[300] 24. Das Zwergloch.

A.

Ein Bauer in Sudershausen hatte vier Töchter; alle vier waren schön, aber die jüngere war immer noch schöner, als ihre ältere Schwester. Eines Morgens wollte er in den Wald gehn, um bei dem sogenannten Zwergloche Holz zu hauen, und theilte das seiner Frau mit. »Wie willst du denn das Mittagsessen dahin bekommen?« fragte die Frau. »Das soll mir unsere älteste Tochter dahin bringen,« antwortete er. Das Mädchen wuste aber den Weg nicht und fragte deshalb den Vater, wie sie dahin finden solle. Der Vater versprach auf dem Wege Erbsen zu streuen, wornach sie sich richten könne. »Gut,« sagte das Mädchen, »aber streue sie recht dick.« So ging der Bauer nach dem Zwergloche und bestreute den ganzen Weg mit Erbsen, allein die Zwerge in der Höhle hatten es gemerkt und fegten alle Erbsen wieder weg. Als nun das Mädchen Mittags hinging, um dem Vater das Essen zu bringen, konnte sie keine Erbsen finden und irrte auf gut Glück im Walde umher. So kam sie endlich an das Zwergloch, wo die Zwerge sie sahen und gefangen nahmen. Nachdem der Bauer lange vergebens auf sein Mittagsessen gewartet hatte, kehrte er am Abend verdrießlich nach Hause zurück. Auf die Frage, warum sie ihm kein Essen geschickt habe, erzählte die Frau, daß die älteste Tochter damit fortgegangen sei. Beide suchten sie nun überall, konnten aber nirgend eine Spur von ihr finden. Im Zwergloche »hatte sich das Mädchen ungebührlich gegen die Zwerge betragen« und erhielt dafür von einem derselben eine Ohrfeige. Durch diesen Schlag wurde sie sogleich in eine Rose verwandelt und diese dann von dem Zwerge in ein Glas gestellt. Am anderen Morgen ging der Bauer wieder in den Wald und bestimmte, daß die zweite Tochter ihm das Essen bringen solle; damit sie den Weg finden könne, versprach er Linsen zu streuen, was er auch that. Doch die Zwerge fegten die Linsen weg, und so konnte das Mädchen den Weg nicht finden, ward von den Zwergen aufgefangen und in ihre Höhle geführt. Hier wurden ihr alle Schlüssel übergeben, und ihr erlaubt in der ganzen Höhle umherzugehn; nur eine Kammer dürfe sie nicht öffnen. Es war[301] das aber die Kammer, worin die Rose stand. Als die Zwerge aus der Höhle gegangen waren, vermochte das Mädchen ihrer Neugier nicht zu widerstehn; sie ging in die verbotene Kammer, erblickte die schöne Rose, und weil sie so lieblich duftete, roch sie daran. Kaum hatte sie das gethan, so war sie auch schon zur Rose geworden. Diese nahmen nachher die Zwerge und stellten sie zu der ersten in ein Glas. Da nun auch die zweite Tochter nicht zurückgekehrt und überall vergeblich gesucht war, so muste am dritten Tage die dritte Tochter dem Vater das Essen in den Wald tragen. Dieses Mal hatte der Vater Asche auf den Weg gestreut, aber auch diese ward von den Zwergen weggefegt, so daß das Mädchen sich verirrte und den Zwergen in die Hände fiel. Sie wurde in die Höhle gebracht und erhielt von den Zwergen alle Schlüssel, jedoch mit der strengen Weisung in die eine Kammer nicht zu gehn. Allein das Mädchen benutzte die Abwesenheit der Zwerge, ging in die Kammer, roch an eine der Rosen und ward ebenfalls in eine Rose verwandelt, und dann auch zu ihren Schwestern in ein Glas gestellt. Am vierten Tage kam nun die jüngste Schwester an die Reihe dem Vater das Essen zu bringen. Die Mutter wollte es zwar nicht zugeben, weil diese ihr Liebling war und sie fürchtete, daß sie sich ebenfalls verirren und im Walde umkommen möchte, doch muste sie es endlich erlauben. Dieses Mal hatte der Vater hellglänzende Steine auf den Weg gestreut, aber auch diese wurden von den Zwergen wieder weggefegt. Das Mädchen verirrte sich also, ward gefangen und in die Höhle geführt. Hier wurden ihr wieder alle Schlüssel übergeben, und ihr gesagt, die drei Rosen in der einen Kammer wären ihre drei Schwestern, sie möge sich wohl hüten daran zu riechen oder daran zu fassen, sonst würde sie ebenfalls in eine Rose verwandelt. Zugleich wurde ihr angekündigt, daß sie die Braut des Zwergenkönigs sei, und daß die Hochzeit gehalten werden solle, sobald sie zurückgekehrt wären. Dann gingen die Zwerge alle fort, um die anderen Zwerge in der Umgegend zur Hochzeit einzuladen, und ließen das Mädchen ganz allein. Als sie fort waren, ging das Mädchen in die bezeichnete Kammer und gab einer jeden der drei Rosen einen Kuß. Kaum hatte sie das gethan, so wurden die Rosen lebendig, und ihre drei Schwestern standen leibhaftig vor ihr. Alle vier freuten sich sehr und beriethen dann mit einander, wie sie aus der Höhle entkommen könnten. Es stand aber in der Höhle eine [302] Tonne mit Syrup und eine zweite mit Federn. Nun ging die eine Schwester zuerst in das Faß mit Syrup und dann in das Faß mit Federn, so daß sie, wie ein Vogel, überall mit Federn bedeckt war. So ging sie aus der Höhle und den Zwergen entgegen, die von allen Seiten zur Hochzeit herbei kamen. »Guten Tag, Federweib!« sprachen diese zu ihr. »Wo kommst du her?« »Ich komme aus dem Zwergloche,« antwortete sie. »Was macht denn die junge Braut?« »Die schaut oben zum Fensten hinaus.« Damit ging sie weiter und entkam glücklich. Dann kam die zweite Schwester, als Bettelweib verkleidet. »Guten Tag, Bettelweib!« sprachen die Zwerge zu ihr und fragten dann eben so, wie sie die erste gefragt hatten, erhielten aber dieselbe Antwort. Die Zwerge ließen sie ruhig ziehen. Dann kam auch die dritte und die vierte Schwester, beide ebenfalls verkleidet. Auch ihnen begegneten die Zwerge, fragten sie, wie die beiden ersten, erhielten dieselben Antworten und ließen sie ziehen. So entkamen alle vier Schwestern glücklich, die Zwerge aber sahen, als sie zur Höhle kamen, daß sie betrogen waren.

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TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. Märchen und Sagen. Niedersächsische Sagen und Märchen. B. Märchen. 24. Das Zwergloch. A. [Ein Bauer in Sudershausen hatte vier Töchter; alle vier waren schön]. A. [Ein Bauer in Sudershausen hatte vier Töchter; alle vier waren schön]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-BA42-4