18. Das Schiff, das ohne Wind und Wasser fährt.

Ein König hatte eine Tochter, die war schöner als alle Mädchen im Lande. Es fanden sich viele Freier ein, die sich eifrig um sie bewarben, [289] aber ohne allen Erfolg; denn der König erklärte, er werde sie nur demjenigen geben, der ihm ein Schiff brachte, welches ohne Wind und Wasser führe. Das hörte auch ein Hirtenjunge (auhêre, d.i. Unterhirte), der dachte bei sich: »die Königstochter muß mein werden.« Da nahm er eine Axt und ging weit, weit weg zu einem Walde, um da das Holz zu dem Schiffe zu hauen. Als er vor den Wald gekommen war, saß da ein kleines, weißes Männchen, welches ihn fragte, wohin er wolle und was er vorhabe. Nachdem der Hirtenjunge alles erzählt hatte, ließ sich das Männchen von ihm die Axt geben und sagte, er solle sich nur an seine Stelle setzen und warten, bis er wieder käme, er wolle für ihn das Holz schlagen. Nach einer kleinen Weile kam das Männchen in einem Schiffe zurück, welches ohne Wind und Wasser fuhr. In dieses ließ er den Jungen steigen und hieß ihn alles mitnehmen, was er an der Straße finden würde. Als er eine Strecke gefahren war, sah er einen Menschen an der Straße sitzen, der mit großer Gier von einem todten Pferde aß. Auf die Frage des Hirtenjungen, warum er das thue, antwortete jener: »ich habe einen so starken Hunger, daß ich schon zehn Pferde verzehrt habe; jetzt bin ich an dem elften, und doch bin ich noch lange nicht satt.« Da sagte der Hirtenjunge, er möge nur mitfahren; bekomme er die Königstochter, so solle er sich auch recht satt essen. Nicht lange darauf kam er an eine Stelle, wo einer an einem Teiche lag und gierig trank. Auch diesen fragte er, weshalb er das thäte. Der Trinker antwortete: »ich habe einen so gewaltigen Durst, daß ich ihn gar nicht stillen kann; zehn Teiche habe ich bereits ausgetrunken, nun liege ich am elften und bin doch noch immer durstig.« Der Hirtenjunge hieß ihn ebenfalls in sein Schiff steigen, mit der Zusage, daß er sich satt trinken solle, wenn er die Königstochter bekäme. So fuhr er weiter, und nicht lange nachher begegnete ihm wieder einer, der hatte das eine Bein auf die Schulter gelegt und lief doch noch so schnell, wie der Wind weht und der Vogel fliegt. Als er diesen fragte, wohin er so eilig wolle, sagte jener, er wolle noch viele, viele Stunden weit, um zu Mittage zu essen. Auch diesen hieß er einsteigen und sagte, wenn er die Königstochter bekäme, so wolle er ihn in seine Dienste nehmen. Auf der weitern Fahrt fand er noch einen am Boden liegen, der scharf mit dem Bogen zielte. Er fragte ihn, wonach er so scharf ziele. Jener antwortete: »viele Stunden weit von hier sitzt auf der[290] Spitze eines Kirchthurms eine Mücke, die will ich herunterschießen.« Auch diesen nahm er mit und sagte, er wolle ihn in seine Dienste nehmen, wenn er die Königstochter geheirathet hätte.

Als der Hirtenjunge nun mit seinem Schiffe, mit dem Esser, dem Trinker, dem Läufer und dem Schützen nach der Königsburg kam, übergab er dem Könige das Schiff und forderte seine Tochter zur Frau. Diese aber zeigte gar keine Lust zu der Heirath und sagte: »das ist ja der Hirtenjunge, den mag ich nicht zum Manne haben.« Auch ihr Vater, der König, war gar nicht geneigt sein Kind einem Hirtenjungen zu geben und erklärte, die Hochzeit könne nicht eher sein, als bis er von hundert Maltern Weizen das Brot aufgegessen habe. Das muste nun der Esser übernehmen, und als er damit fertig war, so war er kaum satt. Der König wollte aber dem Hirtenjungen seine Tochter noch nicht geben und sagte, die Hochzeit könne erst dann sein, wenn er von hundert Maltern Gerste das Bier ausgetrunken hätte. Auch davor war ihm nicht bange; sein Trinker muste sich daran machen, und als er das Bier ausgetrunken hatte, war sein Durst eben gestillt. Nun konnte der König dem Hirtenjungen seine Tochter nicht länger versagen, und die Hochzeit sollte vor sich gehn. Als aber Braut und Bräutigam zur Kirche gehn wollten, da fehlte diesem der Taufschein und es ward ihm nur eine Stunde Zeit gegeben, um ihn zur Stelle zu schaffen. Sogleich schickte er seinen Läufer ab; aber die Stunde war fast verflossen und der Läufer noch immer nicht wieder da. Nun wurde der Schütze abgeschickt, um zu sehen, wo der Läufer so lange bliebe. Dieser sah ihn bald, wie er auf einem Pferdekopfe liegend fest eingeschlafen war, und schoß ihm mit seinem Bogen den Pferdekopf unter dem Kopfe weg. Davon erwachte der Läufer und kam noch zu rechter Zeit mit dem Taufscheine an. Der König war nun gezwungen dem Hirtenjungen seine Tochter zur Frau zu geben, da ihm dieser das Schiff gebracht hatte, welches ohne Wind und Wasser fuhr, und außerdem alle anderen Forderungen erfüllt hatte.


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TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. 18. Das Schiff, das ohne Wind und Wasser fährt. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-BF7F-1