260. Die weiße Jungfrau.

1.

Einst hütete ein Schäfer am Grubenhagen die Schafe. Plötzlich erblickte er in einiger Entfernung eine Jungfrau, welche weißgekleidet war und ein Schlüsselbund trug. Diese rief ihn bei Namen und winkte ihm, er möchte zu ihr kommen. Er ging hin. Da fragte ihn die weiße Jungfrau, ob er sie erlösen wolle. Er sagte ja. Es stand nun ein großer Topf mit Geld da, und um den Topf hatte sich eine große Schlange dreimal herumgewunden. Das alles, sprach die Jungfrau zu ihm, auf den Topf hinweisend, solle er haben, und noch viel mehr dazu, wenn er die Schlange küsse. Doch das wollte der Schäfer nicht thun. Da fing die Jungfrau an zu schreien, so daß man es in Rotenkirchen hören konnte, und sprach, nun müsse sie wieder hundert Jahre wandeln, denn der sie erlösen könne, der sei noch nicht geboren.

2.

Einem Schäfer, der auf der Homburg die Schafe hütete, erschien im Mittage zwischen elf und zwölf Uhr eine weiße Jungfrau. Auf den Schultern hatte sie ein goldenes Tragholz, woran zwei goldene Eimer hingen; in der Hand hielt sie einen goldenen Schlüssel, den sie fortwährend um den Finger herumdrehte. Sie sprach zu dem Schäfer, er allein könne sie erlösen und sich dadurch große Schätze gewinnen, er möge ihr folgen und auf ihren rechten Fuß treten. Doch jener weigerte sich beharrlich. [245] Da fing sie an zu wehklagen, nun werde erst in hundert Jahren wieder einer geboren, der sie erlösen könne, und verschwand.

3.

Einem Dienstknechte aus Lauenberg träumte drei Nächte hinter einander, er solle im Mittage zwischen elf und zwölf Uhr nach dem sog. Rothen Wasser, einer Wiese über Lauenberg gehn, dort werde er einen großen Schatz gewinnen. Er ging dahin und traf daselbst eine weiße Jungfrau, welche ihm sagte, er könne sie erlösen, und ihn aufforderte mit ihr nach der sog. Hullerschen Grund, einem Eichenholze, zu gehn, woselbst »eine Reise Geld« stände. Diese, fuhr sie fort, solle er haben, wenn er sie erlöse, nur dürfe er sich nicht fürchten: es werde ihm nemlich ein großer Eber begegnen, dem fortwährend glühende Funken aus dem Rachen flögen; er solle aber nur weite Schritte machen, dann würde der Eber ihm zwischen den Beinen hindurch laufen, ohne ihm etwas zu Leide zu thun. Anfangs schauderte der Dienstknecht zwar ein wenig, doch entschloß er sich mitzugehn und die Jungfrau zu erlösen. Als sie in der Hullerschen Grund angekommen waren, erhielt er von der weißen Jungfrau ein goldenes Tragholz mit zwei goldenen Eimern voll Geld. Sie gingen dann zurück und hatten fast schon das Ende der Hullerschen Grund erreicht, als ihm in der Richtung vom Dorfe her der Eber entgegenkam, dem ein Strom von glühenden Funken aus dem Rachen flog. Bei diesem Anblicke erschrak er aber doch, warf eiligst Tragholz und Eimer fort und sprang auf die Seite. Da fing die Jungfrau an laut zu schreien und sprach, nun werde erst in hundert Jahren wieder einer geboren, der sie erlösen könne.

4.

Die jungen Burschen aus Lauenberg schlugen einst bei dem Burghalse Ball. Einer von ihnen schlug einmal den Ball zu weit, so daß dieser über die Dieße flog. Hurtig sprang er über den Bach, um den Ball zu suchen, und hatte ihn auch bald gefunden. Indem er ihn eben aufnahm, kam die weiße Jungfrau aus dem Burghalse hervor, reichte ihm ein Bund Schlüssel hin und sagte dabei, er möge doch die Schlüssel nehmen, dann sei er auf immer glücklich. Doch der Bursche fürchtete sich und sprang über das Wasser zurück. Die Jungfrau verfolgte ihn noch bis an die Dieße und schrie, nun werde erst in hundert Jahren wieder einer geboren, der sie erlösen könne. Dann verschwand sie.

