[86] Elegie auf einem Feste zu Warschau 1

Si natura negat, facit indignatio versum.


Was ist Wahrheit? fragt am Richterstuhle
Jener brave Heide seinen Mann.
Große Frage, die noch keine Schule
Aus dem Weisheitsnimbus lösen kann.
Menschen, Widerspruch im großen Ringe,
Räthsel in der Kette dieser Welt,
Zwischen Thier und Engel Mitteldinge,
Durch Vernunft geadelt und entstellt.
Vater, der du diesen Götterfunken
Himmelssinns in unser Wesen schlugst,
Und die Erdenseele feuertrunken
Zum Gedanken deiner Größe trugst;
[87]
Hast du zur Verdammniß Licht und Leben,
Als du unsre Existenz gebarst,
Deinen Neuerschaffenen gegeben,
Denen du im Zorne gütig warst?
Duldung, Vater, mit dem schwachen Kinde,
Das im Dunkel deiner Strahlen schwirrt,
Und von Labyrinth zu Labyrinthe
Ängstlich, traurig, aber schuldlos irrt.
Deine Werke kamen gut und edel,
Groß und herrlich aus der Schöpferhand,
Bis der Afterweisheit Schlangenschedel
Sich sie auszubessern unterstand.
Was ist Wahrheit? sprecht von euerm Throne,
Wie ihr metaphysisch dunkel schwebt,
Von Konfuzen bis zu Mendelsohne,
Und im Nebel Hypothesen webt.
Ha, ihr tappt mit eurer Blendlaterne
Weisheitstrunken durch die tiefe Nacht,
Träumet in dem Irrlicht Sonnensterne,
Bis ihr spät zum Todesschlaf erwacht.
[88]
Menschheit, arme Menschheit, deine Lehrer,
Alle deine Weisen wissen nichts;
Flattern, ihrer Hirngeburt Verehrer,
Gleich Insecten um den Strahl des Lichts.
Und die Bosheit, die im Finstern schleichet,
Fasset schnell der Schwachheit Taumelgeist,
Bis sie ihr den süßen Giftkelch reichet,
Und die Sclavinn hin ins Elend reißt.
Wenn der Menschenmahler seinen Pinsel
In der Schwermuth schwarze Farben taucht,
Und Bedrückung, Kummer und Gewinsel,
Stolz und Knechtschaft in die Gruppe haucht;
Weinet unserm göttlichen Geschlechte
Eine Thräne bey dem Trauerstück:
Seht, man gräbt das Grab der Menschenrechte:
Und wer ruft Gestorbene zurück?
Dort verzehren muftische Magnaten
Ihres Landes Fett in Schwelgerey;
Und der Pflüger, stets der Kern der Staaten,
Jammert bey der ihm gelaßnen Spreu.
[89]
Und die edeln Menschenmäkler zählen
In des Mammons großem Rechnungsbuch
Ihre Schätze nur nach Menschenseelen, 2
Und ihr Segen ist der Knechte Fluch.
Mit umglühter, heißer Stirne frohnen
Unter der Despoten Eisenstab
Ganze große schöne Nationen
Von der Kummerwiege bis ins Grab.
Freyheit ist ein Schall vor ihren Ohren;
Der Gedanke wäre Hochverrath;
Weil zum Troß der Sclaverey geboren
Unsinn ihren Geist gefesselt hat.
Und auf ihrem Wolkenthrone sitzet
Rings umher die alte Möncherey,
Blicket grimm, aufs Vorurtheil gestützet,
Und ihr Scepter wieget schwer wie Bley.
Unter ihrem schwarzen Rabenflügel
Zischen die Kabalenzungen Gift,
Brechen Laurer frech das Freundschaftssiegel,
Sinkt dem Streiche, wen der Spürhund trifft.
[90]
Ihre Geyer drohn in allen Zonen,
Wo die unterdrückte Wahrheit spricht,
Mit Bastillen, Inquisitionen,
Thürmen, Minen, Eisen, Blutgericht.
Wenn Banditen nur mit Dolchen morden,
Bleicht man ihren Schedel auf dem Holz,
Aber wenn der Helden Troß in Horden
Länder würget, sind die Helden stolz.
Wenn der Mann dem Manne, der ihm glaubet,
Seinen Seckel stiehlet, ists Betrug;
Aber Herrschsucht, die Provinzen raubet,
Nennt der Staatskunst hohe Schule klug.
Durch der Politiken schiefe Brille
Ist Moralität ein Possenspiel,
Und Gerechtigkeit nur eine Grille,
Die in Philosophenschedel fiel.
Arme Brüder, hat euch Gott zu Ketten,
Zu des Unsinns Eisenjoch gemacht?
Und vermag kein Rächer euch zu retten
Aus der Vorurtheile langen Nacht?
[91]
Strahlenwahrheit ist euch noch zu helle,
Freyheit selbst wird eurer Ruhe Grab;
Und ihr trinkt Beranschung aus der Quelle,
Die der Schöpfer nur zur Stärkung gab.
Gleich Insecten kriechet ihr als Knechte
Unter Frohngeboth und Knutenhieb;
Und ihr würgt am eigenen Geschlechte,
Wo euch die Vernunft den Freybrief schrieb.
Elend in der Sclaverey, und blutig,
Wo die Freyheit ihren Fittich schwingt;
Ha, wer wagt es noch, der groß und muthig
Nach dem schönen Menschenrechte ringt?
Menschen, Widerspruch im großen Ringe,
Räthsel in der Kette dieser Welt,
Zwischen Thier und Engel Mitteldinge,
Durch Vernunft geadelt und entstellt.
Hier sitzt, um die Nachwelt zu betrügen,
Menschenfeindlich glotzend, ein Gesicht,
Spähet aus dem Staub gelehrte Lügen
Für den jämmerlichsten Bösewicht.
[92]
Dort wirft von dem hohen Rednerstuhle
Eine Bonzenseele schleichend Gift,
Spinnet mit der Ketzerey der Schule
Zwietracht aus dem Friedensbrief der Schrift.
Hier durchwühlt der Geitz mit Gnomenfreude,
Unbekümmert um der Waisen Fluch,
Seiner Koffer goldnes Eingeweide,
Und durchzählt sein langes Rentenbuch.
Dort durchspähn, die Richter zu bestricken,
Weil ein Schurke schwere Säcke beut,
Rabulisten mit Hyänenblicken
Jedes Schlupfloch der Gerechtigkeit.
Und der Richter wägt die feilen Sprüche,
Wohl und Weh, nach goldnen Gründen ab;
Und ein Kuß macht in Gesetze Brüche,
Den ihm schmeichelnd eine Dirne gab.
Hingeführt an Amors seidnem Fädchen,
Geht der stolze Stoiker und sucht
Kniend vor dem zauberischen Mädchen
Heute etwas, dem er morgen flucht.
[93]
Gott, du schufst so herrlich schön die Erde,
Nicht zum Sitz für Tyranney und Trug,
Als dein väterliches Machtwort »Werde!«
Aus dem Nichts die Sonnenbälle schlug.
Bosheit, Herrschsucht, Geitz und Wollust haben
Deine schöne Symmetrie zerstört,
Gießen Gift in deine Himmelsgaben,
Daß sich traurig Hirn und Herz empört.
Einsam soll mich eine Felsengrotte
Und ein Eichbaum decken, wo die Welt
Nicht sarkastisch lächelt, nicht im Spotte
Urtheil über Bürgertugend hält.
Und wenn das Gerücht mir dann verkündet,
Daß die Menschen stets noch Thoren sind,
Weht es leiser, und sein Hauch verschwindet
Schneller durch des Lenzes Abendwind.
Und ich singe mit der Morgenröthe
Bey der Quelle meinen Weihgesang;
Und des Abends haucht die Silberflöte
Ruhe längs des Berges Felsenhang.
[94]
Neben meiner kleinen Binsenhütte
Grab' ich an dem Eichbaum meine Gruft,
Bis mich Graukopf einst mit leisem Tritte
Sanft der Tod zum großen Abend ruft.

