537. Der Pfleger von Mitterfels.

Erzählt von Adalbert Müller. – Zu der in jener Gegend verbreiteten Volkssage hat der Erzähler nur den Namen einer bestimmten Oertlichkeit hinzugefügt.


Der Pfleger von Mitterfels war, was man zu seiner Zeit einen exakten Beamten nannte. Er hielt die Bauern so in Respekt, daß sie schon vor dem Schatten seiner Hutfeder zitterten, und wußte aus einem leeren Büchsenranzen noch Fett zu pressen. In seinem weitläufigen Gerichtsbezirke gab es keinen einzigen schlechten Zahler, denn der Aermste trachtete schon vor dem Termine die Abgaben zu entrichten, und verkaufte lieber seine letzte Kuh, eh' er sich die Schergen des Pflegers in's Haus kommen ließ. Sonderlich aber war der »gestrenge Herr« der Schrecken [78] Jener, die in Betreff des siebenten Gebotes oder wie sonst in Criminalibus sich nicht ganz sauber wußten. Fiat justitia et pereat mundus! lautete sein Wahlspruch. Die Carolina war recht eigentlich sein Steckenpferd, und er hielt sie höher als die Bibel. Um seinen Scharfsinn und seine Geübtheit in Anwendung ihrer blutigen Satzungen der Welt augenfällig machen zu können, spürte er rastlos nach Malefikanten und eilte jedem nur etwas Verdächtigen einen Prozeß an den Hals zu werfen. Wen sein Richtereifer sich einmal zum Gegenstande ausersehen, der kam schwer wieder los; denn in der Kunst, die Inquisiten beim Verhöre in Widersprüche zu verwickeln und die Starrsinnigen durch die scharfe Frage zum Geständnisse zu bringen, that es dem Pfleger von Mitterfels keiner im Lande zuvor. »Ich habe einen Beichtstuhl, in welchem nicht die kleinste Sünde verschwiegen bleibt,« äußerte er manchmal scherzweise gegen seine Bekannten. Es war aber dieser »Beichtstuhl« eines der gefürchtetsten Folterwerkzeuge. Nichts glich der Selbstzufriedenheit dieses Mannes, wenn er aus irgend einem alten Weibe eine Hexe oder aus einem müssigen Landstreicher einen Straßenräuber heraustorquirt hatte. Zufolge dessen hingen an den Galgen seines Amtssprengels mehr Armesünder, als in den Schloten der Bauern Speckseiten, und die Richtstätte wurde nimmer trocken vom Blute der »Geputzten.«

Es lebte damals zu Haibach eine junge Dirne, welche sich Anna Osterkorn schrieb. Sie war lieblich, gleich einem heiteren Frühlingsmorgen, und hatte just so viel Mutterwitz, als ein Mädchen, wie man zu sagen pflegt, in's Haus braucht. Den einzigen Vorwurf konnte man ihr machen, daß sie dem Gekose der jungen Bursche ein zu williges Ohr lieh. Heute war es Kaspar, morgen Melchior und übermorgen Balthasar, welchem die leicht zu Ueberredende das Herz öffnete, und dieser Flatterhaftigkeit war es beizumessen, daß Nani eben nicht im Rufe einer Heiligen stand. In der letzten Zeit galt Georg, der Jäger des Gutsherrn von Haibach, als der Hahn im Korbe. Er behauptete seinen Posten dauernder, denn irgend einer seiner Vorgänger, sei es, weil er in der That der schmuckste Junge auf weit und breit war, oder weil Nani endlich im Ernste daran dachte, unter die Haube zu kommen. Während der lauen Sommerabende gingen die Verliebten, Georg sein Schätzchen zärtlich am kleinen Finger führend, durch die Fluren spazieren, und als der Winter kam und die Nächte kalt, sehr kalt wurden, wie hätte es da das gutmüthige Geschöpf verwinden können, den Mann ihres Herzens draußen [79] im knarrenden Schnee frieren zu lassen? Zudem hatte Georg das Mädchen bereits vor allen Leuten als seine Verlobte erklärt und dadurch, nach den Begriffen des Landvolkes, das Recht erworben, auf vertrauterem Fuße mit ihr zu leben. Die Hochzeit schob sich jedoch länger hinaus, als es dem Pärchen lieb war, denn dem Jäger wollte es nicht gelingen, so bald eine einträglichere Stelle zu bekommen, und Nani hatte von der Welt Gottes nichts, als ihr hübsches Lärvchen und eine halb verfallene Hütte, welche sie von ihren früh verstorbenen Eltern, armen Taglöhnersleuten, ererbt.

