[41] Verlangtes Gutachten über Menschen und ihren Umgang

Die Menschen sind, was Menschen immer waren,
Gemisch von Schwachheit und von Kraft;
Oft spricht Vernunft, und öfter Leidenschaft:
So sind sie seit sechs tausend Jahren
Im Strom der Zeit hinab gefahren;
Und meistens nur, wozu der Augenblick sie schafft.
Im Allgemeinen aufgerafft,
Sie mögen lachen oder weinen,
Sind sie nur selten, was sie scheinen.
Das Wort ist nichts, als nur ein Hauch;
Die stille That nur, kaum bemerkt durch Einen,
Zerstreut der Worte dicken Rauch.
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Wir meinen selbst nur selten, was wir meinen:
Gemächlich ist der löbliche Gebrauch,
Auf Andrer Ansehn dictatorisch auch
Stracks zu bejahn und zu verneinen.
Es führet uns am Gängelband
Ein buntes Heer von Vorurtheilen.
Kaum hat man ein Gespenst verbannt,
Und ganze neue Rotten eilen
Dem Orte zu, wo das verjagte stand.
Wird eines Arztes Wunderhand
Wohl je den tiefen Schaden heilen?
Der Knabe, der schnell wie sein Drache fliegt,
Der Greis mit seinem dritten Fuße,
Das Mädchen, das die Puppe wiegt
Und die Matrone mit der Buße;
Magister Duns, den nichts betrügt,
Der Sybarit, der unter Moschus liegt,
Der Mönch mit seinem Engelsgruße;
Das Ordensband, das Lorberhaupt, der Richter,
Der Kämmerling, der Philosoph, der Dichter;
Ein jeder, Bettler und Minister,
Von Paul dem Kaiser bis zu Paul dem Küster,
Treibt sporenstreichs, mit Feder oder Schwert,
Mit Spaten, Meßtisch oder Lunge,
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Als hing das Wohl der Welt an seiner Zunge,
Mit heißem Blut sein Steckenpferd:
Und treibt er in der Hitze nur
Dem Nachbar nicht durch Garten oder Flur,
So ist die Jagd noch ehrenwerth;
Es trage dann ein jeder seine Kappe,
In Sanssouci und bey Gemappe.
Doch darum ist das Erdenvölkchen nicht,
Wenn gleich im Sokkus und Kothurne,
Vom Flügelkleide bis zur Urne,
Ein jeder sich sein eignes Kränzchen flicht,
Sogleich ein häßliches Gezücht.
Prometheus hat uns ein Mahl so geknetet
Aus seinem Thon; was können wir,
Das arme Machwerk, denn dafür,
Daß man verkehrt nun pflanzt und hackt und jätet,
Und mit der brennendsten Begier
Dem Glück entflieht und um das Unglück bethet?
Als die Olympier Pandoren
Zum mißlichsten Experiment,
Wovon noch jetzt die hohe Flamme brennt,
Den Leutchen, die des Töpfers Kunst geboren,
Herabgeschickt, fing das Präsent
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Zu gähren an, und hat nun fort gegohren.
Die Hoffnung nur ging nicht verloren,
Daß einst vielleicht die Gährung schweigt,
Und Gutes noch aus dem Gemische steigt.
Indessen webt der Tanz der Horen,
Wer nur sein Herz dem holden Chore neigt,
Noch viel Musik für Augen und für Ohren.
Der Mensch ist menschlich. Urideen zeugt
Vielleicht am Urquell nicht der Engel,
Der reines Licht von Gottes Antlitz trinkt;
Und im Gefühle seiner Mängel
Voll Ehrfurcht zitternd niedersinkt.
Die Täuschung ist uns zugeschworen;
Das Siegel liegt in der Natur:
Wir sehen hier in unsrer Dämmrung nur
Von Glück und Licht als Trösterinn Auroren;
Und wen beym Antritt seiner Bahn
Die Genien mit Lächeln wiegen sahn,
Dem lächeln auch wohl ihre Floren.
Wir müssen uns einander nehmen,
So wie wir in dem Kreise sind,
Und uns ein wenig links und rechts bequemen;
Man schifft umsonst stracks gegen Fluth und Wind
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Ein blödes Aug' ist darum noch nicht blind.
Man streife nur das Handwerk von dem Manne,
Und nehme, was dann übrig bleibt,
Gewissenhaft und nach der Spanne,
Wenn er nicht mehr sein Steckenpferdchen treibt;
So stehen Richter und Susanne
So ziemlich wie sie waren da,
Und jeder sieht so ziemlich, was er sah.
Ein jeder gibt sein Bißchen Sinn,
Mit dem der Himmel ihn gesegnet,
Weil die Ergebung Vortheil regnet,
Für Unsinn des Systems dahin:
Man denkt, Vernunft ist immer im Gewinn.
