Zum Feste der Erinnerung an den russischen Feldzug

Stuttgart, 23. Mai 1830.


Du Gegenwart, so still, so thatenlos,
Ist's wahr, daß du an Wunderzeiten gränzest,
Daß du von Bildern, welche riesengroß
Entfliehn, in hellem Widerscheine glänzest?
[107]
Ist's kein Jahrtausend, daß der Kriegsorkan
Die halbe Welt mit seinen Donnern füllte,
Und daß der Nord ein Heer auf stolzer Bahn,
Zum Tod im Schnee bestimmt, in Flammen hüllte?
Der Sage schon fiel jene Zeit anheim,
Es tönet fern, gleich einer alten Märe;
Ja mit dem Schlachtenhalbgott spielt ein Reim,
Die Dichtung schildert seine Siegesehre.
Und wenn ein Sänger lang genug gestrebt,
Mit Leben das Vergangne zu begaben,
Und nun sein Werk betrachtet: so erbebt
Er vor sich selbst – er glaubt geträumt zu haben.
Von Land zu Land so breite Heldenspur,
So reißend Glück; alsdann aus heitern Lüften
Der jähe Schlag, die Schranken der Natur,
Ein ganz Titanenvolk in eis'gen Grüften;
Auf Wandrung geht die Muse zweifelnd aus:
Ist es geschehn, ja konnt' es nur geschehen?
Da hält sie still vor einem Sommerhaus,
Und lauschet Worten, die wie Thaten wehen.
Hält Rat im Kreise hier ein Geisterchor,
Und will den Söhnen ferne Wunder melden?
Sie öffnet scheu das angelehnte Thor,
Und sieht – ein rüstig Häuflein alter Helden.
Ehrwürd'ge Reste grausenhafter Not,
Ihr habt erlebt, wovon wir nur gesprochen,
Nicht Narben bloß ließ euch der nahe Tod,
Er fuhr mit kalter Hand in's Mark der Knochen.
Erzählt, erzählt! die Muse stört euch nicht,
Ihr Amt ist heut zu horchen, nicht zu singen,
Aus eurem Munde strömet ein Gedicht,
Sie läßt den Strom an's Herz sich schaudernd dringen.
[108]
Stellt hin des ungeheuren Mannes Bild,
Den ihr in Glück und Mißgeschick begleitet,
Beschreibet, wie er über Trümmer wild
Nach seinem Ziel – und fern vom Ziele schreitet.
Zeigt durch die Steppe bunten Heeres Pfad,
Wie es den stolzen Schlangenleib entwickelt,
Und wie es krank der Heimat wieder naht,
Vom Frost der Nacht berührt, geschwächt, zerstückelt.
Nennt manchen Bruder, dessen Schatten nur
Trübschwebend naht und flieht aus eurem Kreise;
Bezeichnet seiner letzten Thaten Spur,
Sein Grab, nicht hell von Marmor, ach, von Eise.
Umringt des theuren Führers Bett, und bangt.
Es geht vorbei: der Held und Fürst wird leben,
Wird das Gesetz, nach dem die Welt verlangt,
Gesegnet seinem treuen Volke geben.
Nicht bloß Zerstörung hinterließ die Zeit,
Die jener Winter mit dem Eiswall schließet;
Und eine Saat bereitet hat der Streit,
Aus der die Friedensfrucht allmählig sprießet.
Das mach' euch Männer fröhlich bei dem Mahl,
Laßt nur den Frost in euren Gliedern zücken,
Preist eure Wundertage beim Pokal:
Dort ward gepflanzt, und Enkel werden pflücken!

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Schwab, Gustav. Gedichte. Gedichte. 2. Zeitgedichte. Zum Feste der Erinnerung. Zum Feste der Erinnerung. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-079C-8