[10] Arthur Schnitzler
Die Hirtenflöte

1.

I

Ein Mann aus wohlhabender Familie, der sich als Jüngling in städtischer und ländlicher Gesellschaft vielfach umgetan und allerlei Wissenschaften und Künste als Liebhaber betrieben hatte, unternahm in reiferen Jahren Reisen in ferne Lande und kehrte erst mit ergrauenden Haaren in die Heimat wieder. In stiller Gegend am Waldesrand baute er sich ein Haus mit dem Ausblick nach der weiten Ebene und nahm die anmutige eben erst verwaiste Tochter eines Landwirts zur Frau. Eltern und Verwandte waren ihm längst gestorben, zu den Freunden von einst fühlte er sich nicht hingezogen, neue zu gewinnen lockte ihn wenig; und so gab er sich in dieser beinahe stets von einem blauen Himmel überhellten Landschaft der von ihm besonders geliebten Kunde vom Lauf der Sterne hin.

Einmal in einer schwülen Nacht, da Erasmus wie gewöhnlich im Turm seiner Beschäftigung nachgehangen, erhob sich Dunst aus den feuchten Wiesen und trübte allmählich jede Aussicht nach den himmlischen Fernen. Erasmus schritt die Treppe hinab; und früher als er es in klaren Nächten zu tun pflegte, betrat er das eheliche Gemach, wo er seine Gattin schon schlafend fand. Ohne sie zu wecken, ließ er den Blick lange auf ihr weilen, und obgleich ihre Lider geschlossen und ihre Züge ohne Regung blieben, betrachtete er sie mit angespannter stetig wachsender Aufmerksamkeit, als müßte er in dieser Stunde hinter der friedlich glatten Stirn das Treiben von Gedanken erkunden, die ihm bisher verborgen geblieben waren. Endlich löschte er das Licht, setzte sich auf einen Lehnstuhl am Fußende des Bettes hin, und im Schweigen der Nacht überließ er sich einem völlig ungewohnten Sinnen über das Wesen, mit dem er seit drei Jahren in ruhig unbekümmerter Ehe verbunden, und das ihm heute zum erstenmal wie eine Unbekannte erschienen war. Erst als das hohe Fenster vom aufsteigenden Frühlicht zu erschimmern begann, erhob er sich und wartete dann geduldig, bis unter seinem Blick Dionysia tief Atem holte, sich dehnte, die Augen aufschlug und [11] ihn mit heiterem Morgenlächeln begrüßte. Da sie ihn aber mit so ungerührtem Ernste am Fußende des Bettes stehen sah, fragte sie verwundert und vorerst im scherzenden Ton: »Was ist dir denn begegnet, mein Erasmus? Hast du dich heute nacht auf dem Himmel nicht zurecht gefunden? Gab es der Wolken zu viele? Oder entlief dir irgendein Stern in die Unendlichkeit, aus der du ihn selbst mit deinem neuen vortrefflichen Fernrohr nicht mehr zurückzuholen vermochtest?« Erasmus blieb stumm.

Dionysia richtete sich ein wenig auf, sah ihren Gatten forschend an und fragte weiter: »Warum antwortest du nicht? Ist dir etwas Übles widerfahren? Fühlst du dich krank? Oder sollte ich dich am Ende gar gekränkt haben ohne mein Wissen? Das muß ich wohl am ehesten vermuten. Denn über jede andere Unbill dich zu beruhigen oder zu trösten wäre ich ja selber da, und du bliebst mir nicht so lange die Antwort schuldig.«

Nun endlich entschloß sich Erasmus zu sprechen. »Von dir, Dionysia,« begann er, »kann mir diesmal freilich weder Beruhigung noch Trost kommen, denn mein nachdenkliches Wesen rührt eben daher, daß ich viele Stunden lang über dich nachgesonnen und mir zu gleicher Zeit bewußt ward, daß ich es bis zu dieser Nacht niemals getan hatte!«

Dionysia, auf ihre Polster gestützt, lächelte. »Und weißt du nun anders oder besser als früher, daß du eine zärtliche, treue und glückliche Frau dein eigen nennst?«

»Es ist wohl möglich,« entgegnete Erasmus trüb, »daß du das wirklich bist; das Schlimme ist nur, daß ich es nicht wissen kann und daß du es ebensowenig wissen kannst als ich.«

»Was sprichst du da? Woher kommen dir mit einem Male solche Zweifel?«

»Das will ich dir sagen, Dionysia. Niemals war mir – niemals dir selbst, die früher im Frieden ihres väterlichen Hauses und jetzt an meiner Seite still dahingelebt hat, Gelegenheit gegeben, dich kennen zu lernen. Woher also nimmst du, woher nehme ich das Recht überzeugt zu sein, daß deine Zärtlichkeit Liebe, deine Unbeirrtheit Treue, das Gleichmaß deiner Seele Glück bedeuten, und sich auch im Drang und Sturm eines bewegteren Lebens so bewähren würden?«

Nun nickte Dionysia wie beruhigt. »Glaubst du wirklich,« fragte sie, »daß bisher noch niemals Versuchungen an mich herangetreten sind? Habe ich dir etwa verschwiegen, daß sich, ehe du meine Hand begehrtest, andere Männer um mich beworben [12] haben, jüngere, ja sogar weisere als du? Und ohne dein Erscheinen vorhersehen zu können, mein teuerer Erasmus, habe ich sie alle ohne Bedenken abgewiesen. Und auch in diesen Tagen, wenn an unserm Gartenzaun Wanderer vorbeiziehen, sehe ich in ihren jungen Augen gar oft gefährliche Fragen und Wünsche glühen. Keinem hat mein Blick je Antwort gegeben. Und sogar die fremden Gelehrten, die sich mit dir über die Kometen kommender Jahrhunderte unterhalten, versäumen selten eine Gelegenheit, durch Augenspiel und Lächeln mir anzudeuten, daß meine Huld ihnen werter wäre als alle Kunde von Sonne, Mond und Sternen. Habe ich einem von ihnen jemals andere Höflichkeit erwiesen, als sie eben Gästen geziemt, die an unserem Tische speisen?«

Spöttisch erwiderte Erasmus: »Du bildest dir gewiß nicht ein, Dionysia, daß du mir, der ich die Menschen kenne, mit diesen deinen Worten etwas Neues erzählt hast. Aber wenn dein Betragen auch immer ohne Fehle gewesen ist, weiß ich darum, und weißt du es selbst, Dionysia, ob deine Unnahbarkeit den wahren Ausdruck deines Wesens vorstellt; – oder ob du nur deshalb allen Werbungen widerstanden hast, und dich entschlossen glaubst, ihnen auch in Zukunft zu widerstehen, weil du bisher gar nie auf den Gedanken kamst, daß es anders sein könnte, oder weil du insgeheim fürchtest, der gewohnten Behaglichkeit deines Daseins für alle Zeit verlustig zu werden, wenn du je versuchtest, dich über die Gebote ehelicher Sitte hinwegzusetzen?«

»Ich verstehe nicht,« rief Dionysia betroffen, »was du mit alldem sagen willst? Ich habe nicht die geringste Lust, dergleichen zu versuchen und versichere dich, daß ich mich in meinem jetzigen Zustand vollkommen zufrieden und glücklich fühle.«

»Daran zweifle ich nicht, Dionysia. Aber verstehst du denn noch immer nicht, daß mir das gar nichts mehr bedeutet, nichts bedeuten kann, nun, da mir in stiller Nachtstunde die Einsicht geschenkt ward, daß das tiefste Geheimnis deiner Seele noch verborgen und unerweckt in dir ruhen mag? Um aber die Ruhe wiederzufinden, die mir sonst für ewig verloren wäre, ist es unerläßlich, daß dieses Geheimnis ans Licht gebracht werde; und darum Dionysia, habe ich beschlossen, dich frei zu geben.«

»Mich frei zu geben?« wiederholte Dionysia ratlos mit weitgeöffneten Augen.

Unbeirrt fuhr Erasmus fort: »Höre mich wohl an, Dionysia, und versuche mich zu verstehen. Von diesem Augenblick an begebe ich mich aller Rechte auf dich, die mir bisher eingeräumt [13] waren: des Rechts dich zu warnen, dich zurückzuhalten, dich zu strafen. Ja, ich verlange vielmehr, daß du jeder Neugier, die sich in dir regt, jeder Sehnsucht, die dich lockt, ohne Zögern Folge leistest, wohin sie dich auch führe. Und zugleich schwöre ich dir, Dionysia: du magst von hier gehen, wohin du willst, mit wem du willst – wann du willst, magst heute heimkommen oder in zehn Jahren – als Königin oder Bettlerin, unberührt oder als Dirne – du wirst jederzeit dein Gemach, dein Bett, dein Gewand in diesem Haus bereit finden, wie du sie verlassen; und von mir, der weiter hier verweilen, aber nicht deiner warten wird, für alle Zukunft keinen Vorwurf oder auch nur eine Frage zu fürchten haben.«

Dionysia streckte sich ruhig im Bette hin, die Hände über dem Haupt verschlungen und fragte: »Ist es Ernst oder Scherz, was du hier sprichst?«

»Es ist so völlig Ernst, Dionysia, daß nichts auf dieser Welt, keine Bitte und kein Flehen mich bewegen könnten, die Worte, die ich eben gesprochen, wie der zurückzunehmen. Versteh mich also wohl, und nimm's in seiner ungeheuersten Bedeutung, Dionysia, du bist frei.« Und er wandte sich wie zum Abschied von ihr fort.

In demselben Augenblick warf Dionysia die Decke ab, eilte zum Fenster, riß es auf, und wäre Erasmus nicht herzugeeilt, so hätte sie im nächsten Augenblick zerschmettert in der Tiefe liegen müssen.

»Unglückliche!« rief er aus, die Zitternde in den Armen haltend, »was wolltest du tun?«

»Ein Leben enden, das mir nichts mehr wert ist, da ich dein Vertrauen verloren habe.«

Erasmus' Lippen berührten die Stirne der Gattin, die in seinen Armen die Besinnung zu verlieren schien, und er atmete tief.

Mit einem Male lösten sich aus dem Schweigen des Tales, das im Morgengrauen dalag, liebliche Töne. Dionysia öffnete die Augen, sie horchte auf, und ihre Züge, eben noch wie in verzweifelter Müdigkeit erschlafft gewesen, spannten neu sich an. Erasmus gewahrte es und entließ Dionysia sofort aus seiner Umarmung. »Erkennst du, was eben zu uns heraufklingt?« fragte er. »Es sind die Töne einer Hirtenflöte. Und siehe, ohne daß du es dir gestehen möchtest, ja, ohne daß du dir dessen so recht bewußt wärst, regt sich in dir, die soeben bereit war in den Tod zu gehen, die Neugier, zu erfahren, an welchen Lippen die Flöte [14] ruht, der diese Töne entklingen. So ist es denn Zeit für dich, Dionysia, ganz zu erfassen, was du früher vielleicht nicht fassen konntest: daß du frei bist. Folge dieser ersten Lockung, die an dich ergeht – und jeder andern, die noch kommen mag, gerade so wie dieser. Zieh hin, Dionysia, dein Schicksal zu erfüllen, ganz du selbst zu sein.«

Mit wehem Erstaunen wandte Dionysia den Blick ihrem Gatten zu.