Die schwarzen Pfaffen und die braunen,
Mit Platten und mit langem Schopf,
Die Gilden mit und ohne Kopf,
Als Stutzer hier und dort als Faunen,
Die ihre tiefen Gaunereyn
Dem Volk mit gimpelhaften Launen
Hochheilig in die Ohren raunen,
Sind von dem Ganges bis zum Rhein
Zwar sehr oft noch der armen Menschheit Pein;
Doch mit dem leidigen Gelichter,
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Jetzt in Kohorten, jetzt allein,
Bey weitem nicht sogleich auch Bösewichter.
Ein jeder Narr trägt seine Brille;
Ein jeder Mensch hat seine Grille.
Der Bonze bläst das Zionshorn,
Wie Samuel ihm vorgeblasen,
Und von dem Schnauben seiner Nasen
Strömt auf die Frevler hoher Zorn,
Die zu vernünfteln sich vermaßen.
Der Mann mit einem Flammenstern
Blickt groß aus seinem Strahlenscheine
Mit Dunst des Hofs herab auf Kleine,
Und mimickt, wo er kann, so gern
Die Miene des erlauchten Herrn,
Als schrieb' er das Gesetz am Rheine:
Und in des Vorsaals dicker Luft
Hält mancher stolz sich für des Staates Treiber.
Vom Marschall bis zum Küchenschreiber;
Und wer den Hof nicht roch, ist ihm ein Schuft.
Der Held, für ein Gespenst von Ehre,
Und oft für ein Gespenst von Pflicht,
Sieht, trunken vor dem trunknen Heere,
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Als ob der Gang zum Paradiese wäre,
Dem Würger trotzig ins Gesicht,
Der zu dem Mahl sich Legionen bricht.
Wie sehr ihm auch der Druck des Panzers laste,
Er zehrt in ihm des Landes Fett,
Und fühlt dadurch stracks sein Verdienst komplett;
Und den Beweis führt seine Degenquaste.
Das große Heer der Herrn der Feder
Sitzt dictatorisch in dem Rauch,
Und füttert sich mit Erbsenbrey und Lauch,
Und glaubt, es treib' allein die Räder
Der Weltuhr fort: und mancher arme Gauch
Im vierten Stock, der alles stolz verachtet,
Was unter ihm auf Erden wohnt,
Schnallt sich den Bauch vor Hunger, aber thront,
Indem er nach der Suppe schmachtet,
Als hätt' er den Verstand gepachtet.
Der Junker rollt sein langes Pergament,
Daß hoch der Staub fliegt, aus einander;
Und gegen ihn ist Philipps Alexander
Ein Männchen nur, das kaum der Schüler kennt,
Ob es gleich Welten nieder rennt:
Das Stift von Mainz hätt' ihm den Eintritt nicht vergönnt.
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Er siehet in zerschoßnen Fahnen,
Vor deren Schrift er staunend steht,
Und die er links und rechts mit Ehrfurcht dreht,
Nur seinen Werth im Werth der Ahnen;
Und führet das erlauchte Haus,
Durch viele fromme Dunkelheiten
Und manchen alten Schutt der Zeiten,
Zwey hundert Jahr vors Feigenblatt hinaus.
Der Demagog mit faltenvoller Stirn
Spinnt tief versteckt an neuen Schlingen,
Den Eigensinn des Pöbels zu bezwingen,
Und setzt in seinem heißen Hirn
Das schönste Lied, das die Sirenen singen,
Und wickelt dann das Volk wie Zwirn,
Um es an seinen Pfahl zu bringen,
Wo er es, trotz der blutigsten Accise,
Wenn ers vermöchte, schwitzen ließe.
Die Göttinn, die an ihrem Hofe
Mit Einem Blick die Männerwelt
In Sclaverey gefesselt hält,
Vor der der Held, brav in dem Amt der Zofe,
Mit Schmeicheleyen niederfällt,
Dreht unter Wielands schönster Strophe
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Das Schnürchen fest, mit dem sie Sprenkel stellt;
Und hält mit List die Grazien am Fädchen,
Trotz Liddy, ihrem Haubenmädchen.
Verzeihen wir, damit man uns verzeihe!
Die Menschen sind im Ganzen schon noch gut;
Man nehme sie nur nach der Reihe,
Mit allem, was das heiße Blut
So oft, und oft das kalte wieder thut.
Wir sind, trotz den Apotheosen,
Womit des Dichters Feerey
Es schmeichelnd wagt, den Schönen vorzukosen,
Nur von der Erdensiedeley.
Auf Binsen blühen keine Rosen,
Und unser Ball trägt keinen Fehlerlosen.
Doch hat er viele gute Seelen,
Die hier und da noch ohne Schein,
Gleich einem unpolierten Stein,
Im rauhen Kleid den innern Werth verhehlen,
Und denen, um auch schön zu seyn,
Vielleicht nur Schliff und Fassung fehlen.
