[177] Herrad

Welt reichte nur vom kleinen Garten,
drin die Dahlien blühten, bis zur Zelle
Und durch die Gänge nach dem Hof
und früh und Abends zur Kapelle.
Aber unter mir war Ebene, ins Grün versenkt,
mit vielen Kirchen und weiß blühenden Obstbäumen,
Hingedrängten Dörfern, weit ins Land gerückt,
bis übern Rhein, wo wieder blaue Berge sie umsäumen.
An ganz stillen Nachmittagen meinte man
die Stimmen von den Straßen heraufwehen zu hören,
und Abends kam Geläute,
Das hoch den blau ziehenden Rauch der Kamine überflog
und mich in meinem Nachsinnen erfreute.
Wenn dann die Nacht herabsank
und über meinem Fenster die Sterne erglommen,
War eine fremde Welt aus Büchern
auf mich hergesenkt und hat mich hingenommen.
Ich las von Torheit dieser Welt, Bedrängnis, Späßen,
Trug und Leiden,
Fromme Heiligengeschichten, grausenvoll und lieblich,
und die alte Weisheit der Heiden.
Sinnen und Suchen vieler Menschenseelen
war vor meine Augen hingestellt,
Und Wunder der Schöpfung und Leben, das ich liebte,
und die Herrlichkeit der Welt.
Und ich beschloß, all das Krause,
das ich seit so viel Jahren
Aus Büchern und Wald und Menschenherzen
und einsamen Stunden erfahren,
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Alles Gute,
das ich in diesem Erdenleben empfangen,
Treu und künstlich in Bild und Schrift
zu bewahren und einzufangen.
Später, wenn die Augen schwächer würden,
in den alten Tagen,
Würd ich in meiner Zelle sitzen
und übers Elsaß hinblicken
und mein Buch aufschlagen,
Und meiner Seele sprängen
wie am Heiligenquell im Wald
den Blinden Wunderbronnen,
Und still ergieng ich mich und lächelnd
in dem Garten meiner Wonnen.

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TextGrid Repository (2012). Stadler, Ernst. Gedichte. Der Aufbruch. Die Rast. Herrad. Herrad. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-1545-8