[42] Selbstanklage

Halleluja! Amen, Amen!
Preis dem Herrn, der ist und war!
Ach, in Jesu Christi Namen
Schließ' ich nun das alte Jahr.
Engel Gottes, leiht mir eure
Harfen, daß ich dank' und feire;
Denn mein Herz ist zu beklemmt
Und von Thränen überschwemmt.
Welcher Berg ist überstiegen!
Welche Last ist abgelegt!
Gott der Starke half mir siegen,
Dessen Arm die Schwachen trägt.
Wenn die Knie im Steigen brachen,
Wenn die hohlen Augen sprachen:
»Hilf mir, Gott!« – so half er mir.
Helfer, Preis und Dank sei dir!
Aus der Welt herausgezogen
Hast du mich, wie aus dem Meer.
Mich umbrausten Todeswogen,
Stürme heulten um mich her.
Schwindelnd hing ich an dem Maste,
Als dein Vaterarm mich faßte,
Und in dieses Felsen Schoos
Wie in Flügel mich verschloß.
Nun erwacht' ich aus dem Schlafe,
Mit dem Richter in der Brust:
»Zittre,« donnert' er, »du Sklave,
Niedrer Sklave kleiner Lust!«
Um und um war kein Erretter,
Ueberm Scheitel hing ein Wetter!
Unter mir Gericht und Tod;
Und ich fühlte Höllennoth.
[43]
O, ein Leben voller Schande
Stellte sich vor mein Gesicht.
Gott, dem Freund, dem Vaterlande,
Und mir selber nützt' ich nicht!
In gedankenlosem Spiele,
Unter weibischem Gefühle,
Mit verwirrtem, trunknem Sinn
Taumelt' ich durchs Leben hin.
Schöpfer, meines Geistes Gaben,
Die Geschenke deiner Hand,
O, wie hab' ich sie vergraben!
O wie schändlich angewandt!
Den Verstand hab' ich verblendet,
Meinen Witz im Rausch verschwendet,
Und die Funken von Genie,
Schöpfer, wie verspritzt' ich sie!
Freche Lüste, wilde Triebe
Haben ganz mein Herz entweiht.
Meine Liebe war nicht Liebe,
War nur Nervenreizbarkeit.
Wenn ich auch was Gutes dachte,
Menschen um mich fröhlich machte,
War's nicht Tugend, es war nur
Gute Laune der Natur.
Zwar hat oft von dir ein Schimmer
Meiner Seele Nacht erhellt,
So wie oft auf Babels Trümmer
Blitz vom Himmel niederfällt.
Aber so wie Blitze schwinden,
Die nur leuchten, nicht entzünden:
So verschwanden auch in mir
Rührungen, o Gott! von dir!
Deinen Sohn, den Spötter schmähen,
Hab' ich oft, wie sie, geschmäht;
Nie zum Kreuz hinaufgesehen,
Dran er auch für mich gefleht:
[44]
»Vater, schone des Verirrten!
Den des Fleisches Lüste wirrten!
Schone sein, sieh an mein Blut!
Ach, er weiß nicht, was er thut.«
Gott, dein Wort, das Felsen spaltet,
Diese Leuchte in der Nacht,
Die das Herz, wenn es erkaltet,
Wieder heiß und brünstig macht,
Lobt' ich zwar, wie Menschenwerke,
Zeugend von des Geistes Stärke:
Aber seine Kraft, sein Licht,
Fühlt' ich nie, und sah es nicht.
Deines Sabbaths stille Feier,
Wie entweiht' ich sie vor dir!
O Allmächtiger, Getreuer,
O vergieb, vergieb es mir!
Wenn ich deine Boten schmähte,
Unempfindlich beim Gebete,
Ungerührt beim Tempellied,
Nie vor dir, vor dir gekniet!
Ach, nun denk' ich an die Meinen,
Die mein Herz so innig liebt!
Blut und Thränen möcht' ich weinen,
Denn – wie hab' ich sie betrübt!
Ausgepreßte Zähren zeugen
Wider mich! – O Gott, sie steigen
Auf zu dir, wie Tropfen Blut,
Reizen deines Zornes Glut!
Meinen Vater, der mich zeugte,
Der mir so viel Gutes that,
Wie betrübt' ich ihn! wie beugte
Ihn so manche Frevelthat!
Ach, er starb im Herbst der Jahre,
Und ich hab' zu seiner Bahre
Auch ein Brett gelegt – am Thron
Zeugt er wider seinen Sohn.
[45]
Mutter, deine Locke graute
Früher, denn du härmtest dich;
Jede Thrän', die dir entthaute,
Floß aus Kummer über mich,
Brüder, Schwestern – welche Schmerzen
Schuf mein Unsinn eurem Herzen!
Manche Post von mir war euch
Schrecklich, wie ein Donnerstreich.
Gattin, die mir Gott gegeben,
Um ein Engel mir zu sein,
O wie macht' ich dir dein Leben
So zur Qual und Höllenpein!
Nicht dein Herz, das Liebe klopfte,
Nicht dein Aug', das Wehmuth tropfte,
Nicht dein Arm, der mich umschloß,
Riß mich aus der Lüste Schoos.
Sei zufrieden, Gott, der Rächer,
Nahm sich endlich deiner an;
Ferne hat er mich Verbrecher,
Dulderin, von dir gethan.
Ohne Abschied, ohn' Erbarmen,
Riß er mich aus deinen Armen,
Gab dir Ruh – und schloß mich ein
Unter diesen Felsenstein.
Und nun martert mich die Liebe,
Einsam, ohne Trost von dir!
Wilde, ungestillte Triebe
Brausen schäumend auf in mir;
Ach, mit ausgestreckten Händen
Greif' ich nach den schwarzen Wänden,
Glaube, Weib, es sei dein Bild!
Und mein Blick ist starr und wild.
Reiß' mein Bild aus deinem Herzen,
Sei bei meinem Jammer kalt;
Denke nicht an meine Schmerzen,
Nicht an meine Geistgestalt!
[46]
Ja, vergiß mich ewig, – weihe
Einem andern deine Treue,
Dies dein Herz voll Zärtlichkeit,
Der es nicht wie ich entweiht.
Jüngling, sieh durchs Eisengitter
Mir ins bleiche Angesicht,
Höre, wie im Ungewitter
Meine Stimme mit dir spricht:
»Wollust hat mich so zerschlagen,
Mir bereitet diese Plagen;
Ist dir deine Seele theu'r,
O so flieh' dies Ungeheu'r!«
Aber du, Weltrichter, Gnade! –
Nicht um Freiheit bitt' ich dich,
Meines Erdenlebens Pfade
Seien noch so fürchterlich; –
Laß mein Fleisch, mein Fleisch verderben,
Aber ewig, ewig sterben
Laß mich nicht, ich bitte dich!
Jesu, rede du für mich!

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Schubart, Christian Friedrich Daniel. Gedichte. Gedichte. Zu Schubarts Leben. Selbstanklage. Selbstanklage. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-006D-8