»Zieh hin,« wiederholte Erasmus entschiedener als vorher. »Dies ist mein letzter Befehl an dich. Vielleicht bedeutet dieser Flötenton die einzige Lockung, der zu unterliegen du bestimmt bist, vielleicht die erste nur von wenigen oder vielen. Vielleicht ruft eine andere dich in der nächsten Stunde schon zurück nach Hause, vielleicht erscheinst du in Jahren, vielleicht niemals wieder. Des einen aber sei eingedenk: wann du auch wiederkehrest und mit welchen Erinnerungen beladen, – Bett, Gewand und Wohnstatt warten deiner; keine Frage und kein Vorwurf wird dich kränken, und ich selbst werde dich nicht anders empfangen als an dem Abend, da du als meine junge Gattin über diese Schwelle tratest. Und nun, Dionysia, leb wohl.« Mit diesen Worten und einem letzten Blick wandte er sich ab, schritt zur Tür hin, schloß sie hinter sich ab und wandelte langsam die Treppe hinauf, nach seinem Turmgemach. Noch nicht lange stand er oben an der kleinen Fensterluke, die Augen talwärts gewandt, als er sah, wie seine Gattin in einem seltsam schwebenden Gang, den er nie an ihr gekannt hatte, über die Wiese eilte, dem nahen Walde zu, aus dessen Schatten das Flötenlied ihr entgegenklang. Bald verschwand sie unter den Bäumen, und in der nächsten Minute hörte Erasmus die Flöte verstummen.

2.

II

Der junge Hirte, der unter einem Baum liegend durch die Blätter zum Blau des Himmels emporgeblinzelt hatte, ließ die Flöte von den Lippen sinken, als er ein Rauschen in seiner Nähe vernahm. Er war nicht wenig erstaunt, da er eine junge Frau im weißen, wallenden Nachtgewand mit bloßen Füßen vor sich im Moose stehen sah. »Was willst du?« fragte er. »Warum blickst du mich so böse an? Ist es etwa nicht gestattet, hier zu früher Stunde Flöte zu blasen? Habe ich dich aus deinem Morgenschlummer erweckt? [15] So wisse, ich bin es gewohnt, mit der Sonne aufzustehen und zu blasen, wann es mir beliebt. Und dabei wird es bleiben, das glaube mir.« Mit diesen Worten schüttelte der Hirte das Haupt, so daß die Locken flogen, streckte sich wieder der Länge nach hin, blinzelte in die Höhe und setzte die Flöte an den Mund.

»Wer bist du?« fragte Dionysia bewegt.

Ärgerlich setzte der Jüngling die Flöte ab und erwiderte: »Es dürfte nicht schwer zu merken sein, daß ich ein Hirte bin.« Und er blies weiter.

»Wo ist deine Herde?« fragte Dionysia.

»Siehst du es nicht dort zwischen den Baumstämmen weiß zu uns herschimmern? In jener Lichtung weiden meine Schafe. Aber ich rate dir nicht, nahe hinzugehen, denn sie sind scheu und fliehen nach allen Windrichtungen, wenn sie Fremde in ihrer Nähe spüren.« Und wieder wollte er die Flöte an seine Lippen setzen.

»Wie kommst du in diese Gegend?« fragte Dionysia. »Ich kenne dich nicht.«

Jetzt sprang der Jüngling auf und erwiderte zornig: »Ich ziehe mit meiner Herde durch das ganze Land. Den einen Tag bin ich hier, den zweiten dort, den dritten anderswo, und daher habe ich schon allerlei erlebt. Aber das ist mir wahrlich noch nie vorgekommen, daß in aller Morgenfrühe Damen im Nachtgewand vor mir im Moose stehen und mich um Dinge fragen, die sie nichts kümmern, just wenn ich die Flöte blasen und in die junge Sonne blinzeln will.« Er maß Dionysia verächtlich vom Kopf bis zu den Füßen, setzte die Flöte an den Mund und spazierte blasend davon der schimmernden Lichtung zu. Da schämte sich Dionysia ihrer bloßen Füße und ihres Nachtgewandes, und sie wandte sich, um nach Hause zu gehen. Während aber die Töne immer ferner klangen, fuhr es ihr durch den Sinn: der freche Knabe! Ich möchte seine Flöte zerbrechen. Und es fiel ihr ein, daß sie nicht das Recht hatte nach Hause zurückzukehren, ehe sie diesem Wunsche nachgegeben, und eilends folgte sie den Flöten tönen durch den Wald. Das Geäst schlug über ihrer Stirn zusammen, die Blätter blieben ihr im offenen Haar hängen und Wurzel werk schlang sich um ihre Füße. Sie aber kehrte sich nicht daran, brach die Zweige, die ihrem Schreiten hinderlich waren, mit ihren feinen Fingern, entwand sich dem Erdgeflecht und schüttelte die Blätter aus ihrem Haar. Als sie aus dem Wald heraustrat, senkte sich die grüne Wiese vor ihr mit blauen, roten und weißen Blumen, und jenseits, wo der Wald wieder anfing, stand der Hirt mitten unter seinem [16] schimmernden Getier, und seine Locken leuchteten im Sonnenglanz. Er sah Dionysia herankommen, runzelte die Brauen und wies die Nahende mit befehlender Gebärde von dannen. Sie aber ließ sich nicht abhalten, schritt gerade auf ihn zu, nahm dem Staunenden die Flöte aus der Hand, brach sie entzwei und schleuderte ihm die Stücke vor die Füße hin. Jetzt erst schien er zur Besinnung zu kommen, packte Dionysia an den Handgelenken und wollte sie zu Boden werfen. Sie wehrte sich, stemmte sich ihm entgegen, seine Augen glühten zornig in die ihren, sein hastender Atem fauchte ihr über die Stirn. Er preßte die Lippen zusammen, sie lachte: plötzlich ließ er ihre Hände frei und umfaßte ihren Leib mit beiden Armen. Heftig wallte es in ihr auf, und sie wollte sich ihm entreißen. Aber da er sie immer mächtiger an sich heranzog, drängte sie selbst sich ihm entgegen, ermattete, sank aufs Gras und mit ungeahnter Wonne gab sie sich seinen grimmigen Küssen hin. –

Manche Tage wandelte sie nun mit dem Hirten und seiner Herde durchs freie Land. In den heißen Mittagsstunden ruhten sie im Schatten der Bäume, nachts schliefen sie auf einsam weiten Auen, Die Herde, sonst gewohnt einem Flötenspiel zu folgen, das nun für immer verstummt schien, verlief sich allmählich, und am Ende hüpfte nur mehr ein kleines Lämmchen neben dem Paare einher.

Da kam nach hundert Sonnentagen und hundert Sternennächten an einem trüben Morgen ein rauher Wind über die Wiese gesaust, auf der die Liebenden geschlafen hatten, und Dionysia erwachte schaudernd. »Wach auf,« rief sie über den Hirten hin, »erhebe dich, mich friert. Fern im Morgennebel sehe ich Häuser liegen; hier läuft der Weg hinab, gehe rasch, kaufe mir Schuhe, Kleid und Mantel.«

Der Hirte stand auf, trieb das letzte Lämmchen vor sich her, verkaufte es in der Stadt, und für den Erlös brachte er Dionysia, was sie gewünscht hatte. Als Dionysia neu gekleidet war, streckte sie sich wieder auf den Boden hin, kreuzte die Arme über ihrem Haupt und sagte: »Nun möchte ich gerne wieder einmal etwas auf der Flöte spielen hören.«

»Ich habe keine Flöte mehr,« erwiderte der Hirte. »Du hast sie mir zerbrochen.«

»Du hättest sie fester halten sollen,« erwiderte Dionysia. Dann sah sie um sich und fragte: »Wo ist denn unser silberwolliges Gefolge?«

[17] »Es hat sich verlaufen, da es mein Flötenspiel nicht mehr hörte,« antwortete der Jüngling.

»Warum hast du nicht besser achtgegeben?« fragte Dionysia.

»Ich habe mich um nichts gekümmert als dich,« erwiderte der Jüngling.

»Heute Morgen sah ich ja noch ein Lämmchen neben uns ruhn.«

»Das hab ich verkauft, um dir Schuhe, Kleid und Mantel zu bringen.«

»Wärst du mir nicht gehorsam gewesen,« sagte Dionysia ärgerlich, erhob sich und wandte sich ab.

»Wohin willst du denn?« fragte der Hirte schmerzlich erstaunt.

»Nach Hause,« erwiderte Dionysia, und sie fühlte ein leises Sehnen nach Erasmus.

»Das ist ein weiter Weg,« sagte der Hirt, »allein findest du nicht zurück, ich will dich begleiten.«

»Das könnte mir fehlen, daß ich den weiten Weg zu Fuße gehe.«

In diesem Augenblick fuhr unten auf der Landstraße ein Wagen vorüber. Dionysia rief laut und winkte mit der Hand. Aber der Kutscher kümmerte sich nicht darum, hieb auf die Pferde ein und trieb sie vorwärts. Dionysia rief noch lauter. Da neigte sich jemand aus dem Wagenfenster und wandte sich nach der Richtung, aus der die Stimme tönte. Als er der schönen Frau gewahr wurde, befahl er dem Kutscher zu halten, stieg aus dem Wagen und ging Dionysia entgegen, die die Wiese heruntereilte.

»Was willst du?« fragte er. »Warum hast du gewinkt und gerufen?«

»Ich bitte dich,« erwiderte Dionysia, »gönne mir einen Platz in deinem Wagen und führe mich in meine Heimat.« Und sie nannte ihm den Ort, wo das Haus ihres Gatten stand.

»Gern will ich deinen Wunsch erfüllen, wunderschöne Frau,« erwiderte der Fremde, »aber es ist weit in deine Heimat, und da ich eben erst von einer Reise heimkehre, muß ich auf einen Tag nach Hause, um nach meinen Geschäften zu sehen. Doch sollst du mir in meinen Räumen willkommen sein, und ehe du dich auf die Heimreise begibst, dürfte ein Tag und eine Nacht der Ruhe dich wohl erquicken.«

Dionysia war es zufrieden, der Reisende öffnete höflich den Wagenschlag, ließ die junge Frau einsteigen, die sich in die Ecke lehnte, ohne sich noch einmal umzuwenden und nahm an ihrer Seite Platz. Die Kutsche setzte sich in Bewegung. Sie fuhr zuerst [18] auf der Landstraße zwischen grünem Gelände, dann zwischen kleinen wohlgehaltenen Häusern weiter.