Ein Jahr oder darüber, nachdem sich die Bekanntschaft zwischen den Beiden angesponnen, segnete der reiche Bauer im Ried das Zeitliche, und der Todtengräber ging an einem neblichen Herbstmorgen auf den Friedhof hinaus, dem Hingeschiedenen das Grab zu bereiten. Zu seinem Aerger fand er in einem abgelegenen Winkel den Rasen frisch aufgewühlt, und als er mit dem Spaten sondirte, um etwa darauf zu kommen, wer ihm da freventlich in's Handwerk gepfuscht habe, stieß er auf die Leiche eines neugebornen Knäbleins. Das Kind war in ein reinliches Stück Leinwand gewickelt und zeigte äußerlich nicht die geringste Spur einer Verletzung; aber die heimliche Beerdigung mußte nothwendig auf den Gedanken führen, es sei mit dem armen Würmlein nicht mit rechten Dingen zugegangen. Voll Entsetzen eilte der Todtengräber, von seinem Funde im Pfarrhofe Anzeige zu machen. Die Neuigkeit verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Dorfe. Bald war die halbe Gemeinde auf dem Gottesacker versammelt, und Einer fragte den Andern, wer wohl das gethan haben möge. Im Kreise einiger frommen Betschwestern flüsterte es den Namen Nani's, und wie wenn man der Meute einen Knochen hinwirft, so fiel jetzt Alles über den Leumund der Verdächtigten her und suchte, was daran noch gut war, abzunagen. Der wußte dies und jener das zu ihrem Nachtheile vorzubringen, und die Weiber fragten, ob denn die ganze Männerwelt blind gewesen sei, daß sie die Veränderung nicht merkte, welche mit der Gestalt des Mädchens in den letzten Monaten vor sich gegangen. Zum Ueberflusse trat auch noch die Nachbarin auf und betheuerte, sie habe während der vergangenen Nacht in Nani's Stube deutlich ein Kind schreien hören, und obwohl Jedermann wußte, daß die steinalte Matrone auf zehn Schritte weit das Kreischen einer Gans nicht von dem Schlage des Finkenmännchens unterscheiden könne, so fand ihre Aussage doch vollen Glauben. Die arme Nani wurde einhellig des [80] Mordes schuldig gehalten, und der Haufe stürmte vor ihre Hütte hin, während andere in's Schloß hinauf eilten, um den Gerichtshalter herbeizurufen. Dieser fand Nani im Bette, todesschwach und kaum im Stande, auf seine Fragen Antwort zu geben. Ein kurzes Verhör überzeugte ihn, daß der Fall über seine Kompetenz gehe. Er stellte eine Wache vor das Haus der Inkulpatin, brachte die Leiche des Kindes in einer abgesonderten Kammer unter Schloß und Siegel und nahm über dies Alles ein Protokoll auf, welches er durch einen reitenden Boten nach Mitterfels schickte.

Es ist meine Absicht nicht, den Verlauf des gegen die Nani eingeleiteten Prozesses umständlich zu beschreiben, und wenn ich auch wollte, so vermöchte ich's nicht, denn ich bin kein Mann von der Feder. Die Geschichte ist schon lange her, und ich habe sie aus dem Munde schlichter Landleute, die eben so wenig Juristen sind, als ich selber. Nur so viel kann ich sagen, daß die Nani, sobald sie nur einigermaßen wieder zu Kräften gekommen war, in Ketten gelegt und nach dem Amthause von Mitterfels abgeführt wurde. Schon bei der ersten Vernehmung bekannte sie, daß sie die Mutter des im Friedhofe gefundenen Kindes sei, wies aber den Verdacht, es ermordet zu haben, entschieden und mit allen Zeichen des Abscheues zurück. Sie könne, sagte sie, keinem Hühnlein ein Leid anthun, geschweige denn ihrem eigenen Blute. Das Kind sei todt zur Welt gekommen, und alle Heiligen des Himmels müßten ihr bezeugen, daß sie die lautere Wahrheit sage. Gern würde sie jede Schande und Strafe ertragen, wenn nur ihr Kind am Leben wäre. »Aber um eines Leichnams wegen,« fuhr sie fort, »wollte ich nicht im Strohkranze vor der Kirchthüre stehen. Der böse Geist gab mir ein, das schon erstarrte Kind heimlich unter die Erde zu schaffen; doch es in ungeweihten Boden zu legen, konnte ich nicht über's Herz bringen. Ich machte ihm daher im Gottesacker eine Grube, aber die Arbeit ging nur langsam vorwärts, weil ich kaum die Glieder regen konnte vor Schwäche, und so überraschte mich der Morgen, ehe ich den Boden wieder einebnen konnte.« Zum Schlusse rief sie noch einmal Jesum und den ganzen Himmel zum Beistande an und brach dann, ihrer Gefühle nicht mehr Meister, in einen Strom von Thränen aus.

