[81] Der Wilde 1

Ein Kanadier, der noch Europens
Übertünchte Höflichkeit nicht kannte,
Und ein Herz, wie Gott es ihm gegeben,
Von Kultur noch frey, im Busen fühlte,
Brachte, was er mit des Bogens Sehne
Fern in Quebecks übereisten Wäldern
Auf der Jagd erbeutet, zum Verkaufe.
Als er ohne schlaue Rednerkünste,
So wie man ihm both, die Felsenvögel
Um ein kleines hingegeben hatte,
Eilt' er froh mit dem geringen Lohne
Heim zu seinen tiefverdeckten Horden
In die Arme seiner braunen Gattinn.
Aber ferne noch von seiner Hütte
Überfiel ihn unter freyem Himmel
Schnell der schrecklichste der Donnerstürme.
Aus dem langen rabenschwarzen Haare
[82]
Troff der Guß herab auf seinen Gürtel,
Und das grobe Haartuch seines Kleides
Klebte rund an seinem hagern Leibe.
Schaurig zitternd unter kaltem Regen
Eilete der gute wackre Wilde
In ein Haus, das er von fern erblickte.
Herr, ach laßt mich, bis der Sturm sich leget,
Bath er mit der herzlichsten Geberde
Den gesittet feinen Eigenthümer,
Obdach hier in euerm Hause finden! –
Willst du, mißgestaltes Ungeheuer,
Schrie ergrimmt der Pflanzer ihm entgegen,
Willst du Diebsgesicht mir aus dem Hause!
Und ergriff den schweren Stock im Winkel.
Traurig schritt der ehrliche Hurone
Fort von dieser unwirthbaren Schwelle,
Bis durch Sturm und Guß der späte Abend
Ihn in seine friedliche Behausung
Und zu seiner braunen Gattinn brachte.
Naß und müde setzt' er bey dem Feuer
Sich zu seinen nackten Kleinen nieder,
Und erzählte von den bunten Städtern,
Und den Kriegern, die den Donner tragen
Und dem Regensturm, der ihn ereilte,
[83]
Und der Grausamkeit des weißen Mannes.
Schmeichelnd hingen sie an seinen Knieen,
Schlossen schmeichelnd sich um seinen Nacken,
Trockneten die langen schwarzen Haare,
Und durchsuchten seine Weidmannstasche,
Bis sie die versprochnen Schätze fanden.
Kurze Zeit darauf hatt' unser Pflanzer
Auf der Jagd im Walde sich verirret.
Über Stock und Stein, durch Thal und Bäche,
Stieg er schwer auf manchen jähen Felsen,
Um sich umzusehen nach dem Pfade,
Der ihn tief in diese Wildniß brachte.
Doch sein Spähn und Rufen war vergebens;
Nichts vernahm er als das hohle Echo
Längs den hohen schwarzen Felsenwänden.
Ängstlich ging er bis zur zwölften Stunde,
Wo er an dem Fuß des nächsten Berges
Noch ein kleines schwaches Licht erblickte.
Furcht und Freude fchlug in seinem Herzen,
Und er faßte Muth und nahte leise.
Wer ist draußen? brach mit Schreckentone
Eine Stimme tief her aus der Höhle,
Und ein Mann trat aus der kleinen Wohnung.
Freund, im Walde hab' ich mich verirret,
[84]
Sprach der Europäer furchtsam schmeichelnd;
Gönnet mir, die Nacht hier zuzubringen,
Und zeiget nach der Stadt, ich werd' euch danken,
Morgen früh mir die gewissen Wege.
Kommt herein, versetzt der Unbekannte,
Wärmt euch; noch ist Feuer in der Hütte!
Und er führt ihn auf das Binsenlager,
Schreitet finster trotzig in den Winkel,
Holt den Rest von seinem Abendmahle,
Hummer, Lachs und frische Bärenschinken,
Um den späten Fremdling zu bewirthen.
Mit dem Hunger eines Weidmanns speiste,
Festlich wie bey einem Klosterschmause,
Neben seinem Wirth der Europäer.
Fest und ernsthaft schaute der Hurone
Seinem Gaste spähend auf die Stirne,
Der mit tiefem Schnitt den Schinken trennte,
Und mit Wollust trank vom Honigtranke,
Denn in einer großen Muschelschale
Er ihm freundlich zu dem Mahle reichte.
Eine Bärenhaut auf weichem Moose
War des Pflanzers gute Lagerstätte,
Und er schlief bis in die hohe Sonne.
[85]
Wie der wilden Zone wildster Krieger,
Schrecklich stand mit Bogen, Pfeil und Köcher
Der Hurone jetzt vor seinem Gaste,
Und erweckt ihn, und der Europäer
Griff bestürzt nach seinem Jagdgewehre;
Und der Wilde gab ihm eine Schale,
Angefüllt mit süßem Morgentranke.
Als er lächelnd seinen Gast gelabet,
Bracht' er ihn durch manche lange Windung,
Über Stock und Stein, durch Thal und Bäche,
Durch das Dickicht auf die rechte Straße.
Höflich dankte fein der Europäer;
Finsterblickend blieb der Wilde stehen.
Sahe starr dem Pflanzer in die Augen,
Sprach mit voller, fester, ernster Stimme:
Haben wir vielleicht uns schon gesehen?
Wie vom Blitz getroffen stand der Jäger,
Und erkannte nun in seinem Wirthe
Jenen Mann, den er vor wenig Wochen
In dem Sturmwind aus dem Hause jagte,
Stammelte verwirrt Entschuldigungen.
Ruhig lächelnd sagte der Hurone:
Seht, ihr fremden klugen, weißen Leute,
Seht, wir Wilden sind doch beßre Menschen!
Und er schlug sich seitwärts in die Büsche.

Fußnoten

1 Diese Erzählung habe ich, als ich selbst in Amerika und in der dortigen Gegend war, als eine wahre Geschichte gehört. Sie interessierte mich durch ihre echte reine primitive Menschengüte, die so selten durch unsere höhere Cultur gewinnt. Ob man gleich ähnliche hat, so habe ich sie hier doch nicht unterdrücken wollen.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Seume, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Der Wilde. Der Wilde. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-0A6E-B