»Wo sind wir?« fragte Dionysia.

»Was du hier siehst,« erwiderte der Fremde, »ist alles mein. Ich baue Maschinen für das ganze Land, und in den Dörfern, durch die wir fahren, wohnen die Arbeitsleute, die mir dienen.« Während er diese Worte sprach, betrachtete Dionysia ihn aufmerksamer, und sie sah, daß seine schmalen Lippen von verhaltener Kraft schwollen und seine hellen Augen stolz und wie unerbittlich vor sich hinblickten.

Mit Anbruch der Nacht hielt die Kutsche vor einem schloßartigen Gebäude. Das Tor öffnete sich. Eine marmorweiße Halle strahlte von vielen Lichtern wider. Auf den Ruf ihres Herrn erschien das Mädchen, geleitete Dionysia in ein behaglich ausgestattetes Gemach, war ihr beim Auskleiden behilflich und wies ihr dann den anstoßenden kristallblauen Raum, wo ein Bad bereitet war, in dessen laue Fluten Dionysia mit Behagen tauchte. Nachher erschien das Mädchen wieder und fragte Dionysia, ob sie allein oder in Gesellschaft des Herrn zu speisen wünsche. Dionysia erklärte, heute für sich bleiben zu wollen, denn schon wußte sie, daß sie lange genug hier verweilen würde, um ihren Gastgeber so nahe kennen zu lernen, als es sie gelüstete. –

3.

III

Es war Herbst gewesen, da Dionysia in das Schloß gekommen war; das Frühjahr nahte, und noch weilte sie, doch längst nicht mehr als Gast, sondern als Gefährtin des Hausherrn, und als Herrin des Hauses. Von ihrem Balkon aus war der Blick frei auf weites hügeliges Land. Aus fernen Talmulden ragten Schlote auf, der Wind brachte das Geräusch von Räderschnurren und Hämmerschlag, und an dunklen Abenden verglühten über den Rauchfängen hastige Funken in den Lüften. Nah ans Schloß gerückt, eng aneinander gedrängt und von ärmlichen Gärtchen umgeben, standen Wohnhäuser in langen Reihen, aber ein dichter Wald hielt auch die nächsten vom Schlosse ab. Hinter den letzten Maschinenhäusern strebte Ackerland hügelaufwärts und senkte sich wieder nach unsichtbaren Ebenen, doch verrieten ferne Rauchsäulen, daß auch jenseits der Hügel ein Bezirk der Arbeit sich dehnte. Das Schloß selbst stand in einem Park, der [19] sich so weithin streckte, daß Dionysia, die sich täglich darin zu ergehen pflegte, noch in den letzten Wintertagen ihr unbekannt gebliebene Stellen entdeckte. Zuweilen um die Mittagsstunde oder des Abends begleitete sie auf ihren Spaziergängen der Gutsherr, und sie erfuhr von ihm, daß noch vor kaum zwei Jahrzehnten dieser Park eine Art von Urwald gewesen, daß an der Stelle des Schlosses ein kleines Haus gestanden und daß unten, wo jetzt hundert Schlote rauchten, unter Bauernhütten eine einzige arme Schmiede Arbeit verrichtet hatte. Aber alles, was seither ringsum entstanden war, sollte nicht mehr zu bedeuten haben als den Anfang größeren Werkes. Schon rührte es sich an den Gemarken des freien Hügellandes, sumpfige Stellen wurden trocken gelegt, Bächen wurde durch Wehr und Damm Widerstand und neue Kraft gegeben, Wälder wurden ausgeholzt, im nächsten Sommer sollte eine Riesenhalle fertig stehen, um die Modelle aller Maschinen aufzubewahren, die jemals von hier in die Welt gegangen waren und noch gehen sollten.

Oft erschienen Gäste auf dem Schloß; Erfinder, Baumeister, Abgesandte des Fürsten, Bevollmächtigte fremder Staaten. Einige schieden befriedigt und leichtgemut, andere unlustig und betroffen. Des Gutsherrn Wort aber schien stets von gleichem Ernst und Gewicht, und immer fühlte Dionysia, daß keiner der Gäste einen Vorteil über ihn zu gewinnen vermocht hatte, daß er klüger und stärker gewesen war als die andern alle.

Manchmal durfte sie selbst an seiner Seite zwischen glühenden Hämmern und schnurrenden Rädern, schlürfenden Seilen und brausenden Röhren einhergehen. Auch die Kanzleiräume blieben ihr nicht fremd, wo Zeichnungen und Entwürfe auflagen, Briefe empfangen und abgesandt und die Bücher des Hauses geführt wurden. Mit jedem Schreiber und jedem Arbeiter schien der Gutsherr sich zu beraten, überall war er Lehrer und Lernender zugleich; aber aus welcher Türe er auch trat, stets wußte er sicherer Bescheid darüber, was in dem eben verlassenen Raum gedacht und geschaffen wurde, als diejenigen, die ihre ganzen Tage dort verbrachten. An manchen Abenden ließen Künstler des Gesangs und verschiedener Instrumente sich hören, ja eine vorzügliche Schauspielgesellschaft gab etliche Male im Schloß ihre Vorstellungen, zu der aus der Umgebung und auch aus dem weiteren Umkreis sich Zuschauer einfanden. So war dafür gesorgt, daß keine Stunde für Dionysia auch nur von der Ahnung einer möglichen Leere durchweht war, und doch blieb ihr das [20] Recht der Einsamkeit durchaus gewahrt. Der Gutsherr selbst versäumte es nie anzufragen, ob seine Gesellschaft erwünscht sei, und wenn es Dionysia gefiel, sich allein auf Spaziergänge zu begeben, so bedurfte es nur eines Winks, um jede Begleitung von ihrer Seite zu weisen.

Einmal zu Sommerbeginn, als sie durch ein Dörfchen spazierte, das, wiewohl drei Stunden entfernt, noch immer den Ländereien des Gutsherrn zugerechnet wurde, lief ihr ein blasses kleines Mädchen entgegen und flehte mit ausgestreckten Händen um einen Bissen Brot. Dionysia, befremdet, schüttelte den Kopf und war geneigt, das Kind für ein vorlaut bettelhaftes Geschöpf anzusehen, an denen es am Ende auch hier nicht mangeln mochte; da machte ein traurig ängstlicher Blick aus den Augen des Mädchens sie nachdenklich, und sie beschloß im Hause selbst Nachschau zu halten. Eine nicht mehr junge Frau stand im Vorraum, ein Kind auf dem Arm, zwei andere spielten auf dem Fußboden mit Holzstückchen und Obstkernen. Auf Dionysias Frage erwiderte die Frau, daß jene bettelnde Kleine heute nichts anderes genossen hätte, als ein halbes Gläschen Milch; ohne weitere Fragen abzuwarten, ließ sie ihren Klagen freien Lauf, und so erfuhr Dionysia, daß hier im Ort zumindest innerhalb der mit Kindern gesegneten Familien Mangel und Sorge zu Hause wären. Dionysia, höchst betroffen, ließ all ihr Geld zurück und eilte nach Hause, um den Geliebten von diesen Zuständen in Kenntnis zu setzen, an denen ihrer Überzeugung nach nur Untreue und böser Wille untergeordneter Beamten Schuld tragen konnten. Der Gutsherr klärte sie auf, daß selbst innerhalb der einfachsten, scheinbar gleichmäßigsten Verhältnisse das Schicksal der einzelnen je nach persönlichen Eigenschaften und allerlei Zufälligkeiten sich höchst verschieden zu gestalten pflegte, und riet ihr, sich um dergleichen Dinge fernerhin nicht zu kümmern. Sie erklärte sich außerstande diesem Rat zu folgen, vielmehr erbat sie die Erlaubnis, auf ihre Art und soweit ihre Kräfte reichten, die Mißstände, unter denen ja nicht die Schuldigen allein litten, aufheben oder wenigstens verbessern zu dürfen. Der Gutsherr hatte nichts dagegen, daß sie die Summen, die ihr reichlich zur Verfügung standen, nach Gutdünken verwendete, und erhob auch keinerlei Einspruch gegen die Nachforschungen und Wanderungen, die sie schon vom nächsten Tage an zu unternehmen begann. Bald gewahrte sie, daß mehr zu helfen not tat, als sie je geahnt hätte und daß auch dort, wo die Gegenwart keine Sorgen zu bergen schien, eine [21] düstere und Ungewisse Zukunft herandrohte. Wo aber die Leute sich leidlich benagten, dort war es gerade die unbewußte Hoffnungslosigkeit ihres Daseins, die Dionysia mit Verwunderung und Kummer erfüllte. Es kam endlich dahin, daß sie ihren eigenen Überfluß wie ein Unrecht an jenen empfand, denen selbst das Notwendige versagt war, und wenn sie auch hier und dort von einem Tag auf den andern ein Schicksal günstiger zu gestalten imstande war, sie begriff bald, daß sie die Ordnung des Staates, ja die Gesetze der Welt hätte ändern müssen, um vollkommen nur für die Dauer zu helfen. Kummervoll stellte sie ihre Wanderungen ein, und weder die Vergnügungen der Geselligkeit, die ihr zahlreicher und lebhafter geboten waren als je, noch die Zärtlichkeiten ihres Geliebten konnten ihre Schwermut besiegen.

Zu dieser Zeit meldeten Gerüchte eine wachsende Unzufriedenheit der arbeitenden Bevölkerung, und der Gutsherr, ohne ein Wort des Vorwurfs, verhehlte Dionysia nicht, daß gerade sie an solcher in dieser Gegend bisher nicht erhörten Bewegung nicht minder durch ihre früher geübte Wohltätigkeit als durch deren unerwartete Einstellung mitschuldig sein mochte. Abgesandte erschienen im Schlosse, Erhöhung der Löhne und Herabsetzung der Arbeitszeit zu fordern; und einiges, im Verhältnis wachsenden eigenen Wohlstandes vermochte der Gutsherr zu gewähren. Eine Beruhigung trat ein, die nicht lange anhielt. Neue, immer lebhaftere Forderungen wurden erhoben, denen Erfüllung versagt werden mußte. Die Unruhe stieg an, wandte sich in Erbitterung, in einzelnen Gebieten wurde die Arbeit unterlassen, bald zwangen die Aufständischen auch dort dazu, wo man bisher noch weiter geschafft hatte; es kam zu Gewalttätigkeiten, der Gutsherr sah sich genötigt, die Regierung um Unterstützung anzugehen, Soldaten rückten herbei, der Grimm stieg, und Kämpfe erfolgten, mit Opfern auf beiden Seiten. Bald aber war der Sieg der Staatsgewalt völlig erklärt, einige Führer der Bewegung wurden ins Gefängnis geworfen, andere entlassen, neue Arbeitskräfte, die von überall zuzogen, aufgenommen, und es dauerte nicht lange, so rollten die Räder, rauchten die Schlote und keuchten die Maschinen rings im Gelände wie zuvor.