Das Gericht stellte den Angaben Nani's die gravirenden Aussagen der Zeugen gegenüber, namentlich die jener alten Frau, welche das Kindergeschrei gehört haben wollte. An dieser Handhabe klammerte sich der Pfleger mit eherner Faust ein, denn sie zumeist gab einen festen Haltpunkt [81] und konnte ihn berechtigen, sein Lieblingsmittel, die peinliche Frage, gegen die Inquisitin in Anwendung zu bringen, falls selbe fortfahren würde, ihr Verbrechen abläugnen zu wollen. Bereits im zweiten Verhöre, nachdem die Beklagte standhaft wieder ihre Unschuld betheuert hatte, ließ er sie, gleichsam zum Vorspiele, bis auf's Blut mit Ruthen hauen. Halbtodt schleppte man die Mißhandelte in's Gefängniß zurück.

Nani's Wunden waren noch nicht vernarbt, so wurde sie abermals in's Verhör genommen. Diesmal führte man sie in eine dumpfe, modrige Stube, welche in einem der Ringthürme des Felsenschlosses lag. Ein Spitzbogenfenster, durch die klafterdicken Mauern gebrochen, sollte das Gemach erhellen; aber seine erblindeten Scheiben ließen das Licht nur matt einfallen. Graue Dämmerung herrschte hier, wenn die ganze übrige Welt sich des hellen Tages erfreute. Die dem Fenster gegenüber stehende Wand war durch einen Vorhang von rothem Tuche verdeckt. Der Pfleger saß, die strenge Richtermiene gegen den Eingang kehrend, in einem blutroth beschlagenen Lehnstuhle, neben ihm, an einem von Alter und Dinte geschwärzten Tische, ein lauernder Schreiber. Ein kühneres Herz, als das eines Mädchens, würde von dieser Umgebung erschüttert worden sein. Nani überlief ein eiskalter Schauder.

»Anna Osterkorn, tritt näher!« begann der Pfleger in einem Tone, welcher der Angeredeten gleich Posaunenruf des jüngsten Tages klang. Zitternd, mit willenloser Hast, that sie, wie ihr geboten. Der Pfleger fuhr fort: »Wie dir wissentlich ist, hat ein Zeuge allhier vor Gericht eidlich deponirt, daß er in der Nacht vom 24. zum 25. Oktober hujus dein Kind habe schreien hören. Wirst du, anso durch ein gewichtiges Indicium überwiesen, dessenungeachtet Gott und deiner Obrigkeit noch länger die Ehre vorenthalten, indem du auf deinem frechen Läugnen beharrest?«

»Hochmögender Herr!« versetzte Nani, »tausendmal würde ich die Ohren segnen, welche einen Laut von meinem Kinde vernommen hätten. Aber ach! sein Mund blieb selbst der Mutter verschlossen.«

Der Pfleger ließ dem Schreiber Zeit, diese Worte in's Protokoll einzutragen; dann hob er wieder an, den stechenden Blick seiner grauen Augen unverwendet auf die Gefangene richtend: »Anna Osterkorn, ich frage dich zum letzten Male im Guten, – willst du bekennen, daß dein Kind lebend zur Welt gekommen ist?«

[82] »Helfe Gott mir und ihm!« entgegnete Nani, »ich kann nicht sagen, was unwahr ist.«

»Du bleibst also bei deiner Verstocktheit?« stieß der Pfleger heraus. »Nun dann – so sollst du erfahren, daß ich Mittel habe, deine widerspenstige Zunge zu lösen.« Auf einen Wink seiner Hand schob sich der rothe Vorhang bei Seite, und es wurde in einem mit Folterwerkzeugen angefüllten Nebengemache der Nachrichter sichtbar. Dem unglücklichen Mädchen wich bei diesem Anblicke das Blut aus den Wangen, und ihren Lippen entfuhr ein matter Schrei.