5.

Die Nêgenkàmer oberhalb des kleinen Dorfes Dögerode ist früher ein verwünschtes Schloß gewesen. In der neunten [246] Kammer befand sich eine Prinzessin, die dahin verwünscht war; sie saß dort auf einem Stuhle an einer steinernen Tafel, auf welcher ein Stock lag. – Einst hatte der Kuhhirt in Dögerode einen Traum, worin er aufgefordert wurde vor Tage dahin zu gehn und von einer bestimmten Stelle einen Gutengroschen zu holen. Er ging auch hin und fand richtig an der bezeichneten Stelle einen Gutengroschen. Nun ging er lange Zeit an jedem Morgen vor Tage dahin und jedesmal lag der Gutegroschen da. Eines Morgens aber muste er erst Brot backen und verspätete sich dadurch etwas; als er nun hinkam, waren da drei Vögel zusammengebunden und oben an den Stein gehängt, wo sonst der Gutegroschen gelegen hatte. Zugleich ließ sich eine Stimme hören: er solle machen, daß er fortkomme; in der Kammer selbst aber erhob sich ein lauter Schrei. Der Hirt eilte nun fort und ging nicht wieder dahin. Er hätte die Jungfrau erlösen können, wenn er immer pünktlich dahin gegangen wäre, um den Gutengroschen zu holen.

Vor etwa zwölf Jahren arbeitete ein Leineweber aus Sebexen, Namens Trillert, als Geselle in Dögerode. Eines Tages wollte dieser bei der Nêgenkâmer Holz sammeln, als er plötzlich darin ein furchtbares Getöse und Gezische hörte; er ging dahin, um zu sehen was das wäre, ward aber völlig betäubt, und eine unsichtbare Stimme rief: Mittwochen! Was dieser Ruf aber bedeuten sollte, das hat er nicht erfahren.

6.

In der Nähe von Billerbeck und Kreiensen liegt das Riesholz. Hier läßt sich bisweilen eine weiße Jungfrau sehen; sie sitzt auf einem Sacke voll Geld und das Haar hängt ihr um den Kopf. Einem vierzehnjährigen Jungen, der von Bentierode nach Greene zum Pfarruntericht gehn wollte, lief sie nach und bat ihn, er möchte ihr einen Kuß geben und sie so erlösen. Doch dem Jungen graute vor ihr und er weigerte sich. Da schrie sie furchtbar auf und sprach, nun werde erst in hundert Jahren wieder einer geboren, der sie erlösen könne. – Ein anderes Mal hatte einem Manne in Billerbeck drei Nächte hintereinander geträumt, er könne die weiße Jungfrau erlösen und das Geld gewinnen. In der dritten Nacht ging er hin, sie war auch da und bat ihn, er möchte sie erlösen und ihr einen Kuß geben, allein das wollte er nicht thun. – Sie trägt Schuhe (Holzschuhe), mit welchen sie außerordentlich schnell von der Stelle kommt, wenn [247] sie auch nur geht. Einst ging sie einem Schneider nach und kam dabei so schnell vorwärts, daß dieser ihr, obgleich er lief, was er nur laufen konnte, kaum zu entrinnen vermochte.

7.

Im Eichenbruche läßt sich alle sieben Jahre eine weiße Jungfrau sehen. Im vorigen Jahre ist sie von drei Knaben gesehen. Sie saß und hatte einen neuen Tragkorb bei sich stehn, vor ihr stand eine Tasse. An den Füßen hatte sie schöne seidene Strümpfe und feine Schuhe. Sie winkte den Knaben, diese liefen aber fort.


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TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. 260. Die weiße Jungfrau. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-BD39-B