In jenen schweren Zeiten hatte Dionysia sich stille verhalten. Sie bangte um den Gutsherrn, der stets im Bannkreis der höchsten Gefahr zu finden war, zugleich aber jammerte sie das Los der Schwachen, deren Auflehnung sie besser zu begreifen vermeinte, als irgendwer. Wie immer die Entscheidung fallen sollte, Dionysia [22] sah vorher, daß sie ihr keine Beruhigung bringen konnte; und am Tage der Entscheidung, da der Geliebte als Sieger in sein Schloß zurückgekehrt war, traf er Dionysia nicht mehr an. Arm und frei, wie sie gekommen, hatte sie den Weg nach der Heimat angetreten in der festen Meinung, daß nun keine Lockung mehr ihrer harren könnte.

4.

IV

Die Bewegung, die an dem Orte, dem Dionysia den Rücken wandte, niedergeworfen schien, war nach anderen, näheren und ferneren, um so entschiedener weitergerückt, ergriff immer neue Kreise, verbreitete sich durch das ganze Land, so daß bald nicht nur die Arbeiter gegen die Fabrikherren, sondern auch die Armen gegen die Begüterten, die Abhängigen gegen die Freien, die Bürger gegen den Adel in Aufruhr standen. So geschah es, daß Dionysia schon am dritten Tag ihrer Wanderung in eine Art von Feldlager geriet, unter eine Rotte von Männern, Frauen, Halberwachsenen, Kindern, die zum Teil mit den sonderbarsten Waffen versehen waren. Man hielt die wohlgekleidete Reisende an; sie erklärte, daß sie auf dem Weg nach ihrer Heimat begriffen sei, und, wie sie leicht beweisen konnte, nicht mehr Geldes bei sich trug, als für die notwendigsten Bedürfnisse eben ausreichte. Ein älterer Mann, der sich ihrer gleich gegen die unziemlichen Spaße der Jüngeren angenommen, gab ihr zu bedenken, daß die Straßen unsicher wären, und sie am Ende froh sein müßte, gerade hier angehalten worden zu sein, wo trotz aller erlittenen Unbill die Sehnsucht nach Rache noch nicht in blindwütige Zerstörungs- und Mordlust ausgeartet wäre. Er riet ihr, vorläufig hier Rast zu halten, wo man sie bis auf weiteres jeden Schutzes versichern wollte, statt eine Reise fortzusetzen, auf der ihr, als einer allein wandernden schönen jungen Frau nicht allein die Gefahr des Todes drohen mochte. Dionysia gehorchte dem Rat um so williger, als sie unschwer vorhersehen konnte, wie übel man einen Widerstand aufnehmen würde, und merkte bald, daß sie sich wohl unter entschlossenen, doch nicht unbesonnenen Menschen befand. Es waren Bergleute, die ihr Leben bis vor wenigen Tagen in der Düsternis und dem Todesatem ungeheurer Gruben verbracht hatten, und die ganze nachtgewohnte Schar, als hätte das Licht des Himmels ihr Blut und Sinne berauscht, war der kühnsten Hoffnungen voll. Sie rechneten alle auf die Niederlage der[23] Mächtigen, denen sie bisher Frondienst geleistet, auf die Einsicht und Bundesbrüderschaft der Vernünftigen und auf das Erstehen eines Reichs der Gleichheit und Gerechtigkeit. Dionysia aber, als fühlte sie sich durch höhere Fügung an den ihr angemessenen Ort gestellt, gab sich als Gleichgesinnte zu erkennen und erklärte sich bereit, mit ihren neuen Gefährten zu tragen, was diesen bestimmt sein mochte, Sieg oder Untergang.

Die erste Nacht schlief sie unbehelligt in dem abgeschiedenen Lager der Frauen und Kinder. Am nächsten Tag hielten die Männer Beratung ab; und bald schwirrte es rings von Widerspruch und Streit. Die einen hielten es für das klügste, mit den zagewordenen Behörden in Unterhandlungen einzutreten, andere, ungeduldig, schlugen vor, ohne weiteren Aufschub in die nächste Stadt nach Feindesart einzubrechen. Am Ende wurde beschlossen, Leute nach benachbarten aufständischen Gruppen auszusenden, um vorerst zu erfahren, wie da und dort die Dinge stünden. Die Boten gingen, keiner von ihnen kam abends wieder, keiner am nächsten Morgen. Die Zurückgebliebenen ahnten Schlimmes. Zu Mittag setzte sich der ganze Haufe in Bewegung, Männer, Frauen und Kinder. Am Horizont erschienen Rauchsäulen und roter Feuerschein. Man durchwanderte eine weite, kahle Ebene, wo es an Wasser und Nahrung mangelte. Man zog durch armselige, beinahe menschenleere Dörfer, brach in Keller und Gehöfte ein, wo Weine und Eßwaren, freilich nicht in ausreichendem Maße, erbeutet wurden. Durstige fielen über Berauschte, Hungrige über Gesättigte her. Die Ordnung war aufgelöst, Frauen und Männer lagerten in der Nacht durcheinander. Ein junger, hagerer Mensch, der sich Dionysia schon auf der Wanderung angeschlossen hatte, näherte sich ihr, zog sie mit sich, und im Gebüsch umschlang er sie mit gierigen Armen. Sie gehörte ihm diese eine Nacht, am Morgen darauf kannte er sie nicht mehr, und auch er verschwand für sie als ein Gleichgültiger in der Menge. Die Wanderung ging weiter, an rauchigen Gehöften und niedergebrannten Dörfern vorbei, durch ausgestorbenes und verwüstetes Land. Endlich machte die Schar Halt vor den dunklen schweigenden Mauern einer Stadt mit verschlossenen Toren. Niemand wußte, was der morgige Tag bringen konnte; Himmel und Erde hüllten sich in Geheimnis; keine Fackel wurde entzündet, Schweigen lastete über der dunklen Menge. Plötzlich aus der Finsternis tönte ein schrilles Lachen, als gälte es, das Furchtbare zu durchbrechen, das nicht länger zu ertragen war. Dem Lachen folgte[24] ein wütender Schrei, dem Schrei ersticktes Stöhnen, wehes Heulen und wieder Gelächter. Männer und Frauen hatten sich durcheinander, aneinander gedrängt, jeder nahm, die ihm am nächsten war, keine leistete Widerstand; denn alle wußten mit einem Mal, daß morgen alles zu Ende war. Dionysia wurde von einer ungeheuren Angst erfaßt. Es gelang ihr, zwischen gierig greifenden Händen, heißtrockenen Atemzügen immer weiter hindurchzufliehen und endlich zu entkommen. Die ganze Nacht kauerte sie, in ihren zerrissenen Mantel gehüllt, im Schatten eines Mauervorsprungs, wo das Stöhnen und Schreien und Lachen nur heiser und verhallend zu ihr drang. Plötzlich, im ersten Morgengrauen, sprangen die Tore der Stadt auf. Bewaffnete stürmten hervor, fielen über die Ermatteten, Verwüsteten, Schlaftrunkenen, über Männer und Weiber her, hieben sie zusammen und jagten, was je nach Laune ihr Mordstahl verschonte, in die Stadt hinein. Dionysia war unter diesen; und schon bei Sonnenaufgang lag sie mit Hunderten anderer Frauen in einem Festungshof hinter zugeschmettertem Tor. Das Fieber schüttelte sie, sie verfiel in wüste, unfaßbare Träume, endlich verließen sie die Sinne.

5.

V

In einem weißen geräumigen Zimmer erwachte sie. Eine Wartefrau saß ihr zu Häupten, von ihr erfuhr sie, daß sie aus dem Gefängnis hierher gebracht worden und viele Tage ohne Bewußtsein gelegen sei. Zugleich hörte sie, daß der Aufruhr im Lande niedergeworfen war, daß viele der Schuldigen im Kerker schmachteten und einige hingerichtet worden waren. Und endlich erzählte ihr die Wärterin, daß ein junger gräflicher Offizier für sie die Haftung übernommen hätte, da es ihm nach ihrem ganzen Aussehen zweifellos erschienen, daß sie unverschuldet und nur durch eine sonderbare Fügung unter die Aufständischen und Gefangenen geraten war; und mit bedeutungsvollem Lächeln fügte die Wärterin hinzu, daß der Graf täglich käme, sich nach ihr zu erkundigen, oft lange Zeit an ihrem Bett verweilt und sie bewegt betrachtet hätte. Ein alter Arzt trat ins Krankenzimmer, zeigte sich nicht sonderlich erstaunt, Dionysia bei Bewußtsein zu finden, da er diesen Umschwung für den heutigen Tag erwartet hätte, nahm eine Untersuchung der Leidenden vor, vermied mit deutlicher Absicht jede Frage nach Dionysias Herkunft und [25] Schicksal und stellte baldige vollkommene Genesung in Aussicht. Dann erhob er sich, verabschiedete sich mit auffallender Höflichkeit und traf am Ausgang mit einem jungen Mann in glänzender Uniform zusammen, dem er freundlich, aber bestimmt, den Eintritt zu verweigern schien, worauf sich hinter beiden die Türe schloß. Doch hatte Dionysia Zeit genug gehabt, einen lebhaften Blick aus hellen Mannesaugen aufzufangen, und sie erinnerte sich wie aus einem Traum, daß diese selben Augen auf ihr geruht hatten, als sie fiebernd und sinnverlassen zwischen ragenden Lanzen durch hallende Straßen in das Gefängnis geführt worden war.

Von Tag zu Tag fühlte sie sich kräftiger werden; allmählich stellte sich auch wieder die Klarheit des Denkens ein, und noch immer sah sie niemanden, außer der Wärterin und dem Arzt, der in einer gewissen vertraulichen Weise auf geheime Freunde anspielte, die an dem Geschick der Kranken wärmsten Anteil nähmen, denen aber gerade in diesen Tagen der fortschreitenden Genesung der Zutritt strenge verwehrt sein müßte. Dionysia hörte all dies mit Gleichgültigkeit an. Sie war entschlossen, sobald sie sich völlig gesund fühlte, die so schlimm unterbrochene Reise nach ihrer Heimat fortzusetzen, vor ihren Gatten hinzutreten, ihm ihre Schicksale zu berichten und ihn zu fragen, ob er sie, seines Wortes eingedenk, trotz allem, was ihr widerfahren, in seinem Hause wieder aufnehmen wollte. Doch fühlte sie auf dem Grunde dieses Vorsatzes mehr Neugier als Sehnsucht, und ein Wiedersehen mit Erasmus lockte sie wie ein neues Abenteuer, nicht als der Abschluß ihres wechselvollen Wanderlebens.