»Kennst du diesen Mann und seine Verrichtung?« fragte der Pfleger mit gedämpfter Stimme.

Nani starrte schweigend den Henker an.

»Thue deine Schuldigkeit!« befahl diesem der Pfleger.

Der Nachrichter trat vor und faßte sein Opfer unter den Armen, während sein Gehilfe einen mit spitzen Nägeln beschlagenen Stuhl – den sogenannten »Igel« – zurecht stellte. Diese schrecklichen Anstalten entmuthigten Nani, oder vielmehr – sie gaben ihr den Muth, lieber dem Leben zu entsagen, als sich zum Krüppel foltern zu lassen. Denn gewiß war es, daß, wenn sie auch die erste Marter ausdauerte, der grausame Richter ihr so lange mit neuen und immer schmerzlicheren zusetzen würde, bis sie redete, was er hören wollte. Durch eine plötzliche Kraftanstrengung befreite sie sich aus den Händen des Büttels, trat dicht vor den Pfleger hin und sagte: »Bluthund, weil du denn durchaus meinen Kopf willst, – ja, ich habe das Kind ermordet.«

Der Pfleger, an solche Ausbrüche der Verzweiflung längst gewohnt, verzog keine Miene. Mit eisiger Ruhe hörte er die Erzählung der Inquisitin an, in welcher diese ein Verbrechen darlegte, das sie nie begangen hatte, während die Feder des Schreibers pfeilschnell über das Papier hinflog, damit keine Sylbe des Geständnisses verloren gehe.

Die weitere Geschichte des Prozesses läßt sich mit zwei Worten geben: Nani wurde zum Tode verurtheilt und starb unter dem Schwerte des Henkers.

Georg, der beklagenswerthe Bräutigam, hatte seine Herrschaft auf einer Lustreise nach Wien begleitet und lebte dort in Freuden, ohne Ahnung des schrecklichen Looses, welchem inzwischen seine Verlobte erlag. Er erhielt die Kunde von Nani's Einkerkerung und Hinrichtung zu [83] gleicher Zeit, riß die Büchse von der Wand, und Niemand hat ihn wieder gesehen. Einige wollten wissen, er sei, um sich an dem Gesetze zu rächen, unter die ungarischen Grenzräuber gegangen.


Nicht lange nach Nani's blutigem Ende kehrten zu Haibach einige Dirnen spät am Abende von der Rockenstube heim, und als sie an der Wohnung der Gerichteten vorüber gingen, vernahmen sie darin Laute, wie das Weinen eines neugebornen Kindes. Kreischend liefen sie davon und erschreckten mit der Nachricht von dem Spuke das ganze Dorf. Alt und Jung eilte herbei und umstellte in weitem Halbkreise die Hütte. Jedermann hörte deutlich die Grauen erregenden Töne, aber nicht Einer hatte den Muth, sich in den Bereich des gespenstischen Wesens zu wagen. Endlich ermannte sich ein alter Soldat, welcher unter Max Emanuel die Türkenkriege mitgemacht hatte. Er stürzte ein Glas Doppelkümmel hinunter, schlug ein großes Kreuz über sich und schritt, in der rechten Hand einen tüchtigen Knüttel, in der weit vorgestreckten Linken einen brennenden Kienspan haltend, dem Eingange der Hütte zu. Die morsche Thüre wich leicht seinem Fuße, und das Erste, was er erblickte, war – der Hauskater, welcher auf der obersten Stufe der Bodenstiege saß und, um sich die Langweile seiner Einsamkeit zu vertreiben, eines jener verrufenen Lieder angestimmt hatte,


So ein Lied, das Stein' erweichen,

Menschen rasend machen kann.


