[123] Die Tulpe und die Nachtviole.

Ei, wie bist du doch so schön,
Tulpe! in dem bunten Röckchen,
Und geputzet wie ein Döckchen,
O, so prächtig anzusehn!
Und wie mögt ihr Grauen da
Zu den Schönen her euch setzen,
Die das Auge so ergötzen?
Euch komm ich gewiß nicht nah.
Komm, du schöne Tulpe, du!
Sicher hauchst du süsse Düfte
In die milden Frühlingslüfte;
Hauche mir auch jetzt sie zu.
Aber wie? Kein Wohlgeruch
Düftet mir von dir, o Blume!
Das gereicht dir nicht zum Ruhme,
Schön nur seyn, ist nicht genug.
[124]
Nein, das hätt' ich nicht gedacht!
Ohne sonst noch was zu taugen,
Blendet Tulpe bloß die Augen,
Durch der Farben bunte Pracht.
Und, wer hätte das gemeint!
Diese garstige zur Seiten,
Duftet lieblich schon von weiten,
Wie so häßlich sie auch scheint.
Schön nur seyn, genüget nicht;
Kurze Zeit täuscht bloßer Schimmer,
Das Verdienst nur bind't auf immer,
Leistet mehr als es verspricht.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Stahl, Karoline. Die Tulpe und die Nachtviole. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-15B1-5