Am Morgen, da sie sich zum erstenmal aus dem Bett erhoben hatte, von dem Balkon ihres Krankenzimmers in ein Gärtchen hinuntersah, und ihre Blicke weiter hinaus über die zerstampften und erstickten Felder schweifen ließ, trat der junge Graf bei ihr ein und entschuldigte sich vor allem wegen der Verfügungen, die er wohl in bester Absicht, doch ohne jede Ermächtigung zu treffen sich erlaubt hätte. Dionysia dankte ihm lebhaft, doch ohne Verwunderung und erklärte nur so vieler Freundlichkeit gegenüber sich zur Mitteilung verpflichtet zu fühlen, wem man sie erwiesen. Aber einer plötzlichen Eingebung folgend, nannte sie einen Namen als den ihren, den sie nie geführt, als Wohnort eine kleine Stadt, in der sie nie geweilt, und teilte ihrem Gatten einen Beruf zu, den jener niemals ausgeübt hatte. Mit einer ihr selbst erstaunlichen und neuen Freude am Lügen, die sie im Anhören [26] ihrer eigenen Worte wachsen fühlte, erzählte sie, wie sie auf dem Gut von Freunden zu Gast gewesen und auf der Rückreise von einer aufrührerischen Horde aus dem Wagen gerissen und beraubt, ihr Leben nur hätte retten können, indem sie sich als geheime Anhängerin der Aufständischen bekannte; wie sie nun tagelang mit jenen fürchterlichen Menschen in der Irre umher gezogen wäre und endlich unschuldig und gezwungen deren Schicksal hätte teilen müssen. Nun aber war es an der Zeit heimzukehren, und so müßte ihr Dank zu gleicher Zeit ihren Abschied bedeuten. Der junge Graf war betrübt, doch schien er in seine zurückhaltende Rolle so eingewöhnt oder von Natur so schüchtern, daß er keinen Widerspruch versuchte und sich nur als letzte Erlaubnis erbat, Dionysia einen guten Wagen für die Reise zu besorgen. Sie wiederum, so sehr sie sich auch sehnte von der dunklen und bebenden Stimme des Grafen zärtlichere Worte zu vernehmen, fand soviel Vergnügen an ihrer ihr selbst neuen Verstellungskunst, daß sie wie in überströmender Dankbarkeit des Grafen Hand ergriff und ihn mit Augen anblickte, die sie, wie sie mit Befriedigung merkte, je nach Willen in feuchtem Glänze aufleuchten oder trüb konnte verlöschen lassen. Gleich nachdem der Graf sich entfernt hatte, traf sie Anstalten zur Abreise. Der Arzt kam, schien über ihr Beginnen unwillig und versicherte, keinerlei Bürgschaft übernehmen zu können, ob sie nicht etwa die Reise gleich würde unterbrechen und dann in irgendeinem schlechten Wirtshaus tage-und nächtelang krank liegen müssen. Dionysia, wohl merkend, daß der Arzt mit dem jungen Grafen im Einverständnis handelte, spielte zuerst die Widerstrebende, dann die Zögernde und versprach am Ende seufzend, sich Anordnungen zu fügen, deren vernünftiger Begründung sie sich nicht verschließen könnte. Am Abend kam der junge Graf wieder und schlug Dionysia vor, da die Abreise nun doch einmal hinausgeschoben wäre, sie möge bis zum Eintritt ihrer vollkommenen Genesung ein bescheidenes ihm gehöriges in frischer Waldluft gelegenes Jagdhäuschen bewohnen. Eine Dame vom besten Ruf werde ihr als Gesellschafterin zur Seite gegeben werden, um jede üble Nachrede von Anbeginn auszuschließen. Dionysia entgegnete, daß sie selbst sich Sicherheit und Bürgschaft bedeute, erklärte aber, die Einladung des Grafen nur dann annehmen zu dürfen, wenn er sich verpflichtete, das Jagdhaus während der Dauer ihres Aufenthaltes überhaupt nicht zu besuchen. Er neigte das Haupt tief wie zum Zeichen völliger Unterwerfung, sie aber [27] hielt sich in diesem Augenblick nur mit Mühe zurück, die Arme nach ihm auszustrecken und ihn an ihre Brust zu ziehen.

Am nächsten Morgen bezog sie das Jagdhaus, das einfach und wohlgehalten zwei Stunden von der Stadt entfernt in laubdunkler Einsamkeit dalag. Ein hübsches Bauernmädchen war zu Dionysias Empfang und weiterer Bedienung anwesend und verhielt sich still und gefällig. Die Speisen waren wohlschmeckend und trefflich bereitet, das Bett köstlich und weich. Auf den gut gehaltenen Wegen unter hohen kühlen Wipfeln erging sich Dionysia ungestört wie in einem abgeschlossenen Park. Oft lag sie stundenlang auf freiem Wiesenplatz, die Arme unter dem Haupt verkreuzt, die halbgeschlossenen Augen im schwindenden Blau des Himmels verloren. Schmetterlinge, vorüberflatternd, berührten ihre Stirn, der kühle Atem des Waldes strich über ihre Lider und Haare hin, und aller Lärm der Welt verklang in fernen Gründen.

Eines Morgens, da Dionysia das Haus verlassen wollte, zogen schwere Wolken auf und blieben dunkel schweigend über den Wipfeln hängen. Dionysia ging in den niedern Zimmern hin und wieder, spazierte vor der Tür auf und ab, und eine wehe Beklommenheit stieg in ihrer Seele auf. Zu Mittag rührte sie die Speisen nicht an, das Mädchen fand sie am gedeckten Tisch in Tränen, erhielt auf seine Fragen keine Antwort; und erschrocken sandte es in die Stadt nach dem Grafen, der ihm die Obhut über die schöne Frau anvertraut hatte. Am späten Abend, während ein schwül hingezögertes Gewitter mit Hagel, Donner und Blitz endlich niederging, trat so unerwartet als ersehnt der junge Graf ins Zimmer, und sein Glück war ohne Maß, als Dionysia, die er als eine Verstörte oder neuerdings Erkrankte zu finden gefürchtet, mit glanzhellen Augen und jauchzender Begrüßung an seine Brust stürzte.

Doch noch im Dämmer derselben Nacht, in der sie sich ihm gegeben, versicherte ihm Dionysia, daß diese erste zugleich die letzte bedeuten müsse. Der Graf in der rasch erwachten eifersüchtigen Neugier des Besitzenden drang auf Erklärung. Dionysia darauf in einem unbezwinglichen Drang, den Geliebten zu quälen, gab vor, ihr sei mit einem Male, als hätte sie in jener furchtbaren Nacht vor den Toren der ummauerten Stadt, schon vom dumpfen Fieber befallen, mit Schaudern, aber wehrlos, nicht einem, sondern vielen ihrer wilden Gefährten angehört; ließ aber zugleich die Möglichkeit bestehen, daß all dies nur ein grauenhafter [28] Traum gewesen sein mochte, der nun in der Erinnerung wie eine unerträgliche Wahrheit sie bedrücke. Der junge Graf fiel in Verzweiflung, von der tiefsten Verzweiflung in neue Lust, von der höchsten Lust in tolle Raserei, schwur, die Geliebte auf der Stelle zu töten, und flehte sie am Ende doch an, ihn nur nicht zu verlassen, da ein Dasein ohne ihren Besitz ihm von dieser Stunde an nutzlos und elend dünkte.

Dionysia blieb. Und bald war ihre Seele dem Grafen so völlig hingegeben, daß sie all ihrer Lügen sich zu schämen, ja unter ihnen zu leiden begann und endlich den Wunsch in sich aufsteigen fühlte, dem Geliebten die wahre Geschichte ihres Lebens mitzuteilen, was sie nun aber wieder, in Angst durch dieses späte Geständnis neues Mißtrauen zu erwecken, von einem Tag zum andern hinausschob.

Da erschien an einem regenschweren Herbsttag ein reitender Bote mit der Kunde, daß an der Landesgrenze eine längst erwartete Bewegung des Nachbarheeres immer drohender sich ankündigte, und wies einen Befehl vor, demgemäß der Graf sich innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden an die Spitze seines Regiments zu stellen hätte. Sobald der Bote wieder davon gesprengt war, erklärte Dionysia dem Geliebten, daß sie in keinem Fall von seiner Seite weichen werde und unwiderruflich gesonnen sei, in Männerkleidung mit ihm in den Krieg zu ziehen. Der junge Graf, ergriffen und beglückt, versuchte Dionysia zuerst die Unmöglichkeit eines solchen Beginnens vor Augen zu stellen; doch als sie ihm zuschwor, daß sie schlimmstenfalls auch gegen seinen Willen, ja im Troß des Heeres ihm und seinem Schicksal zu folgen entschlossen sei, verließ er noch am gleichen Tage mit ihr das Jagdhaus, begab sich mit ihr in die Stadt, erbat eine Audienz beim Fürsten und trug diesem, ihm seit jeher wohlgewogenen Herrn ehrerbietig den Fall zur Entscheidung vor. Der Fürst, selbst einer jungen und edlen Frau vermählt, seinem Wesen nach so leicht erzürnt als begeistert und von jeder Art von Seltsamkeit rasch gefangen, fand in so unruhigen Zeitläuften gegen die Ausführung eines wohl abenteuerlichen, doch heldenhaften Planes nichts einzuwenden, und so geschah es, daß am nächsten Morgen Dionysia in kriegerischer Gewandung, aber nicht unerkannt, vielmehr mit Hochachtung und Teilnahme angesehen, an ihres Geliebten Seite aus dem Tor der Stadt durch das aufgeregte Land an die Grenze und dort früher als sie geahnt mitten in ein Gefecht sprengte, das, von ihren Sinnen kaum begriffen, wie eine [29] zerrissene rote Wolke um ihre weiße Stirn und ihren leuchtenden Degen trieb.