Unser Held ging dem betroffenen und vom plötzlichen Lichtglanze geblendeten Virtuosen rasch zu Leibe, packte ihn beim Genicke und trug ihn siegesstolz der herandrängenden Menge entgegen, welche bei diesem Anblicke alle Furcht verlor und in ein unmäßiges Gelächter ausbrach. Doch gab es Viele unter den Anwesenden, die nicht mitlachten. Das Gewissen war in seinem Schlupfwinkel rege geworden und pochte mit dröhnenden Schlägen an die Herzen, welche auf eine eitle Sinnentäuschung hin lieblos ihren Mitmenschen verdammt und dem Henkerbeile überliefert hatten. Eine Unzahl Vaterunser wurde der Sühne der Hingeopferten gebetet, und auf viele Meilen in der Runde läuteten die Glocken der Kirchen zu Seelenämtern. Aber Rosenkranz und Messe haben noch keinem Todten das Leben wieder gegeben.

[84] Ein Jahr ungefähr war verstrichen, seitdem Nani's Leiche unter dem Rabensteine eingescharrt worden war, und der Pfleger von Mitterfels hatte über einer Räuberbande, welche die Häscher in seinem Gerichtsbezirke eingebracht, den kleinen Handel mit der Kindesmörderin längst vergessen. Da geschah es, daß er einmal in dringender Angelegenheit nach Straubing zur Regierung mußte und dort über die Zeit aufgehalten wurde. Von der Stadt nach Mitterfels sind es gute zwei Meilen über's Gebirge, und bereits hatten sich die düstern Schatten eines unfreundlichen naßkalten Winterabends auf die Gegend gelegt, als er in der Nähe des Hochgerichtes anlangte, welches nach damaliger Sitte hart am Wege aufgebaut war. Schwarzen Riesen gleich starrten seine Pfeiler dräuend aus dem Dunkel empor, und dieser Anblick mochte in dem Manne, dessen eiserner Strenge hier schon so viele Opfer gefallen, denn doch unheimliche Gefühle erregen. Er gab dem Pferde die Sporen, um schneller vorbeizukommen, da – plötzlich – fing es oben zu rascheln an, rollte holter polter die steile Böschung herab und fiel mitten in die Straße. Das erschreckte Pferd machte einen Seitensprung, trat über den Rand des schmalen Saumweges hinaus und stürzte mit seinem Reiter in den zur Seite hinlaufenden Abgrund. Der den Pfleger begleitende Diener sah mit Entsetzen seinen Herrn in der gräulichen Tiefe verschwinden, ohne ihm helfen zu können. Er that, was in dieser Lage das Beste war, und sprengte mit verhängtem Zügel dem nicht mehr fernen Schlosse zu, um dort Lärmen zu machen. Die Schreckensbotschaft brachte das ganze Haus auf die Beine. Bei der verhängnißvollen Stelle angekommen, kletterten einige mit Fackeln den Felshang hinab, um den Verunglückten aufzusuchen, während die andern oben bei den Pferden blieben. Von diesen gerieth einem etwas Kugelichtes unter den Fuß; man leuchtete herzu, – es war ein – Todtenschädel.

Die Untersuchung, welche später angestellt wurde, ergab, daß Wölfe, die sich dazumal, nach den furchtbaren Verwüstungen des spanischen Erbfolgekrieges, rudelweise im Waldgebirge aufhielten, unter den Gräbern des Hochgerichtes gewühlt hatten. War es aber bloßer Zufall, welcher jenen Schädel gerade in dem Augenblicke den Hügel herabkollern machte, als der Mörder Nani's unten vorüberritt? – Gottes Wege sind wunderbar.

Den Pfleger fand man mit zerschmetterten Gliedern, besinnungslos, im Grunde der Schlucht. Man brachte ihn mit Mühe den Berg herauf und in's Schloß. Da lag er die ganze Nacht in einem Zustande, der [85] halb Leben, halb Tod schien. Des Morgens um neun Uhr – zu derselben Stunde, in welcher Nani's schuldloses Haupt gefallen war – schlug er mit einem Male die Augen auf, richtete sich im Bette empor und stammelte mit dem Ausdrucke höchster Angst: »Bringt mir die Akten – in Sachen Anna Osterkorn – ich habe mich vor einem strengen Richter zu verantworten – schon ruft mich sein Bote – ich komme – Gnade – Gnade!«

Es waren seine letzten Worte. Nachdem er sie gesprochen, sank er in die Kissen zurück und war eine Leiche.

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TextGrid Repository (2012). Schöppner, Alexander. Sagen. Sagenbuch der Bayerischen Lande. Zweiter Band. 537. Der Pfleger von Mitterfels. 537. Der Pfleger von Mitterfels. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-FB31-B