[231] Zemire

Eine Erzählung


Die Sonne sank in stiller Majestät
Am Saum des Himmels in den Ozean,
Und röthete mit ihrer Purpurglut,
Gleich einem Feuerstrom, den gelben Fluss,
Es zitterte in ihrem Abendgold
Der hohe duftende Orangenhain,
Wo China's Kaiser ernst im Schatten sass
Und, von des Tages Herrscher – Mühen sich
Erholend, der Natur am Busen lag;
Er fühlte von dem grossen Schauspiel sich
Allmächtig angezogen, tiefbewegt;
Der Sonne letzter Stral schien magisch ihn
Berührt zu haben, seinem Geist entschwand
Der Hoheit Glück, des Purpurs Stralenglanz,
Ihm deuchte schwindend seine Lebenskraft,
Als lösche seines Geistes Fackel aus,
Als sey auch seines Daseyns Untergang,
Der letzte grosse Augenblick ihm nah',
Den keine Krone, keine Macht beschwört,
Der friedlich nur den guten Fürsten naht. –
Er rief, und mit gebücktem Antlitz lag
Der Sklaven Heer und lauschte dem Befehl:
»Man rufe mir den Erben meines Reichs!«
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Prinz Selim nahte seinem Vater sich
Und hörte ehrfurchtsvoll, was er gebot.
»Sohn!« sprach der edle Greis, »mein Ende naht,
Vielleicht nur wenig Tage nenn' ich mein;
Drum leg' ich jetzt mein grosses Herrscheramt
In Deine Hand; nimm meine Krone hin,
Und sey ein Vater Deines Vaterlands!
Beglücker Deiner Völker stets zu seyn –
Das sey Dein erster würdigster Beruf!
Ein stolzes Glück für einen Erdensohn,
Sich zu vergöttern in der Menschheit Wohl
Durch ihre Wonne selig selbst zu seyn!
Nie wiege Dich der Ruhe sanfter Arm,
Hast Du mit keiner ruhmverdienten That
Den Tag bezeichnet, dessen Nacht Dich grüsst!
Noch bist Du frei und unvermählt, mein Sohn!
O gönne mir, dem Greise, noch das Glück,
Die Gattin, die Dein eignes Herz erkohr,
Zu segnen mit der Liebe letztem Blick!
Gross sind die Reiche, deren Herrscher Du
Zu seyn gewürdigt von den Göttern wardst;
Der Länder Heil bestimme Deine Wahl!
Der Töchter dieser Reiche sind so viel,
Sind gut und schön, gefesselt von Natur
Und süsser Pflicht an's theure Vaterland.
Der Eitelkeit, des Leichtsinn's Hydra stahl
So oft der Bürger Glück, der Länder Wohl;
– Vergeudet wurde ihr erpresster Sold –
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Sie saugte kalt das letzte Lebensmark,
Verzweiflung griff nun an der Armen Herz;
Sie stürzte Thron, Gesetze und Altar.
Drum sey das Mädchen, das Du Dir erwählst,
Von diesen niedern Fehlern gänzlich, frei!
Nur stille Demuth heb' und Sittsamkeit
Und Liebe zu den Göttern ihre, Brust!
Es lade flugs die Grossen meines Reichs
Zu einem hohen Fest ein Herold ein!«
Der Tag erschien, in morgenländscher Pracht
Versammelte sich China's schöne Welt;
Viel tausend Mädchen lieblich anzuschau'n,
Von der Natur geformt, der Männer Herz
Zu fesseln mit der Liebe Allgewalt,
Und einem Blick, der laut zu sagen schien:
Der Schönheit erster Preis und Ruhm gebührt
Vor allen diesen Tausenden nur Mir!
Prinz Selim's seelenvolles Auge flog
Im weiten Raum umher, und blickte hold
Und wonniglich die schönen Mädchen an.
Doch blieb sein edles Herz noch ungerührt,
Ihn täuschte nicht der äussern Anmuth Reiz
Und nicht der Blick, der frei und hold ihn traf,
Da trat bescheiden in der Unschuld Kleid,
Die reichen blonden Locken ohne Schmuck,
Sittsam verhüllt der Glieder zarter Bau,
Mit hocherröthendem gesenktem Blick
Zemire, in den glanzerfüllten Raum,
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An eines würdevollen Greises Arm,
Gesellte nun zum bunten Haufen sich,
Und zog sich bald und unbemerkt zurück,
Prinz Selims Auge ruhte hochentzückt
Und liebetrunken auf Zemiren's Bild;
Ihr anspruchlosses heit'res Auge sah
Nur nach dem Vater hin im Silberhaar.
Sie hatte kaum den Prinzen angeblickt,
Wie ward ihr? welches Beben, welche Angst
Ergriff ihr Herz, als dieser sie hervor
Aus dunklem Schatten rief, und frei und laut
Den Vater bat: »Gieb sie zur Gattin mir!«
Wie zischte da des Neides tödtend Gift! –
Die übertünchten Wangen färbte Glut!
Abscheulich! lispelte des Marschall's Frau
Mit blassen Lippen, Wuth im starren Blick.
Wie manches schöne Kind, das eben noch,
Gleich einer Charis, hold und anmuthsvoll
Mit süssen Tönen milde Worte sprach,
Vergass der falschen Masken eitlen Trug
Und zeigte die entartete Natur!
Berechnend stand der Schranzen schlaue Schaar
Und priess des weisen Prinzen edle Wahl;
Sie überströmten mit dem Weihrauchduft
Der Schmeichelei des Herrschers holde Braut.
Sie war an Schönheit jetzt der Cypria
Und nur Uranien an Weisheit gleich;
Sie, die sie kurz vorher kaum angeblickt. –
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Doch nie verliess, auch in des Purpurs Glanz,
Bescheidenheit und Güte ihren Blick!
Sie ward die Mutter eines grossen Volks.
Vom Kaiser selbst, dem hochbeglückten Mann,
Ward dankbar der bescheid'nen Tugend noch
Ein prächt'ger Tempel feierlich geweiht,
In dem noch Bürgerwohl und Völkerglück
Den theuren Manen manches Opfer bringt.

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TextGrid Repository (2012). Sommer, Elise. Gedichte. Gedichte. Zemire. Eine Erzählung. Zemire. Eine Erzählung. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-0FBB-6