Der Krieg nahm seinen blutig-wechselvollen Gang. Dionysia zog an ihres Geliebten Seite weiter in die feindlichen Gauen, ruhte auf verwüsteter und verbrannter Erde, wurde von Trompeten in die Schlacht gerufen, sah Getroffene neben sich zu Boden sinken und lag selbst mit einer Schläfenwunde durch manche Tage und Nächte unter Stöhnenden und Sterbenden in einem wankenden Barackenbau. Sie genas; fand den Geliebten, von dem sie ohne jede Nachricht geblieben war, am Vorabend eines entscheidungsvollen Tags, mit kaum verheilten Wunden gleich ihr, doch schon zu neuen Wagnissen gerüstet, an der Spitze seiner zusammengeschmolzenen Truppen wieder, ritt im Morgengrauen an seiner Seite ins feindliche Gewühl, hatte gleichen Anteil mit ihm an Gefahr und Ehre und trug eine mit ihm gemeinsam erbeutete Fahne in das siegreiche Lager heim. In der Nacht, die diesem Tage folgte und die dunkel und schwül war unter der doppelten Finsternis eines Sternenlosen Himmels und eines faltenschweren Zelts, schlief Dionysia zum ersten Male wieder seit Beginn des Kriegs an der Seite des jungen Grafen als sein Weib; am Morgen aber traten sie beide als Kampfgefährten ins Freie, begrüßt von den siegesfrohen Stimmen ihrer Kameraden. Beruhigter Sonnenglanz lag über der Ebene, und draußen im Feld, inmitten wehender Helmbusche und funkelnder Degenspitzen, ahnte man des Fürsten leuchtende Nähe. Da mit einem Male statt der erwarteten Friedensbotschaft tönten die wohlbekannten Zeichen nahenden Angriffs. Hinter einem geringen Hügel stiegen Staubwolken auf, rückten näher, Hörner und Pfeifen klangen, und auf schwarzen Rossen stürmte eine Schar toller Reiter heran. Die so unvermutet Angegriffenen waren rasch zu heftiger Verteidigung bereit, doch zeigte sich bald, daß ihnen nur ein kleiner Trupp tollkühner Jünglinge entgegenstand, entschlossen, statt einen schimpflichen Frieden anzunehmen, ein letztes Mal für ungeheuren Gewinn ihr Leben einzusetzen. Doch da ihre Genossen hinter ihnen zögerten, waren sie nach kurzer Frist umzingelt und bis auf den letzten Mann niedergehauen. Aber nicht wohlfeil hatten sie ihr Dasein dahingegeben: unter denjenigen, die ihr verzweifelter Ansturm zu Boden geworfen hatte, lag auch der junge Graf. Dionysia bettete sein wundes Haupt auf ihre Knie; und während sein letztes Blut über ihre regungslosen Finger floß, winkten die weißen Fahnen rings auf den Höhen, Trompetenstöße kündeten die Einstellung [30] der Feindseligkeiten, und als des Geliebten Augen brachen, schallte an Dionysias Ohr die jauchzende Kunde des endlich errungenen Friedens. In ihrer Nähe aber dämpfte auch der lauteste und froheste Jubel sich ab. Immer weiter von ihr wich der Kreis der Frohen und Glücklichen. Selbst der Fürst, der zur Mittagszeit herbeigeritten kam, grüßte nur aus achtungsvoller Entfernung die Regungslose, die in kriegerischer Rüstung dasaß, doch ohne Helm, und mit gelöstem Haar, das über ihres toten Geliebten Antlitz dahinfloß, wie ein blau-schwarzes Leichentuch. Erst als der Abend gekommen war, erhob sie sich, faßte den teuern Leichnam um den Leib, und mit übermenschlicher Kraft band sie ihn in seiner vollen Rüstung auf den Sattel seines Rosses fest. Dann bestieg sie das ihre, spornte es an; das andere, im Sattel seinen toten Herrn, blieb nach alter Gewohnheit ihr zur Seite; und so ritt das seltsame Paar stumm und abseits, von den heimwärtsziehenden Kriegsscharen, denen es vorbeisprengte, mit staunendem Grauen betrachtet, durch das besiegte Feindesland der Heimat zu. Als Dionysia aber der Stadttürme ansichtig ward, nahm sie den wohlbekannten Seitenweg zu dem kleinen Jagdhaus, das mit offener Tür, doch ganz verlassen, ihrer zu warten schien; dort schwang sie sich vom Pferd, löste den toten Gefährten vom Sattel, bereitete ein Grab, bettete den Geliebten darein mit Degen, Panzer und Helm und schaufelte die Erde über dem Leichnam wieder zu. Erst als sie diese Arbeit getan hatte, legte sie ihre Rüstung ab und sank in einen tiefen langen Schlaf von drei Tagen und drei Nächten. Als sie erwachte, stand die Mutter des jungen Grafen ihr zu Häupten, tränenlos, und küßte die Hände, die ihres Sohnes Grab gegraben.

6.

VI

Der Herbst stürmte dahin, der Winter glitt vorbei. Dionysia wußte, daß seit jener Nacht vor dem letzten Kampf in ihrem Schoß ein neues Wesen keimte; und so fühlte sie sich dem hingeschiedenen Geliebten wie dem Leben selbst neu und hoffnungsreich verbunden.

Im Frühling brachte sie einen Knaben zur Welt, und da er zum erstenmal an ihrer Brust trank, zog auch das erste Lächeln über Dionysias Antlitz. Reiche Geschenke von des Grafen Mutter, von anderen Anverwandten, ja vom Fürsten selbst, wurden dem[31] Söhnlein des Helden in die Wiege gelegt. Als Dionysia das Bett verließ, war ihr, als müßte sie sich zum erstenmal wieder in Weiß kleiden; und in hellen, leicht bewegten Falten, wie das duftige Gewand, fühlte sie auch den lauen, blütenschweren Tag um sich fließen. Über ihrem jungen Haupt, das schon so viel Erinnertes und so viel Vergessenes barg, hing von Zukunft schwer ein neuer lebensblauer Frühling. Noch warf sie sich nicht selbst in den Strom des Daseins, doch ließ sie es zu, daß er bis an ihre Füße heranrauschte. Ein Fest, das das Volk des Landes feierte, zog sich in ihre Nähe. Mit Anteil betrachtete sie einen Reigentanz, der auf der Waldwiese statthatte. Der Heldenwitwe, die selbst eine Heldin war, hielt man sich anfangs in Ehrfurcht fern. Bald aber nahm sie Huldigungen entgegen, die ihr von der begeisterten Jugend des Landes dargebracht wurden, und selbst das geheimnisvoll Unaufgeklärte ihrer Herkunft lag wie ein goldener Glanz über ihrer gepriesenen Stirn.

Zu Beginn des Winters bezog sie das Schloß des verstorbenen Grafen, das als ihr natürliches Eigentum angesehen wurde. Dort waltete sie, anfangs nur mütterlichen Pflichten hingegeben, zurückgezogen und still. Endlich aber öffneten sich die Türen, zuerst nur für die gräfliche Verwandtschaft, später auch für den Anhang der Familie und für entferntere Freunde, und bald war von den durch Geburt oder Verdienst Ausgezeichneten niemand im Lande, der es unterlassen hätte, der unbegreiflichen und hohen Erscheinung Bewunderung und Liebe auszudrücken. Daß auch der Fürst in eigener Person sich einstellte, war keinem verwunderlich. Von Dionysias rätselhafter Anmut bewegt, kam er wieder, der Schimmer seiner Macht drang aus seinen jungen Blicken in ihre erwachten Sinne; das traumhaft stolze Bewußtsein eines unerhörten Geschicks überströmte aus ihrem Wesen in sein Blut. Und keine Bedenken, denen Geringere unterworfen sein mochten, setzten beider Wünschen sich entgegen, als der Fürst, seines angetrauten Weibes vergessend, Dionysia das glühende Geschenk seiner Liebe bot. –

Zuerst wurde auch diese Wendung in der nächsten Umgebung und rings im Land ohne Widerspruch und üble Nachrede, ja von manchen und nicht nur von Schmeichlern und Höflingen, wie etwas Natürliches und Erlaubtes hingenommen. Die erste, die sich abwandte, betroffen, aber stumm, war die Mutter des Grafen. Einige Verwandte folgten ihrem Beispiel und mieden fortan Dionysias Nähe. Dann erst war es der engere Kreis der Fürstin, [32] der anfing, sich verletzt zu zeigen, zu einer Zeit, da die Fürstin selbst noch fern davon war, ihres Gatten Beziehungen zu der fremden Frau für andere als freundschaftliche anzusehen. Doch als jener die Wahrheit kund ward, schloß sie sich ohne ein Wort der Aussprache, im Innersten getroffen, von ihrem Gatten ab, der von nun ab wie mit Absicht und Stolz seine Liebe zu Dionysia vor allem Volk zur Schau zu tragen begann. Er ließ es nicht länger zu, daß sie in ihrem von dem Grafen ererbten Schlosse wohnte, und räumte ihr eine der fürstlichen Besitzungen nahe der Stadt als Wohnsitz ein. Nicht nur die Stunden der Muße weihte er von nun ab der Geliebten; in ihren Gemächern empfing er Minister und Abgesandte; Beratungen über Staat und Volk wurden in Dionysias Beisein abgehalten, und bald sprach ihre Stimme in jeder Entscheidung mit. Da nun alle, die dem Throne nahestanden, sich vor ihr neigten und ohne weiteres, was der Fürst ihr als Einfluß zugestanden, anzuerkennen bereit waren, so hätte sie wohl vor sich selbst als die wahre Fürstin des Landes gelten dürfen, – wenn sie nicht manchmal bei Ausfahrten und öfter von Tag zu Tag bemerkt hätte, daß Begegnende sie nicht zu beachten, ja sich mit Absicht wegzuwenden schienen. Zuerst nahm sie es leicht, lächelte darüber als über Neid und Torheit geringer Seelen, allmählich aber regte sich Ärger in ihr, wuchs weiter an, und eines Tages, da sie an einem jungen Adeligen vorbeiritt, der als Parteigänger der verlassenen Fürstin wohlbekannt, zu ihr, der fürstlichen Geliebten, mit einem höhnischen Zucken der Lippen aufsah, schlug sie ihm mit der Peitsche übers Gesicht. Als er dann in Wut ihr ein ungeheueres Schimpfwort ins Antlitz schrie, ließ sie ihn verhaften, und ihre Fürbitte erst bestimmte den empörten Fürsten, dem unbedachten Beleidiger die Todesstrafe nachzusehen. Doch war seit diesem Zwischenfall der Haß der beiden Parteien, der bisher im stillen gelauert, zu offener und lauter Feindseligkeit gewandelt. Es wurde Dionysia zugetragen, was man im Volk, im Adel und insbesondere in der nächsten Umgebung der Fürstin über sie zu reden wagte. Die noch vor kurzem eine Fremde rätselhafter, doch vielleicht göttlicher Sendung erschienen war, galt heute vielen für nichts besseres als eine Abenteurerin und Dirne. Noch drohte ihr keine ernste Gefahr, denn der Fürst hielt fester zu ihr als je. Ja zum Trotz gegen den wachsenden Widerstand erweiterte er ungebeten Dionysias Machtvollkommenheiten nach allen Seiten, umgab sie mit einer niemals erhörten Pracht, verlieh ihrem fünfjährigen Sohn den Titel eines [33] Prinzen und heftete auf die Rinderbrust einen Orden, der bisher nur Mitgliedern des Fürstenhauses vorbehalten war. Jedes unvorsichtige Wort, jede zweifelhafte Gebärde, die sich gegen Dionysia zu richten schien, wurde mit der furchtbarsten Strenge geahndet. Dionysia selbst war längst nicht mehr geneigt, bei dem Fürsten Gnade zu erflehen für Hohe oder Niedere, die sich gegen den Glauben an ihre Majestät vergangen hatten. Wenn sie durch die Straßen fuhr, in ihrem von sechs schwarzen Rappen gezogenen goldenen Wagen, dem Reiter voran- und nachsprengten, hörte sie aus dem Jubel, der sie begrüßte, die falschen und erzwungenen Töne und fühlte, daß nicht mehr Ehrfurcht, daß nur mehr dumpfe Scheu, daß Angst und Haß rings um sie webten. Böse Träume von Verschwörungen und Anschlägen störten ihren Schlaf, selbst an der Seite des Fürsten, der doch gewillt schien, sie mit seinem eigenen Leib zu schützen. Ein Gerücht begann durch das Schloß zu irren, daß in der nächsten Umgebung der verstoßenen Fürstin sich Unheilvolles gegen Dionysia vorbereite. Niemand wußte, woher es drang, doch Dionysia hielt die Zeit gekommen, entschiedene Abhilfe von ihrem Geliebten zu fordern, und stellte den Zaudernden vor die Wahl: entweder die angetraute Gattin vom Hof zu verbannen und des Landes zu verweisen, oder sie selbst ziehen zu lassen, wann und wohin es ihr beliebte. Da für das Vorhandensein einer Verschwörung sichere Beweise nicht vorlagen, so glaubten Schranzen sich berechtigt, künstlich solche herzustellen. Ein scheinbar ordentliches Gericht wurde abgehalten, die verdächtige Fürstin in ihrer Abwesenheit schuldig erkannt, und es ward ihr anbefohlen, unter Zurücklassung aller ihrer Briefschaften und ihres Geschmeides Hof und Land zu verlassen. Am nächsten Morgen schon, als wäre sie längst darauf gefaßt gewesen, begab sie sich, von wenigen Getreuen begleitet, auf die Reise nach ihrer königlichen Eltern fernem Reich. Andere aber, die verdächtig schienen, wurden des Landes verwiesen, ja manche, die man für besonders gefährlich hielt, verschwanden in den Gefängnissen des Landes, die unersättlich schienen. Da auch das geringste Zeichen der Unzufriedenheit schonungslos geahndet wurde, kam Ruhe ins Land und Dionysia war endlich so unumschränkte Herrin, wie sie es kaum mit der Krone auf dem Haupt hätte sein können. Aber je höher ihre Macht anstieg, um so weniger wurde sie ihres Schicksals froh. Die Feste ihr zu Ehren wurden immer lauter, aber entbehrten jeder Heiterkeit. Selbst die Wonnen in des Fürsten Armen [34] wurden schal und trüb, und bald erkannte Dionysia, daß sie im tiefsten wünschte, der Geliebte hätte sich ihren eitlen Wünschen widersetzt, und daß sie ihn zu verachten anfing, weil er ihr in allem zu Willen gewesen war. Um ihn zu erniedern, wie er es ihr zu verdienen schien, gab sie sich in dem fürstlichen Bette den Jünglingen vom Hofe hin, an denen sie ein augenblickliches Gefallen fand. Der Fürst, in Scham und Reue, verschloß zuerst seinen Grimm im Herzen, bald aber, mit erhitzten und verwirrten Sinnen ließ er sich die leicht errungene Gunst anderer Frauen gefallen, für die nun die Tore des Schlosses sich, wie früher für Dionysia, zu öffnen begannen. Doch wie zum Entgelt dafür stiegen die Jünglinge am höchsten bei Hofe, die Dionysias Begehrlichkeit am besten zu schmeicheln wußten. Ohne Zügel, Rücksicht und Scham trieb das Leben im Schlosse weiter, und bald hieß es im Volke, daß die Riesenfackeln der Festsäle in mancher Nacht wie im Grauen vor dem Übermaß der schmachvollen Lüste verlöschten, in denen Fürst und Geliebte, Buhlen und Buhlerinnen sich berauschten.

