[163] Vorfrühling

Bäume weiß ich, frühlingsstarke Bäume,
denen gärend der Jugend Saft
durch glühende Adern singt.
Die lechzend verlangen
nach dem Rausche der Erfüllung.
Aber noch starren sie kahl und stumm.
Harte Schorfe ketten die vorschwellenden Triebe.
Und in wilden Träumen nur langen sie empor
zu dem schaffenden Licht,
daß es sie bade in Glanz und Glut.
Weiten sich ihre Äste, daß gierig sie einsögen
den zauberstarken Most lauen Sommerregens,
zu erblühen und zu leben gleich ihren Brüdern.
Denn noch kennen sie nicht den Sommerrausch
der Erfüllung. Aber krachend durchwühlt ihren Leib
der Lenzstrom der Ahnung.
Wanderer ziehen vorüber,
und also spricht einer zum anderen:
»Sehet die Bäume dort,
wie kahl sie stehen und stumm!
Kalt schleppt sich ihr Blut, und mürrisch fliehen
sie des Lenzes sanft wirkende Kraft.
Lasset sie im Dunkeln, die Finstern! ...«
So sprechen sie und gehen vorbei. –
Und nicht einer,
der sähe die stürmenden Flammen der Sehnsucht,
die gierend aus ihren Augen lodern
und verzehrend über ihnen zusammengluten ...

Notizen
Erstdruck in: Das Reichsland, Jg. 1, Nr. 3, Juni 1902.
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Stadler, Ernst. Vorfrühling. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-1554-6