118. Die weiße Jungfrau von Mark-Oldendorf.

1.

In Mark-Oldendorf war ein armer Tagelöhner, dessen Kinder die Gänse hüteten. Eins derselben, ein Mädchen, ging nach dem Mittagsessen zu einem Brunnen unter einer Eiche, um zu trinken. Als das Mädchen sich satt getrunken und wieder aufgerichtet hatte, stand eine weiße Jungfrau neben ihm, die fragte, ob es thun wolle, was sie ihm sage. Das Mädchen antwortete »ja.« Da sprach die Jungfrau zu dem Mädchen, es könne sie erlösen. Wenn es das nächste Jahr confirmirt wäre, so sollte es in seiner Abendmahlskleidung wieder zu dem Brunnen kommen; es dürfte aber vorher mit Niemand gesprochen haben, sonst [91] könnte es sie nicht erlösen. Gelänge aber die Erlösung, so würde ihm eine große Summe Geldes zu Theil werden. Das Mädchen versprach sich einzufinden, und die Jungfrau verschwand. Als es am Abend nach Hause kam, erzählte es alles seinem Vater. Der aber ging zum Pastor, und dieser sagte, wenn das Kind nächstes Jahr confirmirt wäre, so möchte es nur an den Brunnen gehn; sie beide wollten aber schweigend folgen und sich hinter eine Hecke stellen. So thaten sie auch und sahen zu, wie das Mädchen zu dem Brunnen ging. Als es eine Weile da gestanden hatte, erhob sich ein Windbrausen, und die Jungfrau stand vor ihm. Sie hatte statt eines menschlichen Kopfes drei Schweinsköpfe und trug eine Mulde voll Gold in den Händen. Als das Mädchen die Jungfrau in dieser Gestalt sah, fing es laut an zu schreien. Da that auch die Jungfrau einen lauten Schrei. Sogleich eilte der Vater des Kindes mit dem Pastor herbei um nachzusehn, ob ihm nichts Böses geschähe. Der Pfarrer fragte die Jungfrau, warum sie selbst so schreie. Diese antwortete mit kläglicher Stimme: »Dieses Kind hätte mich erlösen können, wenn es mir den mittelsten Schweinskopf geküßt hätte. Da es aber das nicht gethan hat, so muß ich wieder so lange wallen gehn, bis auf dem Baume Eicheln wachsen und aus den Eicheln Bäume werden. Wenn dann aus den Bäumen die erste Wiege gemacht wird, so kann das erste Kind, welches darin gewiegt ist, mich an dem Tage seiner Confirmation erlösen. Bis dahin aber kann mir nicht geholfen werden.« Damit verschwand die Jungfrau vor ihren Augen und sie gingen betrübt nach Hause.

2.

Im Steinberge bei Mark-Oldendorf befindet sich eine Höhle, das Kleflok genannt. In dieser Höhle soll sich ein Schatz befinden, und von Zeit zu Zeit läßt sich eine weiße Jungfrau davor sehn. Als einst ein noch jetzt lebender Mann, der damals noch ein Junge war, gerade im Mittage in der Ilme fischte, erblickte er plötzlich die weiße Jungfrau, die ihm wiederholt winkte. Er folgte aber ihrem Winke nicht. Da fing die Jungfrau an laut zu schreien und rief, nun müsse erst wieder eine Eiche aus dem Samen wachsen und aus dieser eine Wiege gemacht werden und wer als Kind darin gewiegt sei, der könne sie erst wieder erlösen. Darauf verschwand sie.

[92]

License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. 118. Die weiße Jungfrau von Mark-Oldendorf. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-B8F7-B