Es lebe Europa!
Eine Kapitalisten-Tragödie in fünf Akten

Personen

Personen.

    • Josef Urban, Direktor.

    • Ludwig Haeser, Fabrikbesitzer.

    • Dr. Langenbeck, Rechtsanwalt.

    • Wohlhabende Offiziere in Zivil, Beamte, Bürger und internationale Kapitalisten und ein Polizist in Uniform.

1. Akt

Erster Akt

Drei hellgrüne rechtwinklig zu einander stehende Wände mit dunkelgrünen Türen in der Mitte der Wand. In der Mitte des Zimmers langer breiter Tisch mit grüner Tuchdecke, Stühle und Sessel unordentlich umherstehend. Viel Schreibzeug, Bücher, Aktenbündel liegen unordentlich auf dem Tisch und auf einzelnen Stühlen. Bücher- und Aktenregale und kleine Tische.
Links am Tische sitzt Urban, Haeser rechts ihm gegenüber. Türgeklapper draussen, ein paar Herren kommen von rechts und auch von links herein und hören zu, setzen sich oder bleiben stehen – Alles sehr zwanglos. Diener kommen durch die hintere Türe mit Briefen, Depeschen etc.

[136]
URBAN
scheinbar schreibend – ziemlich laut.

Ja, meine Herren! Sie glauben garnicht, wie dumm die Menschen sind. Wenn heute Jemand Geld verdienen will – d.h. viel Geld – so darf er nur mit der Dummheit der Menschen seine Rechenexempel zusammenkonstruieren. Wer sein Haus auf der Dummheit der Menschen erbaut – der hat sichern Grund und Boden. Speziell muss man die Sucht der Dummen, die noch Dümmeren reinzulegen, in die Berechnung ziehen.

HAESER.
Du tust ja grade so, als wenn wir die Dummen wären.
URBAN.

Dummheit und Unternehmungsgeist hab ich noch nie zusammengesehen – und da der letztere hier ist – kann die erstere nicht da sein.

ALTER HERR.

Wir glauben ja schon, was wir glauben sollen: Der »Europa-Bund« ist wahrhaftig nicht die schlechteste Gründung unsrer Zeit.

URBAN.
Und da sagt man immer, ich sei verrückt.
HAESER.
Und das schadet doch nichts; Genies sind doch immer ein bischen verrückt.

Lachen.
URBAN
die Feder weglegend.

Ja, meine Herren! Denken Sie sich blos. Als ich vor drei Jahren in Brasilien war, trat ein gesetzter Herr auf und erklärte, dass er einen Brasilianer-Bund gründen wolle; in diesem Bunde sollten sich alle Bündler schriftlich verpflichten, sich jederzeit für Brasilianer zu halten. Die Sache erschien mir einfach lächerlich. Aber die Brasilianer erklärten, es sei ganz vernünftig, wenn sich Brasilianer für Brasilianer hielten. Na – und sehen Sie – der Bund hat ganz gute Geschäfte gemacht. Und so wirds auch mit dem Europa-Bund gehen.

ZWEITER ALTER HERR.

Freilich! Eigentlich ist es lächerlich, dass sich die Europäer für Europäer halten sollen – es ist so selbstverständlich.

HAESER.
Aber grade mit dem Selbstverständlichen ...

Alle lachen.
URBAN.

Macht man die grössten Geschäfte. Das Lächerliche! Meine Herren, das Lächerliche ist ja gerade das Kluge.

[137]
DR.

LANGENBECK stürmt von rechts herein. Meine Herren, die Geschichte ist zu lächerlich – aber die Gründung ist jetzt Tatsache – hier sind die weiteren Unterschriften. Ich gratuliere Ihnen. Alle stehen auf und lachen und schütteln sich die Hände und erzählen sich sehr viel.

URBAN
sehr laut lebhaft gestikulierend.

Meine Herren, feiern wir den heutigen Tag durch ein lustiges Festessen. Der Europa-Bund besteht. Das Lächerliche ist grade das Kluge! Es lebe Europa!

ALLE
stürmisch mit erhobenen Händen.
Es lebe Europa! Es lebe Europa!

Vorhang!

2. Akt

Zweiter Akt

Dasselbe Zimmer – nur ein paar Luxusmöbel sind zugekommen – Schaukelstühle – Lorbeerkränze an den Wänden. Urban und Haeser in Schaukelstühlen rechts und links, Langenbeck mit dem Rücken gegen die hintere Türe mitten vorm Tisch.

URBAN.

