[190] [219]Der siebente November

1778.


An meinen Bruder.


Auf! mit des Adlers Schwingen, fleuch,
Hin zu ihm, mein Gesang, und mit dir
Mein frohlockender Morgengruß!
Hin zu ihm, der mir ist,
Was kein Sterblicher je Sterblichen war!
Röthliche Schimmer erwachen schon;
Sie verkündigen den Tag,
Ach! den entzückenden,
Der dich, Lieber, ins Leben rief!
Seht, wie er pranget im herbstlichen Schmuck!
Feiernd naht er, und stolz, umtanzt
Von der Stunden Reigen, und begrüßt
Von der Sonne, dem Mond und dem weilenden Stern!
Eile, der du mir schwebst
Auf der lechzenden Lippe,
Bruderkuß!
[219]
Schnell gleit' auf dem ersten Strahl,
Feuervoll, und erquickend, wie er,
Hin zu ihm, der mir ist,
Was kein Sterblicher je Sterblichen war!
Lagre behend auf seine Lippen dich,
Scheuche nicht den Morgentraum,
Der mit duftenden Kränzen,
Der mit windenden Epheuranken
Fesselt den Schlummernden!
Träufle deinen Honig, und laß das Bild,
Ach, mein Bild!
Vor seiner ahnenden
Seele schweben, und mit ihm
Schmachtende Sehnsucht, ach, nach mir!
Dann erweck' ihn ungestüm, mit dem Fittigschlag
Der Lieb', und ruf' es laut
Mit Flammenwort ihm zu:
Daß er mir sei,
Was kein Sterblicher je Sterblichen war!
Mein Bruder! Siehe, wie sie bebt
Der Freude Zähre,
Daß Du's bist, und daß Du
Mehr denn Bruder und Freund,
Daß du bist
Meines Herzens Vertrautester!
[220]
Sage, sproßte dir je,
Keimte mir je ein Gedank',
Dessen Hülle nicht Du
Hobest, nicht ich?
Wie, durch der heiligen Natur
Tief verborgne Wunderkraft,
Der unberührten Leyer Saite bebt,
Wenn des Sängers Stimme den Ton
Der Bebenden hallt;
O! so stimmte Mutter Natur
Unsrer Zwillingsseelen
Immer tönende Harmonie!
Tönend, wenn das Feuerblut
Lodert in der Jünglinge Brust,
Tönend, wenn der Rührung Zähre sanft
Ueber die blässere Wange rinnt.
Ach! Du, der du mir bist,
Was kein Sterblicher je Sterblichen war!
An der Begeistrung und der Muse Hand,
Deiner Vertrauten, zu denen du sprichst:
»Du bist meine Schwester! und du
Bist meine Braut!« –
Oft besucht ihr in stiller Nacht
Du, den Bruder, und du,
In der einsamen Halle,
Deinen Wonneberauschten,
Deinen Buhlen, o Göttliche! –
[221]
Ha! ich kenne sie auch!
Schwester, und Braut!
An ihrer Hand
Schweb' ich zu dir,
Ueber Länder und Meere, zu dir!
Schütte dir aus
Mein überströmendes Herz. –
Bruder! uns ist gefallen das Loos
Lieblich, unser Erb' ist schön!
Ach! aber warum träuft
In des Jubels Becher die Thräne?
Ach! warum sind wir getrennt?
Heute getrennt?
Wie nach dem Thau das Sommergefild',
Wie die Sonne lechzet nach des Meeres Schoos,
Wie der Weinstock nach der beschattenden
Ulme strebet;
O! so streb' ich, so lechz' ich nach dir,
Der du mir bist,
Was kein Sterblicher je Sterblichen war!
Kehre wieder, du der Freude Tag,
Segenschwanger, und triefend
Deine Tritte von Milch,
Von Honig,
Und von der Rebe Blut!
[222]
Immer komm', die Schläfe bekränzt
Mit herbstlichem Schmuck!
Ach, bald nahet auch uns
Unser Herbst!
Auch er komme, die Schläfe bekränzt
Mit herbstlichem Schmuck!
Und mit Früchten, o! mit Früchten,
Mit unvergänglichen
Reich beschwert!
Nimmer find' uns dann, schöner Tag,
Wie heute getrennt!
O! Erfüllung, Erfüllung!
Des sehnlichsten Wunsches Erfüllung!
Hell blickt mein Aug'
In der Zukunft Fern', es späht
Goldne Tag' am Ende der Bahn!
Endlich kommt der Winter einher,
Ein sanfter freundlicher Greis,
Beut uns beiden die Hand, und führt,
O der Wonn'! uns ungetrennt
Dorthin, wo, unter Lebensbäumen,
Wo, in Lauben der Himmlischen,
Ach! unter eurem fruchtbelasteten,
Ruhe gewährenden
Feigenbaume,
[223]
Dorthin, ach! wo, unter eurem
Freud' und Schatten
Bietenden Weinstock,
Bester Vater! und du,
Die mich gebar, die mich säugte,
Beste Mutter!
Wechsellos blühet
Ewiger Lenz.

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TextGrid Repository (2012). Stolberg, Christian Graf zu. Gedichte. Gedichte. Der siebente November. Der siebente November. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-196D-5