Mit ihnen können wir vergnügt
Noch unsers Lebens Stunden zählen;
Und, wenn der Troß der Alltagswelt betriegt,
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Und falscher Stempel uns belügt,
Zu ihnen uns wie zu Asylen stehlen.
Sie sind einander anverwandt,
Weil sie einander angehören:
Die Wahrheit ist ihr diamantnes Band,
Die Tugend stets das Siegel, das sie ehren;
Ihr Gruß ein biedrer Druck der Hand,
Auch wenn sie von den fernsten Meeren,
Von fremdem Stamm und fremder Sprache wären.
Die Freundschaft fließt nicht von den Zungen;
Die Herzen lesen ohne Schrift:
Es wird kein schöner Spruch gedungen;
Sie reden durch die That, die in die Seele trifft;
Denn aus der Seel' ist sie entsprungen.
Sie kennen sich, auch wenn sie schweigen;
Und wer die Sprache nicht versteht,
In welcher sie sich ohne Künste zeigen,
Und um den Sinn zur Schule geht,
Verfehlt des Weges, den sie wallen,
In Hütten und in Marmorhallen,
Der Stern ist nichts, wenn nichts darunter schlägt,
Das seinen Mann von reinem Werthe
Den Dutzendseelen dieser Erde
Entrückt und zu den Sternen trägt.
Mit Kopf und Herz in Gleichgewicht,
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So fest wir hier auf unsern Wegen
Im Gleichgewicht zu gehn vermögen,
Gehn sie, wenn auch der Sturm aus Wolken bricht,
Mit stiller Kraft den Weg der Pflicht:
Und wandern sie der Nacht Gefahr entgegen,
Das Herz hat Muth, der Kopf hat Licht.
Sie reichen jedem ihre Hand,
Der auf der schroffen Felsenwand
Mit Schwindel in dem Blicke stehet,
Wo sich der Fuß hart an dem jähen Rand
Schon ungewiß und zitternd drehet,
Und schon das Haar zum Sturze wehet;
Sie wandeln dankbar durch die Au,
Und pflücken zu dem Kranz der Horen
Im Angesichte von Auroren
Die Rosen mit dem Perlenthau:
Doch legen sie das neugewundne Band
Der Frühlingskinder aus der Hand,
Und trösten einen Freudenlosen,
Der weinend an dem Wege stand;
Der Augenblick bricht ihnen beßre Rosen,
Als Flore selbst mit ihrem Lenze wand.
Nicht süßer Worte Melodieen,
Nicht Thränen selbst, die an der Wimper glühen,
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Beweisen so, wie ein Gesicht,
Von dem mit Ernst, in ungeduldger Regung
Und schöner flammender Bewegung,
Die ganze Seele Wohlthat spricht.
Fein ist der Stempel, den sie tragen,
Und tief, sehr tief liegt mancher Zug:
Man lernt ihn nicht in wenig Tagen,
Und oft erscheint nach Jahren noch Betrug.
Betrügen und betrogen werden;
Nichts ist gewöhnlicher auf Erden.
Mit manchem ist man schon in langen Jahren
Auf dieser Reise durch die Welt
In Einem Kahn hinab gefahren,
Und glaubte sich sehr gut gesellt,
Bis schnell, wenn durch verborgne Felsen
Die Fluthen unser Schiffchen wälzen,
Der Nebel von der Stirne fällt.
Der Eigennutz, der Stolz, der Dünkel,
Und irgend eine Leidenschaft
Schläft oder lauscht oft Jahre lang im Winkel,
Bis sie mit eingesogner Kraft
Gebietherisch zu Tage dringt,
Und Harmonie in grellen Mißlaut bringt.
Die Meinung und der Ruf vergrößern immer,
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Und mahlen optisch alle Mahl
Den Gegenstand durch oft gebrochnen Strahl,
Das Gute besser, Böses schlimmer,
Das Dunkel dunkler, blendender den Schimmer.
Die Regel durch das Leben sey:
Vertraulichkeit, und selten nur Vertrauen,
Und links und rechts, von Furcht und Hoffnung frey,
Auf Seelenphänomene schauen;
Erwarten und nichts auf Erwartung bauen;
Nur alle Menschen menschlich nehmen,
Das Gute so, wie wir es sehn;
Mit Muth und Kraft dem Bösen widerstehn,
Anstatt darüber uns zu grämen:
Und zu der Sicherheit der Sache,
So weit das Erdenelement
Uns Sicherheit in seinem Schooße gönnt,
Den Geist der Vorsicht auf die Wache.

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TextGrid Repository (2012). Seume, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Gutachten über die Menschen. Gutachten über die Menschen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-0A8B-9