108. Die weiße Jungfrau auf dem Grubenhagen.

1.

Bei dem Thurme des Schlosses Grubenhagen geht eine schneeweiße alte Jungfrau herum. Wenn sie gefragt wird, weshalb sie da umgehe, so sagt sie, sie wäre in den Thurm gebannt und giebt zugleich an, wie sie erlöst werden könne. Die Kinder, welche im Walde Heidelbeeren pflücken, werden gewarnt sich dem Thurme allzusehr zu nähern, weil die weiße Jungfrau hinein gebannt sei.

Nach einer andern Ueberlieferung ist eine Frau in dem Thurm gebannt, welcher der Name de Koltkempsche beigelegt wird.

2.

Ein Mann aus Rotenkirchen ging einst im Mittage zwischen 11 und 12 in der Schlucht zwischen dem Grubenhagen und dem Wolfsberge, als er plötzlich die weiße Jungfrau vor sich sah, die ihn anrief und aufforderte mit ihr zu gehn. Der Mann weigerte sich aber und sagte, er wolle erst seine Frau deshalb fragen. Damit ging er weiter; die weiße Jungfrau aber schrie laut auf und jammerte, nun werde sie wieder nicht erlöst.

3.

Ein Kuhhirt aus Rotenkirchen kam eines Tags im Mittage zwischen 11 und 12 Uhr auf den Grubenhagen und sah auf der Treppe vor dem Thurme die weiße Jungfrau sitzen, die eine Geige in der Hand hielt, auf der sie spielte. Er wagte es nicht sie anzureden, und wollte deshalb wieder fortgehn; da hörte er hinter sich einen lauten Schrei, und als er sich umsah, war die Jungfrau verschwunden.

4.

Auf dem Grubenhagen erblickte einst ein Mann aus Dassensen Mittages zwischen 11 und 12 Uhr zwei weiße Jungfrauen, welche gerade auf dem Rondel standen und dann auf ihn [80] zu kamen. An der Seite trug jede ein Schlüsselbund, und in der Ferne erschienen sie glänzend und von wunderbarer Schönheit. Da er ein beherzter Mann war, so blieb er stehn und ließ sie an sich vorübergehn; als sie aber an ihm vorübergingen, sah er, daß sie beide »aschenfahl« waren.


License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. 108. Die weiße Jungfrau auf dem Grubenhagen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-BCB4-3