[154] Zemire, eine Erzählung

Die Sonne sank in stiller Majestät
Am Saum des Himmels in den Ozean,
Und röthete mit ihrer Purpurglut,
Gleich einem Feuerstrom, den gelben Fluß.
Es zitterte in ihrem Abendgold'
Der hohe duftende Orangenhain,
Wo China's Kaiser ernst im Schatten saß,
Und, von des Tages Herrscher-Mühen sich
Erholend, der Natur am Busen lag;
Er fühlte von dem großen Schauspiel sich
Allmächtig angezogen, tief bewegt,
Der Sonne letzter Stral schien magisch ihn
Berührt zu haben, seinem Geist entschwand
Das Glück der Hohheit und des Purpurs Glanz;
Ihm schien's, als schwände seines Lebens Kraft,
Als lösche seines Geistes Fackel aus,
Als sei auch seines Daseyns Untergang,
Der letzte große Augenblick ihm nah'.
Er rief, und mit gebücktem Antlitz lag
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Ein Sklavenheer, und horchte dem Befehl:
»Man rufe mir den Erben meines Reichs!«
Prinz Selim nah'te seinem Vater sich,
Und hörte ehrfurchtsvoll, was er gebot:
»Sohn! sprach der edle Greiß, mein Ende naht!
Vielleicht nur wenig Tage nenn' ich mein,
Drum leg' ich jetzt mein großes Herrscheramt
In deine Hand; nimm meine Krone hin,
Und sei ein Vater deines Vaterlands!
Beglücker deiner Völker stets zu seyn,
Das sei dein erster, würdigster Beruf!
Nie wiege dich ein süßer Schlaf in Ruh,
Hast du mit keiner schönen, großen That
Den Tag bezeichnet, dessen Nacht dich grüßt.
Noch bist du frei und unvermählt, mein Sohn!
O, gönne mir das süße Vaterglück,
Die Gattin, die dein eignes Herz erkohr,
Zu segnen mit der Liebe letztem Blick!
Groß sind die Reiche, deren Herrscher du
Zu seyn gewürdigt von den Göttern wardst; –
Der Bürger Wohl bestimme deine Wahl!
Der Töchter dieser Reiche sind so viel',
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Sind gut und schön, gefesselt durch Natur
Und Blut und Pflicht an ihrer Väter Land.
Wie folgenschwer ist nicht der Fürsten Wahl –
Der Eitelkeit, des Leichtsinns Hydra stahl
So oft der Bürger Glück, der Länder Wohl;
Sie saugte kalt das letzte Lebensmark,
Und strömt' Verzweiflung in der Armen Herz;
Drum sei das Mädchen, das du dir erwählst,
Von diesen niedren Fehlern gänzlich frei!
Nur stille Demuth heb' und Sittsamkeit,
Und Liebe zu den Göttern ihre Brust!
Es künd'ge an ein Herold allgemein
Ein großes Fest den Ersten meines Reichs!«
Der Tag erschien. In morgenländscher Pracht
Versammelte sich China's schöne Welt:
Viel tausend Mädchen, lieblich anzuschaun,
Von der Natur gebaut, der Männer Herz
Zu fesseln mit der Liebe Allgewalt,
Und einem Blick', der laut zu sagen schien:
Der Schönheit erster Ruhm und Preiß gebührt
Vor allen diesen Tausenden nur Mir.
Prinz Selims seelenvolles Auge flog
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Im weiten Saal umher, und blickte froh
Und wonniglich die holden Mädchen an,
Sein Herz blieb ungerührt; ihn täuschte nicht
Der äuß're Glanz, der Liebe süßer Blick,
Der sanft und frei aus blauen Augen sprach.
Da trat bescheiden in der Unschuld Kleid,
Die blonden Locken ohne Schmuck und Stein,
Mit hocherröthendem gesenktem Blick,
Sittsam verhüllt der Glieder zarten Bau,
Zemire in den kerzerhellten Saal,
Am Arme eines edlen Greises, ein;
Sie mischte in den bunten Haufen sich,
Und zog sich bald und unbemerkt zurück.
Prinz Selims Auge ruhte hochentzückt
Und liebetrunken an Zemirens Bild,
Ihr anspruchloses heitres Auge sah'
Nur nach dem Vater hin im Silberhaar;
Sie hatte kaum den Prinzen angeblickt,
Wie ward ihr – welches Beben, welche Angst
Ergriff ihr Herz, als dieser sie hervor
Aus dunklem Schatten rief, und frei und laut
Den Vater bat: »gieb sie zur Gattin mir!«
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Zemire ward die Mutter ihres Volks,
Der Kaiser selbst ein hochbeglückter Mann,
Er weih'te spät noch der Bescheidenheit,
Der anspruchlosen Tugend einen Tempel.
Noch sendet Bürgerglück und Völkerwohl
Zu diesem heil'gen Altar stille Opfer. –

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Sommer, Elise. Gedichte. Poetische Versuche. Zemire, eine Erzählung. Zemire, eine Erzählung. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-0DD0-2