, wo sie auch den [160] Mantel von den Schultern gleiten ließ. Dann kehrte sie, das Haar an den Schläfen glattstreichend, zurück. Er betrachtete sie mit trunkenem Blick.

Sie sah auch wirklich entzückend aus. Ihr Wuchs war voll, fast üppig geworden. Das früher so fahle Gesicht hatte eine gesunde, bräunliche Farbe angenommen, so daß sie mit ihren roten Lippen und den weitgeschlitzten, dunkel umschatteten Augen einer Kreolin ähnelte.

»Du bist spät gekommen, mein Engel!« sagte er und zog sie, sich setzend, auf seine Kniee.

Sie ließ es gleichgültig geschehen. »Du weißt doch, daß mich Mama nie fortlassen will. Auch war ich ja noch in der Josephstadt. Der Tante geht es nicht gut. – Was neues?« Sie griff nach dem Blatte, das auf dem Tisch lag. Sie pflegte meistens nur die Inserate durchzusehen; das übrige ließ sie sich gern erzählen.

»Neues? Nun ja – eigentlich etwas für dich –«

»Was denn?«

»Es ist jemand gestorben.«

»Wer?«

»Nun, der – der – wie heißt er nur gleich? Deine erste Liebe. Na, da lies selbst!« Er wies ihr die Stelle mit dem Finger.

Bei den Worten »deine erste Liebe« war sie errötet. Jetzt las sie, noch immer auf seinem Schoße, über den Tisch gebeugt, folgendes:

»(† Leo Bruchfeld.) Man schreibt uns aus Florenz: Gestern ist hier der österreichische Musiker und Komponist Dr. Leo Bruchfeld nach kurzer Krankheit gestorben. Seit zwei Jahren schon weilte er in unserer Stadt, um in fast gänzlicher Zurückgezogenheit an einer größeren Tondichtung zu arbeiten, die sich auch unter dem Titel ›Requiem der Liebe‹ in seinem Nachlasse vorgefunden hat.«

Die von der Redaktion beigefügte biographische Skizze las sie nicht mehr. Sie hatte sich erhoben und war jetzt so blaß, [161] daß in ihrem Antlitz das bläuliche Geflecht der Adern zum Vorschein kam.

»Mein Gott! Paula!« rief er erschrocken. »Wie töricht von mir, daß ich dich aufmerksam gemacht –«

»Es ist nichts«, sagte sie, und fuhr langsam mit der Hand über die Stirn.

»O doch! Es hat dich sehr ergriffen. Hast du ihn denn wirklich – –? Schau, ich war auf so viele eifersüchtig – aber auf den niemals.«

»Es war auch nichts.« Sie wendete sich ab.

Die Magd trat ins Zimmer, um den Tisch zu decken, während sich Paula auf das Sofa niederließ und in Gedanken vor sich hinblickte.

»Was für ein Dummkopf war ich,« sagte Herr Jaksch zu sich selbst, »daß ich das Blatt nicht sofort versteckt habe. Nun ist alles verdorben.«

Sie setzten sich zu Tisch. Paula legte ihm von den Speisen vor.

»Und du?« fragte er.

»Du weißt doch, daß ich abends nicht esse.«

Sie nahm übrigens eine Kleinigkeit auf ihren Teller und kostete davon.

Er entkorkte die Flasche.

»Refosco«, sagte er.

Sie reichte ihm das Spitzgläschen hin. Er goß ein und sie trank.

Allmählich fing ihr Gesicht zu glühen an ....


* * *

Des Nachts merkte er, daß sie nicht schlafe, obgleich sie ganz ruhig neben ihm lag.
»Du schläfst nicht?« flüsterte er.
»Laß mich.«

* * *

[162] Am Morgen war sie wie gewöhnlich zu Bette geblieben, während er im Nebenzimmer gefrühstückt hatte und nun, zum Gange in sein Bureau bereit, an ihre Seite trat.

»Paula! Mein schönes, mein göttliches Weib!« Er bog sich zu ihr hinab und liebkoste sie. Sie ließ es geschehen und hielt ihm die Hand zum Abschied hin.

Als er fort war, verweilte sie eine Zeitlang regungslos mit geschlossenen Lidern. Dann erhob sie sich, wusch sich und kämmte vor dem Spiegel ihr langes, volles Haar, in welchem schon einige Silberfäden schimmerten.

Als sie vollständig angekleidet war, trat sie an ein Fenster und blickte durch die Scheiben. Dann setzte sie den Hut auf, nahm den Mantel um und verließ, nachdem sie der Magd mit ruhiger Stimme einige Befehle erteilt hatte, die Wohnung. Ihr Antlitz sah heute wieder etwas blutlos aus, so daß es eine leichte gelbliche Färbung zeigte. Mit gesenkten Wimpern schritt sie langsam die Treppe hinab, verließ das Haus und wendete sich nach rechts.

Dort, wo einst Bruchfeld gestanden, stand ein sehr vornehmaussehender Herr. Er war nicht mehr jung, aber keineswegs alt und wies in Haltung und Miene jene weltmännische Sicherheit, welche die Frauen besonders anzieht. Sein etwas verschleierter Blick leuchtete auf, als er sie kommen sah.

Sie lächelte ihm entgegen .....

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Erzählungen. Novellen aus Österreich. 4. Teil. Requiem der Liebe. Requiem der Liebe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AE23-7