Anruf

Zu Anfang des Jahres 1807


O ihr Blinden, die verderbend,
Ja schon sterbend,
Doch den Hader nicht vergessen,
Dünkels noch vermessen,
Nicht vernehmt die Hand, die euch geschlagen!
Fruchtlos ohne Reue,
Schallt nur eitel euer Klagen,
Fern von Demut und von Treue,
Endet euer Stolz nun in Verzagen.
[386]
Sohn der Liebe, woll'st vereinen
Doch die Deinen,
Daß der Zwietracht dunkle Binde
Vor dem Blick verschwinde,
Alle deines Heiles Licht erkennen,
Und in dir verbündet,
Gern sich alle Brüder nennen,
Neuen Muts ihr Herz entzündet
Ewig mög' in Liebesflammen brennen.
Welcher Hölle Ungewittern
Dürft' erzittern
Wohl dein Volk, wenn einig wieder,
Es wie ehdem bieder,
Wandelte im alten Heldenglauben?
Gottes Himmel offen,
Mag Zerstörung uns umschnauben,
Steht nur fest der Liebe Hoffen,
Darf kein Haar vom Haupt das Schicksal rauben.
Innen keimt, das Herz betörend,
Selbstzerstörend,
Hier ein Gift, uns zu umschlingen,
Fesselnd zu durchdringen,
Bis wir dann dem Tode preisgegeben.
Eitlen Dünkels Streiten,
Kalter Habsucht zaghaft Beben,
Muß dem Feind den Weg bereiten,
Und umgarnt mit Ohnmacht unser Leben.
Heiland, der die Welt errettet,
Als umkettet
Sie von ird'schem Ruhme trunken,
Lag in Lust versunken,
Sterbend hießest Liebe auferstehen!
Müssen deine Krone
Wir so arg verspottet sehen,
Darf der Mord mit grimmem Hohne
Wütend so durch deine Saaten gehen?
Auf der Zeiten Woge schwankend,
Kraftlos wankend,
Will das Schiff des Glaubens sinken,
Ihm kein Stern mehr winken,
[387]
Daß die Treuen schon verstummt erblassen.
Nirgends schimmert Rettung,
Sturmwind naht sie zu umfassen,
Und in schrecklicher Verkettung
Will ein Räuber nun das Steuer fassen.
Einsam muß der Treue wallen,
Einsam fallen,
Wandeln an dem öden Strande
Ohne Liebesbande,
Mühevoll durch Neid und Sorge ziehen.
Kraft ist seinem Munde,
Wort und Lied umsonst verliehen,
Jeder hohen Gotteskunde
Sieht er Hohn ihm lachend all' entfliehen.
Eitel strömen aus der Kehle,
Ohne Seele,
Wort und Rede, mehr verwirrend
Noch den Geist, der irrend
Sich den Schein zur Wohnung hat erkoren;
Mit den Zeichen spielt er,
Deren hoher Sinn verloren,
Nach dem eitlen Schimmer zielt er,
Tot schon lebend, und dem Nichts geboren.
Soll dies Elend nimmer enden,
Nie sich wenden,
Soll erloschen und verdorben,
Innen ganz erstorben,
Gott, dein Ebenbild der Mensch verlieren?
Soll sich tief erniedernd
Blöd' er wandeln gleich den Tieren,
Keinen Laut der Lieb' erwidernd,
Soll nichts Göttlich's mehr die Erde zieren?
Nein, es hat der Herr des Lebens
Nicht vergebens
Göttlich für das Licht gestritten,
Und den Tod erlitten,
Das Gespenst der Hölle zu zerstören;
Er, der all' vereinet,
Die den Ruf der Liebe hören,
Wird, so weit der Himmel scheinet,
Seiner Kämpfenden Gebet erhören.
[388]
Ja, es nahen schon die Tage,
Wo die Klage
Sich in Wonn' und Schreck entfaltet,
Wenn der Richter waltet,
Finsternis und Gutes ernst sich scheiden;
Sich vereint das Gleiche,
Licht umkränzt das fromme Leiden,
Angstvoll klagt der irdisch Reiche,
Gottes Trennung keiner mag vermeiden.
Diese Felsen, die jetzt brechen,
Alle sprechen
Von der göttlichen Erscheinung.
Selige Vereinung
Ernten bald, die treu dem Ziel ausharrten;
Noch im Sturm und Dunkeln
Woll'n wir drum des Morgens warten,
Mutig ob der Hoffnung Funkeln,
Das zur Sonne wird in Gottes Garten.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Schlegel, Friedrich. Gedichte. Lyrische Gedichte. Anruf. Anruf. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-D68D-B