Jetzt haben wir bereits 87 Zeitungen angekauft – und alle die Zeitungen reden täglich von den Vereinigten Staaten Europas. Na, Rechtsanwalt, was wollen Sie mehr?

DR.

LANGENBECK. Jawohl, Sie sind der Uebergründer. Aber ich schwöre Ihnen: es wird Ihnen noch mal sehr schlecht gehen.

HAESER.

Das hat aber mit den vereinigten Staaten von Europa nichts zu tun. Ob es Herrn Josef Urban schlecht oder gut geht: die vereinigten Staaten von Europa werden demnächst in voller Figur da sein.

DR.

LANGENBECK. Und die Kapitalisten des Europa-Bundes werden [138] die vereinigten Staaten von Europa regieren – jawohl – wenns man nicht schief geht.


Diener bringt Telegramm, Langenbeck liest es.
URBAN.

Was gibts? Langenbeck steht auf und überreicht ihm das Telegramm. Ah! Mir stehen also jetzt 700 Millionen zur Verfügung – der Kongress der Europa-Bündler soll in vier Wochen in München tagen.

DR.

LANGENBECK. Ich gratuliere Ihnen, Herr Urban – aber ich erkläre Ihnen auch gleichzeitig, dass ich von jetzt ab gegen Sie Stellung nehmen werde. Nach meinem Dafürhalten knöpfen Sie den Kapitalisten einfach das Geld ab – und die vereinigten Staaten bleiben ein Hirngespinst.

URBAN.
Das wollen wir sehen.
DR.
LANGENBECK. Ja – das wollen wir sehen – in München. Leben Sie wohl. Hinten ab.

Haeser und Urban springen auf und umarmen sich.
Vorhang!

3. Akt

Dritter Akt

Wie vorhin – aber sehr viel Unordnung im Zimmer. Urban, Haeser und viele ältere und jüngere Herren – auch ältere und jüngere Damen. Alle in sehr grosser Aufregung.

URBAN.
Meine Damen und Herren! Zunächst wollen wir nicht den Kopf verlieren.
HAESER.

Es war ja ganz selbstverständlich, dass unsre grossen Erfolge schliesslich auch den Oppositionsgeist rege machen mussten.

JUNGE DAME.
Dass aber auch bei allen Völkern plötzlich der Patriotismus erwacht – das ist doch gradezu gemein.
[139]
ALTER HERR.
In Paris, Lissabon, Konstantinopel, Berlin, Moskau – überall haben wir jetzt Patriotenvereine.
URBAN.

Aber alle diese Patriotenvereine sind ja nicht einig. Wir aber sind einig, denn es gibt nur einen einzigen Europa-Bund.

HAESER.
Und deswegen wollen wir den Patrioten zuvorkommen.
URBAN.
Wir wollen 8 Tage früher den Kongress zusammenberufen.
ALTE DAME.
Dann ist ja wohl das Beste, Herr Direktor, wenn wir sofort nach München fahren.
URBAN.
Fahren Sie! Fahren Sie, meine Gnädige! Sofort!
HAESER.
Und jetzt wollen wir nicht den Kopf verlieren.
URBAN.

Wir sind es, auf deren Seite das Vernünftige steht. Keinem Menschen fällt es heute noch ein, an der Vernünftigkeit des Europa-Bundes zu zweifeln.

ALTER HERR.
Nur der Rechtsanwalt Langenbeck zweifelt daran.
URBAN
steigt auf einen Stuhl.

Was gehen uns die Rechtsanwälte an? Es lebe Europa! Alle brüllen »Es lebe Europa« – und dann wüst durcheinander »nach München! nach München!«.


Vorhang!

4. Akt

Vierter Akt

Noch grössere Unordnung – umgeworfene Stühle – Papiere und Bücher überall aufm Fussboden. Die Europabündler stürmen in Ueberziehern und Zylindern durch die Türen durch und schreien sich an und sind furchtbar aufgebracht.

[140]
URBAN.
Das ist ja gradezu haarsträubend.
HAESER.

In der Sprachenfrage ist einfach keine Einigung zu erzielen; wir haben die Dichter gegen uns, und die können am besten reden – die haltens im Geheimen alle mit den Patrioten; die Dichter der verschiedenen Völker wollen, dass man auf dem Kongress ihre Sprache spricht.

URBAN.
Das Land, das meine Sprache spricht.
HAESER.
Jetzt ist aber keine Zeit, Witze zu machen.
URBAN.
Mache ich denn Witze? Ich bin wütend für Sechs – für Sechs Tausend – für Sechs Millionen.
DR.