Fußnoten

1 Auch dieses Stück, etwas früher als das obige Gebeth, wurde in einer moralischen Gährung der Seele geschrieben, wo man freylich nicht für den reinen Werth und die Wahrheit jedes unwilligen Gefühls bürgen kann. Der General Igelstroem hatte in Warschau eine glänzende Gesellschaft, wo alles, was in der Residenz auf irgend eine Weise von Ansehen war, auf dringende Einladung sich einfand. Der König war zu seinem Schicksal nach Grodno gegangen. Es war der Tag, wo man dort in der Reichsversammlung die neue Theilung unterzeichnete, da die Argumente dazu, die Batterien, nicht weit von dem Thore des Pallastes in Bereitschaft standen. In Warschau war alles bey Igelstroem, was der enthusiastische Friedrich Schulz dort nur Schönes sah. Mein Gesicht ist kurz. Nachdem ich die verschiedenen Antlitze der Gäste durch mein Glas in den Spiegelwänden des Saals, so gut es sich mit Bescheidenheit thun ließ, gesehen hatte, und mit Artigkeit hinter dem Stuhle einer Dame zu stehen in mir weder Neigung noch gehöriges Talent fand; warf ich mich in ein Seitenzimmer und beschäftigte mich mit meinem Taschenbuche. Was ich hier gebe, war der Inhalt dieser Stunden.

2 Es ist jenseit und auch eine große Strecke dießseit der Düna eine sehr gewöhnliche Redensart: Er hat zwey oder drey tausend Seelen! Ein Zeichen, daß man sehr wenig Seele hat. Die Kaiserinn, hieß es, hat ihm acht hundert Seelen geschenkt. Jetzt sucht man die Härte des Ausdrucks etwas zu mildern, und sagt nur: Er hat so und so viel hundert Bauern erhalten. Merkel, der, wie ich als Augenzeuge weiß, nicht übertreibt, hat gezeigt, daß durch die Milderung des Ausdrucks die Sache selbst wenig oder nichts gemildert worden ist.

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TextGrid Repository (2012). Seume, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Elegie auf einem Feste zu Warschau. Elegie auf einem Feste zu Warschau. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-0A5B-6