An einem grauen Morgen, den schimmernden Mantel um die nackten Schultern leicht gerafft, mit verhülltem Gesicht einer Schar von Trunkenen entfliehend, fort aus dem Saal, wo der Fürst selbst wie ein plötzlich rasend Gewordener mit gezücktem Messer ohne Ziel hin und her stürmte, eilte Dionysia die Treppe hinab, und einer Lockung folgend, die sie für die letzte hielt, strebte sie einem trüben Weiher zu, der unter Buchen am Ende des Parkes lag, um dort ihren Rausch, ihre Schmach, ihren Ekel mit ihrem abgetanen Leben zugleich und für ewig zu versenken. Doch wie sie in dem schillernden Wasser ihr verzerrtes Bild erblickte, erinnerte sie sich, was ihr zwei Jahre lang kaum mehr begegnet, – daß sie Mutter war. Sie wandte sich, eilte unter den hängenden Ästen nach dem Schloß zurück und mit flügeljungem Schritt in das Schlafgemach des siebenjährigen Prinzen. Mit keinem andern Gedanken war sie an sein Bett getreten, als ihn auf den Arm und mit sich in den Tod zu nehmen. Doch als sie ihn hier so ruhig schlummern sah, da schien ihr seine süße Kinderstirn wie von einer wundersamen, früher nie gesehenen Hoheit leuchtend; ein anderer Einfall zuckte ihr mit einem Male durch den Sinn und war gleich im Entstehen so mächtig, daß sie den schlafenden Prinzen auf die Arme nahm, mit ihren bloßen Füßen in den Festsaal zurückeilte, wo sie den Fürsten nur ganz allein, waffenlos, das Haar wirr in die Stirn hängend, mit einem ungeheuren [35] Ernst an dem zerstörten, mit halbwelken Blumen bedeckten Tische sitzend fand. Sie wußte in diesem Augenblick, daß er von der gleichen Todessehnsucht erfüllt war wie sie selbst. Als er Dionysia mit dem schlaftrunkenen Prinzen vor sich sah, schaute er sie lange an und fragte nach dem Anlaß dieses sonderbaren Auftretens. Sie hielt ihm das Kind entgegen wie ein kostbares Geschenk und verlangte von ihm, daß er es noch am gleichen Tage zum Erben seines Reiches ernennen solle. Und als er betroffen schwieg, schwor sie im belebenden Frühglanz der neuen Sonne, die eben aufstieg, daß das wollüstig grauenvolle Treiben der letzten Zeit nun ein Ende haben solle, daß sie entschlossen sei, sich von nun an Werken des Wohltuns und der Gesetzgebung zu widmen und an des geliebten Fürsten Seite als treue Gefährtin zu walten. Sie traute sich die Kraft zu, die Schmach der vergangenen Jahre durch den Ruhm der kommenden auszulöschen und wollte sich dafür verbürgen, daß im Gedächtnis des Volkes die Erinnerung jener verflossenen Zeit nur wie die einer bösen Krankheit dumpf fortleben und endlich wie eine Sage erlöschen sollte. Die Erbschaftserklärung an ihren Sohn sollte die letzte Tat der Willkür sein und schien ihr so verzeihlich als geboten, da sie in jedem Sinne nur zum Heile des Landes geschähe. Der Fürst, aufleuchtenden Auges, stimmte zu. Unverzüglich wurde der Rat der Edlen zusammenberufen. In durchglühtem Ernst trug der Fürst seinen Willen vor, und kein Widerspruch wurde laut. Die Neuigkeit wurde im Volke bekanntgemacht, und es war Sorge getragen, daß sie mit Jubel begrüßt würde. Des Abends flammten Lichter in allen Fenstern auf, anscheinend freudig erregte Scharen zogen durch die Straßen, und was man von Reden erlauschen konnte, klang nicht anders, als wäre am heutigen Tag einem geliebten Fürsten von einer edlen Gattin der langersehnte Erbe geboren worden. Zum ersten Male wieder seit langer Zeit ließ Dionysia sich täuschen und hielt die bezahlten oder durch Furcht erzwungenen Freudenäußerungen der lärmenden Menge für die neuerwachte Hoffnung einer herzenswarmen, niemals ganz verloren gewesenen und darum leicht wiedergewonnenen Bevölkerung. Innern Jubels voll trat sie mit dem Fürsten auf den Balkon, vor dem die Menge sich staute. Die Leute riefen nach dem Prinzen immer lauter, als wäre es ihr gutes Recht, den Erben des Reichs an dem großen Tag, da sein erhabenes Schicksal sich entschieden, von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Neu beglückt eilte Dionysia nach den Gemächern ihres Sohnes. Es fiel ihr kaum [36] auf, daß die Wache fehlte, die sonst an der Türe zu stehen pflegte. Sie eilte weiter. Da sah sie die Erzieherin des Prinzen gleich einer Betrunkenen am Eingang liegen. Von böser Ahnung erfaßt, stürzte Dionysia ans Bett ihres Sohnes und fand ihn mit gebrochenen Augen, verzerrtem Antlitz, eine tiefe Wunde auf der Stirn, tot auf dem rotdurchfeuchteten Linnen. Nur einen Augenblick stand Dionysia starr, dann ergriff sie den Leichnam ihres Kindes, stürzte mit ihm von Zimmer zu Zimmer, durch Gänge, über Treppen, durchs ganze Schloß, das wie ausgestorben schien, endlich, immer die blutige Leiche des Prinzen auf den Armen, fand sie sich wieder auf dem Balkon, wo der Fürst allein stand, zeigte zuerst ihm, dann der Menge unten das ermordete Kind und rief sie mit dunkel beschwörenden Worten zu furchtbarer Rache auf. Der Fürst aber, als hätte er ein Gespenst gesehen, war sofort von dannen geeilt, Dionysia stand allein, – und unten vor dem Schloß war mit einemmal jeder Laut erstorben. Kein Jammerruf antwortete der klagenden Mutter, kein Schrei der Wut grimmte auf; – als zweifelte keiner, daß ein von Gott, nicht von übelgesinnten Menschen verhängtes Schicksal hereingebrochen wäre, gegen das jede Auflehnung vergeblich, ja frevelhaft wäre, schweigend, geduckt, wie Zeugen eines längst erwarteten Gerichts schlichen alle die Tausende davon und verschwanden im Dunkel der Nacht. Die erneuten Entsetzensschreie Dionysias gellten ins Leere und endlich, mit dem blutigen Rinderleichnam im Arm, sank sie auf die Steinfliesen hin.

