[189] Kanzone

Den 25sten December 1816.


Durch grüne Bäume,
Die mattbesonnt im Abendrothe blühen,
Beginnt so leis' ein holder Ton zu ziehen,
Als ob der Hain von seinen Liedern träume,
Und, in ein zartes Klingen
Verwandelt, jetzt der Blüthen duft'ges Leben
Sich still erheb' auf wandelbaren Schwingen,
Ein tönend Netz um Erd' und Luft zu weben,
Und jedes Herz in süßen Schlaf zu singen,
Worin ein Streit begonnen
Von Wahn und Wunsch, von Schmerzen oder Wonnen.
Wie helle Sterne
Erscheinen mir die zauberischen Stimmen,
Die durch die Luft als holde Boten schwimmen
Mit süßer Kund' aus unbekannter Ferne.
Doch wie mit leisem Wallen
Die Klänge jetzt zu mir herübertönen
Und zitternd jetzt zerrinnen und verhallen,
So naht und flieht, so wandelt sich mein Sehnen.
Wie kann mein Herz in süßen Schlummer fallen,
Wenn stets in neuen Träumen
Die alten Leiden frischer nur entkeimen!
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Wohl muß mit Schmerzen
Der Sterbliche der Götter Gunst bezahlen,
Dem sie verliehn des Lichtes hellre Strahlen,
Ein tödtlich Leben ihm im schwachen Herzen.
So folgt, wohin ich walle,
Mein Leiden mir in tausend Fantasieen;
Im Duft, im Glanz, im holden Liederschalle,
Im lauen Wehn, im Rieseln und im Blühen
Erwachen mir die theuren Schatten alle
Der hingewelkten Tage,
Der fernen Lust, um die ich ewig klage.
O Lenz, o Leben,
O Sonnenlicht, o duft'ge Waldeskühle,
Wie hast du einst dem Geist so heitre Spiele,
So freien Schlag dem Herzen einst gegeben,
Als noch nicht hart gefangen
Die junge Lieb' auf kaum gelösten Flügeln
Mit hellem Blick und wechselndem Verlangen
So fröhlich flog an fernen Blumenhügeln,
Und, während rings ihr tausend Lieder klangen,
In leichter Luft sich wiegend,
Bald hier, bald dort verzog, besiegt und siegend!
Wie auf den Bahnen
Des glatten Sees der Schwan die stillen Kreise
Verweilend zieht und träumerisch und leise
Sein Lied erhebt im dunkeln Todesahnen,
So ist von Amors Händen
Mein Leben jetzt an einen Pfad gebunden,
Der stets beginnt, um nimmer sich zu enden.
Ich weiß mein Leid und kann doch nie gesunden,
Ich seh den Tod und kann ihn doch nicht wenden!
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Wie süß mein Lied auch töne,
Sein Klang ist Schmerz, sein Lohn die eigne Thräne.
Und die mein Flehen
So ruhig hört, als könnte sie's nicht lindern,
Mild seh' ich sie, wie unter zarten Kindern
Die Mutter geht, durch ihre Blumen gehen.
Sie schaut sie an mit Freuden,
Lacht jener zu und scheinet die zu fragen:
Ach, willst du denn so früh schon von mir scheiden,
Die ich so treu gepflegt seit manchen Tagen! –
O Herz, so mild und streng! o bittres Leiden,
Daß selbst die flücht'gen Blüthen
Ihr größre Lust als meine Treue bieten!
Mich hat zur Ferne
Nie, wenn ich schied, ihr Aug', ihr Geist begleitet;
Lag dunkler Gram um meinen Blick verbreitet,
War ihrer klar, wie ewig feste Sterne.
Und wär' ich umgekommen
Im Kampf, wohin ihr Zürnen mich getrieben,
In wilder Fluth, die nächtlich ich durchschwommen
Mit mir allein und meinem Leid und Lieben,
Wohl hätte sie's gerührter kaum vernommen,
Als ob von Windeswallen
Ein zarter Zweig, ein Blüthenblatt gefallen.
O Kranz des Lebens,
Nie wird dein Glück, o Lieb', im Kampf erstritten!
Wer viel um dich begonnen und gelitten,
Der ringt um Schmerz und hofft den Dank vergebens!
Doch wie an blüh'nden Bäumen
Der kühle Thau, ein leichter Gast von oben,
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Die Blüthen schmückt, die noch verschlossen träumen,
Daß staunend sie, wenn sich der Tag erhoben,
Die Perlen sehn, die hell den Kelch umsäumen,
So nahst du ungesehen
Dem Glücklichen dich ohne Zwang und Flehen!
So schwinge denn, Canzone,
Ein eitler Traum, wie meine Lieder alle,
Zu ihr dich hin, begrüß' im leisen Tone
Ihr schlummernd Haupt und, kaum gehört, verhalle!

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TextGrid Repository (2012). Schulze, Ernst. Gedichte. Poetisches Tagebuch. Kanzone [1]. Kanzone [1]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-0577-8