[297] An die Deutschen

Zu Anfang des Jahres 1800


Vergaßt auf ewig ihr der hohen Ahnen?
Ihr uneins all', an Stumpfheit alle gleich,
Gelehrte, Laien, Herrn und Untertanen!
Ach schmolz der Väter Tugendkraft so weich,
Die einst wie Rom so Schwert als Griffel führten,
Bald welterobernd, bald von Kunstsinn bleich,
Das Rittertum durch Caesars Würde zierten,
Der neuen Dichtkunst vollsten Strom ergossen,
Europa, eh' die Kirche brach, regierten?
In Deutschland war der heil'ge Krieg entsprossen,
Als Deutschland sich im Frieden ganz zerstörte,
Da war das letzte deutsche Blut geflossen.
Noch da gab's Stimmen, einen kaum der hörte.
Von Fürsten Recht, bei Bürgern edle Sitte,
War wen'ger Ziel, seit sich das Reich verkehrte.
Was mögen einzle, fehlt die große Mitte?
In Taten hat uns Gottes Will' umschränkt,
Die Kraft der Kunst gewährt er sonder Bitte.
Schon früh hat uns Gelehrsamkeit getränkt
Mit alter Völker Mark. Zur Geistessonne
Wird Kraft und Kunst durch stillen Bund gelenkt.
Aus süßer Poesie quillt ew'ge Wonne,
Durch Religion entzünd't sich lichte Güte,
Dem Denker ist Natur der Lebensbronne.
Was Hellas schlau ersann, was Indien blühte,
German'scher Männer Lied wird's neu entfalten,
Wie zornig blinder Pöbel gegenwüte.
Ich sagte zweimal Uns. Die Worte galten
Den Heldenkünstlern, die sich selber nennen;
Denn nimmer kann solch Feur wie dies erkalten.
Die Nachwelt wird sie glorreich anerkennen.
Wer will, sei mit im Uns. Die sind verstoßen,
Die nach dem Nichts, von Gott verlassen, rennen,
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An Religion und Dichtkunst sich erboßen,
Von der Natur Mysterien nichts nicht wissen,
Zu sich in Kot das Heil'ge niederstoßen.
Solch Sündenvolk, die leicht schier von Gewissen,
Im Herzen schlaff, von Sinnen stumpf, nicht merken,
Daß sich der Nacht ein Weltall neu entrissen,
Mag ewig Gott im Totenschlaf bestärken,
Bis kraft des jüngsten Tags zuletzt sie wachen,
Eh' sie zergehn samt ihren nicht'gen Werken.
Wer Feuer, Wasser, Luft, die ersten Sachen
Aus tiefer Seele liebt, kann's nie mehr lassen,
Schwömm' auch allein auf weitem Meer sein Nachen.
Er muß im Mittelpunkt den Erdgeist fassen,
Metalle, Menschen, Pflanz' und Tier begreifen;
Wo Licht und Sonne fern, das Träge hassen.
Was Stoff, der Formen Sinn, wie Sterne schweifen,
Dreiein'ger Kräfte Wechselspiel; die Frucht
Muß golden ihm am Baum der Weisheit reifen.
Zu Gott zurückfliehn will des Lebens Flucht;
Geweiht bleibt ewig, wer Gott einmal schaut,
Nie füllt sein Tun die bodenlose Sucht.
Dies, Pöbel, ist das Feur, vor dem dir graut!
Die lang verschloßne Kraft ist aufgelodert;
Kein Wasser kann sie still'n, sie brennt zu laut.
In sich hat sich der Geist von sich gefodert,
Des Wissens Tief' entsteigt neugrün die Erde;
Der alte Schutt bleib' immerhin vermodert.
Der Meister sinnt schon freudig von Gebärde,
Sein Haupt als Priester der Natur umkrönend,
Und spricht zur Hierarchie der Kunst sein Werde.
Vom Himmel fließt dies Zauberlicht, und tönend
Begleitet der das Schöpferwort, des Kraft
Zur Mitte dringt, die alte Nacht versöhnend.
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Ich sprach es aus und sah, wo keiner gafft,
Im innern Licht der Geister Weltenbau,
Sah lebend, was zum Schein der Tod gerafft;
Am Boden funkelt hell der Liebe Tau,
Der Bildung Mark durchströmt die Wunderpflanze,
Zum Dach wölbt Fantasie ihr lichtes Blau.
Es wächst und blüht der Säulen Chor im Glanze;
Des Tempels Bau vollendend zu enthüllen,
Weihn am Altar sich die im Dichterkranze,
Aus deren Blick schon Lichtes Ströme quillen,
Und schwören alle bei des Himmels Rosen,
(Der Eid sei höchstes Ziel auch meinem Willen):
Mit Flammen soll der Jüngling fröhlich kosen,
Des Mannes Fuß ersteigt des Weltalls Stufen,
Dem Stab des Meisters schweigt der Meere Tosen.
Wohl seid ihr taub, sonst hört ihr jetzt mein Rufen!
Der Tempel grünt in euch; in euch noch leben
Die Kräfte so das Altertum erschufen.
Dringt Jüngling' ein! Ernennt durch tapfres Streben
Euch selbst zu Herrn und Fürsten jeder Kunst;
So wird die Kirche sichtbar sich erheben.
Ihr habt der Liebe Mut, der Götter Gunst,
Ihr schautet die Natur im Heiligtume;
Entflammt die ganze Welt zu Einer Brunst!
Eu'r Tempel wachse groß zu Deutschlands Ruhme.
Der Grund ist fest, und hoch im Zentrum sprießt
In königlicher Pracht der Dichtkunst Blume.
Europas Geist erlosch; in Deutschland fließt
Der Quell der neuen Zeit. Die aus ihm tranken,
Sind wahrhaft deutsch; die Heldenschar ergießt
Sich überall, erhebt den raschen Franken,
Den Italiäner zur Natur, und Rom
Wird wach und Hellas, dessen Götter sanken.
[300]
Bleibt jung, gedenkt der Ahnen; das Phantom
Der trägen, toten Meng' ist nur ein Splitter,
So dämmen will der Zeiten Riesenstrom.
Des Geistes heil'gen Krieg kämpft treu wie Ritter!

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TextGrid Repository (2012). Schlegel, Friedrich. Gedichte. Kunstgedichte. An die Deutschen. An die Deutschen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-D84F-7