Als sie erwachte, war eine große Stille um sie. Sie war allein, und die Leiche des Kindes war fort. Einen Augenblick wollte sie sich einbilden, daß sie aus einem grauenhaften Traum erwacht sei. Der Anblick ihrer blutigen Hände rief sie in die Wirklichkeit zurück. Sie erhob sich, sah um sich und hinab über die Balustrade. Das Morgengrauen schlich trüb über den verlassenen Schloßplatz. Dionysia eilte von Gemach zu Gemach. Kein lebendes Wesen war zu sehen. Keine Wache auf den Gängen, kein Lakai, in den Stallungen kein Pferd und kein Wagen; Dionysia war völlig allein. Wie ein Ort des Fluchs schien das Schloß von allen Atmenden verlassen. Eine Angst ohnegleichen packte Dionysia, und sie wagte nicht, ins Freie zu treten. Da erinnerte sie sich mit einemmal eines unterirdischen Gangs, der von ihrem Schlafgemach aus nach dem fürstlichen Residenzschlosse führte. Durch eine nur ihr bekannte Tür trat Dionysia ins Dunkle, stürmte fort immer geradeaus, mit wändestreifendem Kleid. Allmählich begann mattes [37] Licht um sie her zu spielen, endlos schien der Weg; wie verfolgt jagte sie weiter, bis sie endlich wieder eine Tür erreichte, die sie aufstieß, um plötzlich, wie aus der Wand gespieen, vor dem Fürsten dazustehen, der einsam in dunkler Gewandung vor seinem Schreibtisch saß, auf dem eine Kerze brannte. Er fuhr zusammen, seine Augen flackerten, er versuchte, ein Blatt zu verbergen, das vor ihm lag; sie griff darnach, er ließ die zitternden Hände sinken; – und Dionysia las ihr eigenes Todesurteil, auf dem nichts weiter fehlte als die Unterschrift des Fürsten. Erbärmlicher als sie ihn jemals gesehen, aller Hoheit entkleidet, stand der einst Geliebte vor ihr und stammelte feige, doch verhängnisschwere Worte. Unwiderstehlichen Mächten sei er unterlegen, er war ein Gefangener in seinem eigenen Palast. Schon wäre mit ihren Getreuen die verstoßene Fürstin auf dem Wege hierher, und nur, wenn er seinen Namen unter dieses Urteil setzte, rettete er sich selbst, sein Land, seine Herrschaft und vielleicht sein Leben. Er sei schmerzlich verwundert, Dionysia vor sich zu sehen. Im stillen hätte er gehofft, sie wäre schon auf der Flucht und in Sicherheit. War das Schloß nicht menschenleer gewesen? Hatte sie nicht die Wege frei gefunden nach allen Seiten? Daß sie die Verwirrung der Nacht nicht besser ausgenützt, wäre ihre eigene, unbegreifliche Schuld; und wie mit Absicht hatte sie sich selbst in den sicheren Untergang begeben. Nun aber sollte sie erfahren – und seine Rede klang bestimmter und frecher mit jedem Wort – daß er ein gnädiger Herr sei: er werde nicht, wie sie wohl zu furchten allen Anlaß hätte, nach der Wache rufen, nein, er stelle es ihr vielmehr frei, sofort wieder durch die gleiche Tür zu verschwinden, aus der sie eben gekommen war, den Tag über sich in dem unterirdischen Gang aufzuhalten und bei Anbruch der Nacht ihn von der anderen Seite wieder zu verlassen. Er werde sie nicht ausliefern, ja sogar dafür Sorge tragen, daß das Lustschloß heute den ganzen Tag verlassen bleibe; nach Ablauf dieser Frist aber möge sie fliehen, so rasch und so weit ihre Füße sie trügen. Und am Ende gab er ihr sein fürstliches Wort, daß sie bis dahin vor jeder Verfolgung werde sicher sein.

Dionysia ließ ihn reden und sah ihm während der ganzen Zeit starr in die Augen, die von ihrem kalten Blick immer wieder abglitten. Dann, ohne ein Wort der Erwiderung, schritt sie an dem jäh Erblassenden vorbei, stieß die Türe zum Vorsaal auf, und zwischen den Wachen, die regungslos standen, über die marmorne Treppe hinab, durch das hohe Schloßtor, dann durch die Straßen [38] der Stadt, an den Menschen vorbei, die sie erkannten, und scheu vor ihr abrückten, wie vor einer Gezeichneten – in blutigem Kleid, mit halbgeschlossenen, gerade vor sich hin gerichteten Augen schritt sie dahin. Bis ans Stadttor waren ihr einige, dann aber immer mehr Leute in furchtsam gemessener Entfernung gefolgt. Hier aber wandte Dionysia sich um; mit einer gebieterischen Bewegung ihrer blutigen Hände verbot sie jenen, ihr weiter zu folgen, und nun, in lauer Frühlingsluft, zwischen gelben Feldern, die im Morgenglanz wogten, nahm sie tief atmend den Weg nach Hause.

7.

VII

Sie wanderte die Nächte durch und schlief bei Tage auf Wiesen und Wäldern, wusch Leib und Gewand in Flüssen und Teichen und lebte von den Früchten, die ihr der Zufall bot. Nicht um sich zu verbergen und um ein Leben zu fristen, das ihr gleichgültig war, nur um Menschenstimmen nicht zu hören, Menschengesichter nicht zu sehen, hielt sie sich abseits vom gewohnten Zug der Straßen. Nach einer Reihe von Tagen, die sie nicht gezählt, zu einer Sternenstillen Mitternachtsstunde stand sie an der Pforte des vor so langer Zeit verlassenen Hauses, die offen stand wie für eine Erwartete. Ohne die Wohnung zu betreten, schritt Dionysia die Wendeltreppe hinauf zum Turm, wo sie sicher war, ihren Gatten zu finden. Sie erblickte ihn, aufrecht stehend, das Auge am Fernrohr, das zum Himmel gerichtet war. Als er Schritte hörte, wandte er sich um, und da er Dionysia erkannte, zeigte sein Blick keinerlei Erstaunen, nur ein mildes Lächeln von der Art, wie es liebe Gäste zu begrüßen pflegt.

»Ich bin es«, sagte Dionysia.

Der Gatte nickte. »Ich habe dich erwartet. In dieser Nacht, nicht früher und nicht später mußtest du kommen.«

»So kennst du mein Schicksal?«

»Ob du's auch unter fremdem Namen erlebtest, ich kenne es. Es war keines von der Art, daß es geheim bleiben konnte; und von allen Frauen, die leben, konnte es keiner beschieden sein, als dir. Sei willkommen, Dionysia.«

»Willkommen nennst du mich? Dich schaudert nicht vor mir?«

»Du hast dein Leben gelebt, Dionysia. Reiner stehst du vor mir als all jene andern, die im trüben Dunst ihrer Wünsche atmen. Du weißt, wer du bist. Wie sollte mich vor dir schaudern?«

[39] »Ich weiß, wer ich bin? So wenig weiß ich's, als da du mich entließest. In der Beschränkung, die du mir zuerst bereitet und wo alles Pflicht wurde, war mir versagt, mich zu finden. Im Grenzenlosen, wohin du mich sandtest, und wo alles Lockung war, mußte ich mich verlieren. Ich weiß nicht, wer ich bin.«

»Was kommt dich an, Dionysia? Willst du, Undankbare, mir zum Vorwurf machen, daß ich tat, was kein Weiser unter den Liebenden je gewagt, was kein Liebender unter den Weisen je sich abgewonnen?«

»Du ein Weiser? Und hast nicht erkannt, daß jedem menschlichen Dasein nur ein schmaler Strich gegönnt ist, sein Wesen zu verstehen und zu erfüllen? Dort, wo das einzige, mit ihm einmal geborene und niemals wiederkehrende Rätsel seines Wesens im gleichen Bett mit den hohen Gesetzen göttlicher und menschlicher Ordnung läuft? Ein Liebender du? Und bist nicht selbst an jenem fernen Morgen ins Tal hinabgestiegen, eine Flöte zerbrechen, deren Töne der Geliebten Verführung drohten? Dein Herz war müd, Erasmus, darum ließest du mich scheiden, ohne einen Kampf aufzunehmen, der damals noch nicht verloren war; und dein Geist war erwürgt im kalten Krallengriff von Worten, darum vermeintest du das Lebens ungeheure Fülle, das Hin- und Widerspiel von Millionen Kräften im hohlen Spiegel einer Formel einzufangen.« Und sie wandte sich zu gehen.

»Dionysia«, rief der Gatte ihr nach. »Komm doch zu dir! Dein buntes Schicksal hat dir den Sinn verwirrt. Hier wirst du Ruhe und Klarheit wiederfinden. Hast du denn vergessen? Gemach, Bett und Gewand warten deiner, und keine Frage, kein Vorwurf wird jemals dich quälen. Hier bist du in Sicherheit, draußen lauern Gefahr und Tod.«

Noch einmal, an der Türe schon, wandte Dionysia sich um: »Was kümmert mich, was draußen meiner harrt? Ich furchte das Draußen nicht mehr. Bange macht mir deine Nähe allein!«

»Meine Nähe, Dionysia? – Denkst du etwa, ich könnte meines Wortes je vergessen? Sei ohne Sorge, Dionysia! Hier ist der Friede, denn hier ist das Verstehn!«

»So sagst du selbst mir, warum ich dich fliehe –? Ja wärst du erschauert vor dem Hauch der tausend Schicksale, der um meine Stirne fließt, so hätt' ich bleiben dürfen, und unsere Seelen wären vielleicht ineinandergeschmolzen in der Glut namenloser Schmerzen. So aber, tiefer als vor allen Masken und Wundern der Welt, graut mich vor der steinernen Fratze deiner Weisheit.«

[40] Damit schritt sie die Wendeltreppe wieder hinab, ohne nur einen Blick zurückzuwerfen. Eilig verließ sie das Haus und verschwand alsbald im weiten Schatten der Ebene.

Erasmus, nach anfänglicher Starrheit, eilte ihr nach und folgte ihrer Spur stundenlang. Doch sie selbst erreichte er nicht mehr, und er mußte sich endlich entschließen zurückzukehren. Auch alle weiteren Nachforschungen nach Dionysia blieben vergeblich. Sie blieb verschwunden; und kein Mensch weiß, ob sie noch längere Zeit, vielleicht unter fremdem Namen, irgendwo in der Welt weitergelebt oder bald unerkannt ein zufälliges oder selbstgewähltes Ende gefunden hat. –

Erasmus aber entdeckte bald darauf einen rätselhaft glitzernden Stern, der nach neuen, noch nicht erkundeten Gesetzen im weiten Raum umherirrte. Und in seinen Aufzeichnungen fand man, daß er diesem Stern, in Erinnerung an seine Gattin, deren harte Abschiedsworte er ihr nicht weiter nachtrug, den Namen Dionysia zu geben gedachte. Andere Forscher prüften nach, suchten den Himmel nach allen Fernen, zu allen Jahreszeiten und zu allen Stunden ab; doch keinem gelang es, jenen Stern wiederzufinden, der von der Unendlichkeit für immer verschlungen schien.

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TextGrid Repository (2012). Schnitzler, Arthur. Erzählungen. Die Hirtenflöte. Die Hirtenflöte. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-D9EF-6