5. Das klingende und singende Blatt.

Es war einmal ein König, der hatte eine einzige Tochter, [265] die war des Vaters Stolz und Freude. Einst wollte der König verreisen und fragte sie, was er ihr mitbringen sollte. Sie sagte: »ein Blatt, welches klingen und singen kann.« Der König reiste nun in eine große Stadt, überall erkundigte er sich nach dem Blatte, welches klingen und singen könne, aber er konnte es nirgend bekommen. Betrübt darüber, daß er den Wunsch seiner Tochter nicht erfüllen könne, reiste er zurück und kam in einen großen Wald. Mit einem Male hörte er zu seiner Freude auf einem Baume ein Blatt, welches klang und sang. Ganz froh darüber, ließ er den Kutscher auf den Baum steigen, um das Blatt zu holen. Als dieser aber die Hand danach ausstreckte, rief plötzlich ein Ungeheuer in der Nähe:»dat sint mîne bêren!«. Ein großer Wolf kam hervor und sprach zum Kutscher, er möge dem Könige sagen, wenn er ihm geben wolle, was ihm zuerst auf der Brücke zu seinem Schlosse begegne, so solle er das Blatt haben. Als der König das gehört hatte, willigte er in die Bedingung ein, um nur seiner Tochter das Blatt mitbringen zu können. Der Wolf aber setzte sich hinten auf den Wagen und fuhr so mit. Als sie zu der Brücke kamen, sah der König von weitem seine Tochter ihm entgegenkommen. Er erschrack heftig und rief ihr schon aus der Ferne »zurück!« entgegen, allein als sie ihren Vater und das klingende und singende Blatt sah, ließ sie sich nicht zurückhalten, sondern eilte dem Vater auf der Brücke entgegen. Als die im Schlosse hörten, was der König dem Wolfe versprochen hatte, war da ein großes Herzeleid. Zuletzt beschloß man des Kuhhirten Tochten in die Kleider der Prinzessin zu stecken und diese dem Wolfe zu übergeben. Am anderen Morgen zog die Tochter des Kuhhirten die schönen Kleider der Prinzessin an und wurde dem Wolfe übergeben. Dieser sprach zu ihr:»sett dek up mînen rûen swanz, hurle, hurle, hen!« und trabte mit ihr fort. Unterwegs machte er Halt und sagt zu ihr: »lûs mek enmâl!« und fragte dann: »wat was de glocke, as we wegtôgen?« Das Mädchen antwortete: »as mîn vâder med den koien wegtôg.« Da sprach der Wolf: »sett dek up mînen rûen swanz, hurle, hurle, hen; du bist de rechte nich!« und brachte sie wieder zurück ins Schloß. Hier forderte er die rechte Tochter; die Prinzessin aber weinte und schrie so viel, daß der König endlich beschloß die Tochter des Schweinehirten die Kleider der Prinzessin anziehen zu lassen und diese dem Wolfe zu geben. [266] Als er unterweges mit ihr rastete, fragte er sie: »wat was de glocke, as we wegtôgen?« Das Mädchen antwortete:»as mîn vâder med den swînen ûtdrêf.« Da sagte der Wolf ganz ärgerlich: »sett dek up mînen rûen swanz, hurle, hurle, hen; du bist de rechte nich!« So brachte er auch diese wieder zurück und forderte die rechte Prinzessin. Trotz alles Jammerns und Klagens muste jetzt die Königstochter mit ihm fort. Unterwegs sprach er auch zu ihr: »lûs mek enmâl!« und dann:»wat was de glocke, as we wegtôgen?« Sie antwortete: »als mein Vater mit den silbernen Löffeln klingelte.« Vergnügt sprach der Wolf: »sett dek up mînen rûen swanz, hurle, hurle, hen; du bist de rechte!« So trabte er mit ihr in den großen Wald, gerade dahin, wo der hohe Baum stand, worauf das klingende und singende Blatt gesessen hatte. Hier muste die Prinzessin mit dem Wolfe zusammen leben, er war aber gegen sie so gut, daß sie ihn zuletzt recht lieb hatte. Eines Tages sprach der Wolf zu ihr, sie solle ein Feuer anmachen; zugleich gab er ihr ein Schwert in die Hand und befahl ihr ihm damit den Kopf abzuhauen und diesen in das Feuer zu werfen. Sie wollte es zuerst nicht thun, weil sie ihn so lieb hatte; sie fiel ihm um den Hals, weinte und jammerte, doch er bestand darauf und legte seinen Kopf hin. Sie hieb ihn darauf ab und warf ihn ins Feuer. Da sprühte die Flamme hoch empor und in demselben Augenblicke stand ein schöner Prinz vor ihr. Beide reisten nun zu dem Könige, dem Vater der Prinzessin, heiratheten sich und lebten recht lange glücklich mit einander.


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TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. 5. Das klingende und singende Blatt. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-BB8B-7