LANGENBECK. Sehen Sie, meine Herren? Die Schwierigkeiten sind schon da. Sie bringen ja nicht einmal einen Kongress zu Stande – und da wollen Sie die vereinigten Staaten von Europa zu Stande bringen? Es ist einfach lächerlich.


Setzt sich mitten an den Tisch und wirft Alles durcheinander.
URBAN.
Schweigen Sie, Herr Rechtsanwalt.
DR.

LANGENBECK. Ich denke nicht daran – die Aktionäre wollen ihr Geld zurückhaben – und wer an Allem Schuld hat – das sind Sie, Herr Urban.

URBAN.

Die Dichter sind Schuld an Allem! Diese verfluchten Dichter! Die zerstören den ganzen Europa-Bund! Ich werde verrückt vor Wut! Dass Jeder nur ja die Werke der guten Dichter lesen kann – dazu sollen die einzelnen Sprachen erhalten werden. Diese Dichter! Der gesamte Lokalpatriotismus ist eben nur Dichterwerk. Wer ist begeistert für sein Vaterland? Wer? Nur der Dichter! Denn der hat immer ein Interesse an der Sprache, in der er seine Werke schreibt. Die andern Leute gehen ihren Dichtern, diesen Leithammeln der Menge, in seliger Dammlichkeit nach und nennen ihre höchst poetische ideale Dammlichkeit – Patriotismus – und merken nicht, dass ihre patriotischen Gefühle nur den Dichtern zu Gute kommen. O du köstliche Komödie des köstlichen Patriotismus. Ich werde verrückt vor Wut.


Er schlägt mit beiden Fäusten so heftig auf den Tisch, dass durch die Erschütterung gleich der Vorhang runterfällt.
[141]

5. Akt

Fünfter Akt

Viele Sachen – besonders Stühle – sind aus dem Zimmer rausgenommen, auf dem Boden liegen keine Papiere, sodass das Zimmer einen etwas kahlen Eindruck macht. Die Lorbeerkränze liegen aufm Tisch. Links am Tisch Urban – rechts Haeser. Beide haben den Kopf auf die Hände gestützt. Jetzt kommen von rechts und von links die Aktionäre des Europa-Bundes und verlangen ihr Geld – in schroffen und sanften Tönen. Grosse Verwirrung, Weinen, Wut, Drohungen. Die beiden Gründer rühren sich nicht. Da kommt der Rechtsanwalt Langenbeck.

DR.

LANGENBECK. Meine Herren, wenn Sie jetzt nicht augenblicklich sagen, wo Sie das Geld gelassen haben, so werden Sie verhaftet.

HAESER.
Ich weiss von Garnichts.
URBAN.

Und ich sags nicht – am allerwenigsten Ihnen, mein tugendhafter Herr Rechtsanwalt. Uebrigens hörte ich, dass Sie die verschiedenen Patriotenvereine gegründet haben. Na – blüht das Geschäft? Vom Europa-Bunde bekamen Sie wohl nicht genug? Da gründeten Sie die Gegenpartei. Sie sind ja ein ganz saubrer Bursche.

DR.
LANGENBECK. Sie sind ein Schurke!

Polizist hinten.
POLIZIST.
Im Namen des Gesetzes! Die Herren Urban und Haeser erkläre ich hiermit für verhaftet.
URBAN.
Sie sind ein Riesenkameel, Herr Schutzmann!

Polizist zieht den Revolver.
HAESER
ruft einem Diener zu.
Lassen Sie den Wagen vorfahren! Wir sind verhaftet!
URBAN.

Na schiessen Sie doch los, Sie altes Dromedar Er schlägt dem Polizisten plötzlich mit der Faust ins Gesicht, dass dem [142] das Blut aus Nase und Augen quillt, wodurch er so wütend wird, dass er losschiesst – Urban fällt hin.

URBAN
sterbend.
Wo ich's Geld gelassen habe, sag ich Euch nicht – ich schlag Euch nur ins Angesicht.

Er zieht seinen Revolver und schiesst den Rechtsanwalt und den Polizisten übern Haufen – beide fallen – riesiger Tumult – Hilfegeschrei und Wutgebrüll – die drei Angeschossenen sterben.
Der Vorhang fällt.
[143]

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Scheerbart, Paul. Drama. Revolutionäre Theaterbibliothek. Band III. Es lebe Europa!. Es lebe Europa!. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-C14B-4